Gehalten am 19. Dezember 1949 in der „Corona Legentium Aquensis“, Aachen
In wenigen Tagen werden wir die erste Hälfte dieses Säculums vollendet haben und wir werden in die ungewisse zweite Hälfte eintreten. Entscheidungen, deren historische Tragweite wir noch kaum zu ermessen vermögen, sind erfolgt und wir sind bereits in einem neuen Kampf verwickelt, ohne daß uns dies völlig zum Bewußtsein gekommen ist, weil die Methoden dieses Kampfes noch neuartig sind. Entscheidungen werden in uns fernliegenden Gebieten gefällt und ihre Auswirkungen sind noch nicht sehr fühlbar, aber darum ist ihr politisches Gesicht nicht minder schwer. Der Machtzuwachs des Ostens ist durch die Liquidierung Chinas ins Gigantische gewachsen und wir wissen nicht, wo die Expansion halt machen wird. Sicher liegen die menschenüberfüllten, militärisch widerstandslosen südasiatischen Randgebiete im unmittelbaren Vorfeld dieser gewaltigen Kräfte. Demgegenüber ist die strategische Position der westlichen Mächte trotz technischer Überlegenheit eine äußerst schwache. Mit Verwunderung und Skepsis haben wir Westdeutsche der außerordentlichen Langsamkeit der Erkenntnis dieser Situation in der westlichen Welt zugesehen, und wir blicken mit Besorgnis auf die geringen tatsächlichen Fortschritte einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit, der Grundlage alles Weiteren. Nur langsam dringt der Gedanke der westeuropäischen Schicksalsgemeinschaft weiter vor. In der westeuropäischen Bevölkerung lähmt oft die uneingestandene Vorstellung die Aktionsfähigkeit, daß die politische Entscheidung in der Zukunft bereits im Zeitenschoße gefallen sei, daß gegen den Zwangsablauf der Geschichte nichts getan werden könne und alles Mühen bereits von vornherein zum Scheitern verurteilt sei. Geschichtliche Vorgänge und Abläufe hätten die Neigung sich zu wiederholen und so sei auch der abendländischen Kultur einmal ein Ende beschieden. Der englische Historiker Toynbee kommt im Gegensatz zu Oswald Spengler zu einem anderen Resultat. Er schiebt uns in Westeuropa und in der westlichen Welt die ganze Verantwortung an unserer Zukunft selber zu. Er sagt in den Kapiteln „Wo stehen wir heute in der Geschichte“ und „Wiederholt sich die Geschichte“ seines Buches „Kultur am Scheideweg“, daß wir nicht bloß auf die Gnade eines unerbittlichen Schicksals angewiesen sind. „Wenn die menschliche Geschichte sich wiederholt, so tut sie das in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Lebensrhythmus des Weltalls. Die Bedeutung dieser Wiederholung aber liegt in dem Ziel der Weiterentwicklung, das sie allem Geschaffenen setzt. In diesem Sinne enthüllt sich das Wiederholungsprinzip in der Geschichte als ein Werkzeug der Freiheit schöpferischer Tat und nicht als ein Zeichen, daß Gott und Mensch die Sklaven des Schicksals sind“. Er fragt dann: „Worin sollen wir unser Heil suchen?“ und gibt darauf den Rat: „Auf politischem Gebiet in der Errichtung einer gesetzmäßigen auf Zusammenarbeit gegründeten Weltregierung. Auf wirtschaftlichem Gebiet in einer brauchbaren Synthese von Freiwirtschaft und Sozialismus, die sich jeweils den praktischen Erfordernissen örtlicher und zeitlicher Gegebenheiten anzupassen hat. Auf dem Gebiete des geistigen Lebens gilt es, den weltlichen Überbau wieder religiös zu untermauern.
In unserer westlichen Welt sind heute Bestrebungen im Gange, diese Zielsetzungen zu verwirklichen. Hätten wir alle drei Ziele erreicht, so dürften wir uns mit Recht freuen, den gegenwärtigen Kampf um die Rettung unserer Kultur gewonnen zu haben. Doch sie sind alle drei wahrhaft große Unternehmungen und es wird härtester Arbeit und höchsten Mutes bedürfen, ihrer Verwirklichung auch nur schrittweise näherzukommen.
Unter diesen drei Aufgaben ist natürlich auf die Dauer die religiöse die weitaus wichtigste. Aber die beiden anderen sind dringender, weil wir, sollten wir in naher Zukunft an ihnen scheitern, uns wohl auf immer die Möglichkeit einer geistigen Wiedergeburt verscherzen würden. Die politische Aufgabe ist die dringendste, nämlich die Vermeidung der verhängnisvollen Lösung des Knotens durch Waffengewalt, die bekannte Methode gewaltsamer Auferlegung einer Pax Romana. Sie könnte wahrscheinlich einer gewaltsamen Entladung der ungeheuren politischen Kräfte, die heute die Welt in ihrem Würgegriff halten, den geringsten Widerstand entgegensetzen.
Können die Vereinigten Staaten und die übrigen westlichen Länder eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion im Wege der Vereinten Nationen zustande bringen? Wenn die Organisation der Vereinten Nationen sich zu einem wirksamen System der Weltregierung entwickeln könnte, so wäre das die weitaus beste Lösung unserer politischen Schwierigkeiten. Aber wir müssen mit der Möglichkeit eines Versagens dieser Einrichtung rechnen und einen Ausweg bereit haben, zu dem wir unsere Zuflucht nehmen können. Könnten die Vereinten Nationen de facto in zwei Gruppen zerfallen, ohne daß der Friede gestört würde? Und selbst wenn die ganze Erde auf friedlichem Wege in eine amerikanische und eine russische Einflußsphäre geteilt werden könnte, könnten dann zwei Welten auf einem Planeten in einem Zustand „nichtkriegsführender Nichtzusammenarbeit“. Lange genug nebeneinander leben, um eine allmähliche Milderung ihrer gegenwärtigen sozialen und ideologischen Gegensätze zu erreichen? Die Antwort auf diese Frage hinge davon ab, ob wir unter solchen Umständen die Zeit gewinnen könnten, die wir brauchen, um unsere wirtschaftliche Aufgabe der Synthese von Freiwirtschaft und Sozialismus, das ist der Angelpunkt, zu bewältigen.
Und noch einmal:
Diese Rätsel mögen schwer zu lösen sein. Aber einmal gelöst, sagen sie uns klar und deutlich, was zu wissen uns am meisten nottut: Sie sagen uns, daß unsere Zukunft in hohem Maße von uns selbst abhängt. Wir sind nicht bloß auf die Gnade eines unerbittlichen Schicksals angewiesen.“ So weit Toynbee.
Können wir oder müssen wir nicht, wenn wir uns mit den Gedankengängen des englischen Historikers identifizieren, und ich stehe nicht an, zu erklären, daß ich es tue, versuchen, zur Lösung der gewaltigen Aufgaben einen Beitrag zu leisten? Da wäre zunächst die Aufgabe, die breiteste Öffentlichkeit auf ihre Selbstverantwortung im Schicksalskampf aufmerksam zu machen, nicht nur unsere Öffentlichkeit, sondern die der ganzen westlichen Länder, sie dazu zu bringen, ihre historische Situation richtig zu sehen und ihr die Verantwortung für Kinder und Enkel klarzulegen, die sie einfach durch die Tatsache, daß sie sie in diese feindliche und problemerfüllte Welt hineinsetzen, auf sich zu nehmen haben.
Wir haben uns im Kreise der Coronaten in den letzten Wochen mit der Frage der Verantwortung der älteren, lebenden Generation befaßt und sind zu der Meinung durchgedrungen, daß wir neben der Beobachtung des Sozialproblems in unserem privaten und öffentlichen Berufsleben doch auch die Pflicht haben, im Rahmen unserer Möglichkeiten auf die Gestaltung unserer Zukunft einzuwirken. Unsere Stadt Aachen war einmal geistiges und politisches Zentrum des ganzen westeuropäischen Raumes von den Pyrenäen bis zur slawischen Sprachgrenze, und sie glaubt Anspruch darauf zu haben, auch auf Grund ihrer natürlichen Aufgabe, als alte Grenzstadt ausgleichend zu wirken, und die Grenzen zu überwinden, besonders gehört zu werden.
Wir erlauben uns nun, den Vorschlag zu unterbreiten, einen jährlich zu verleihenden internationalen Preis zu stiften für den wertvollsten Beitrag im Dienste westeuropäischer Verständigung und Gemeinschaftsarbeit und im Dienste der Humanität und des Weltfriedens.
Der Beitrag kann auf literarischem, wissenschaftlichem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet geleistet sein.
Dieser Preis müßte im wesentlichen ein Ehrenpreis sein. Eine wertvolle Plakette oder Medaille wäre mit der Urkunde über die Verleihung bei der feierlichen Übergabe, für die jährlich der 1. Mai vorgeschlagen wird, auszuhändigen.
Die Jury, zweckmäßig auf höchstens zwölf im tätigen Leben stehende Personen beschränkt, hätte jährlich ihre Nominierung bis zum Osterfest bekanntzugeben. Der Preis könnte nach dem Belieben der Jury auch für ein Jahr ausgesetzt werden. Weder bei der Wahl der Preisträger noch der Jury dürfte es Unterschiede der Nationalität, der Rasse und der Konfession geben.
Die von einer solchen öffentlichen Ehrung ausgehenden Wirkungen könnten kaum in ihrer ethischen und praktischen Bedeutung überschätzt werden.
Ich bin am Ende meiner Ausführungen. Wir haben geglaubt, daß das Weihnachtsfest um eine so wichtige Zeitwende, die auch durch Ansetzung des Heiligen Jahres in ihrer Bedeutung betont worden ist, der beste Zeitpunkt für Stiftung und Verkündigung dieses Aachener Preises für den wertvollsten Beitrag im Dienste westeuropäischer Verständigung und Gemeinschaftsarbeit und im Dienste der Humanität und des Weltfriedens, sein würde.
Wir übergeben diese Anregung nunmehr in bescheidener Zurückhaltung der Öffentlichkeit.