Es muss eine bedeutende Idee sein, in deren Namen herausragende Persönlichkeiten, Regierungschefs, Staatsoberhäupter und sogar der Heilige Vater einen Preis annehmen, hinter der niemand anders steht als eine Bürgerinitiative im besten Wortsinne. Und wenn der Ehrenbürger Europas, Altbundeskanzler Helmut Kohl, den Internationalen Karlspreis zu Aachen schon vor Jahren als die „bedeutendste politische Auszeichnung“, die Europa zu vergeben hat, würdigte, dann wird deutlich, welche Entwicklung der Bürgerpreis für große Europäer genommen hat, der einst auf den Ruinen des Zweiten Weltkriegs entstand.
Nach Jahren geistiger Manipulation und Indoktrination gründete der Aachener Kaufmann Dr. Kurt Pfeiffer gemeinsam mit einigen Freunden schon bald nach dem Ende des Krieges einen kleinen Lesekreis, die „Corona Legentium Aquensis“, die zur Keimzelle des Karlspreises werden sollte. Mit Pfeiffers finanzieller Unterstützung konnte der in Aachen zunehmend an Bedeutung und Einfluss gewinnende Kreis Ausstellungen und Vortragsreihen mit Politikern, Wissenschaftlern und Kulturschaffenden aus ganz Europa durchführen; und die Diskussionen in der Corona regten Pfeiffer an, darüber nachzudenken, wie man jenseits der Parteien und Parlamente aktiv und öffentlichkeitswirksam am politischen Geschehen in Europa teilhaben und bei einer friedlichen Gestaltung der Zukunft mitwirken könnte.
Wenige Tage vor dem Weihnachtsfest nutzte der Kaufmann ein Treffen der Corona am 19. Dezember 1949, um die Stiftung eines Aachener Preises „für den wertvollsten Beitrag im Dienste westeuropäischer Verständigung und Gemeinschaftsarbeit und im Dienste der Humanität und des Weltfriedens“ vorzuschlagen. Die Initiative fand einen außerordentlich positiven Widerhall – in der Öffentlichkeit wie auch bei wichtigen Persönlichkeiten. Dieserart ermutigt versammelte Pfeiffer binnen kurzer Zeit hohe Repräsentanten aus Politik und Stadtverwaltung, der Wirtschaft, der Wissenschaft und der katholischen Kirche zur Proklamation des „Karlspreises der Stadt Aachen“.
Rund drei Monate nach dem denkwürdigen Corona-Treffen wurde die „Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen“ am 14. März 1950 gegründet, die alle mit der Preisverleihung verbundenen Aufgaben erledigen sollte und deren erstes Direktorium die zwölf Unterzeichner der Proklamation bildeten.
Schon zu Christi Himmelfahrt 1950 – neun Tage nach Verkündung des Schuman-Plans – wurde der erste Karlspreis an den Begründer der paneuropäischen Bewegung, Richard Graf Coudenhove-Kalergi, verliehen. Der Festakt im Krönungssaal des Aachener Rathauses hinterließ einen bleibenden Eindruck. Erstmals nach dem Krieg – und von dessen Spuren noch deutlich gezeichnet – war die ehemalige Kaiserpfalz Schauplatz einer bedeutenden städtischen und europäischen Feierstunde. Das positive Medienecho im In- und Ausland spornte das Direktorium an, noch kühner am europäischen Einigungsprozess teilzunehmen. Die Preisverleihung an den italienischen Ministerpräsidenten Alcide de Gasperi brachte im Jahre 1952 den internationalen Durchbruch.
Die politischen Gründerväter des Vereinten Europas, Jean Monnet, Konrad Adenauer, Robert Schuman und viele mehr folgten dem Italiener und wurden in Aachen für ihre Verdienste um den Bau des Vereinten Europas geehrt. Damit erhielt der Karlspreis politisches Gewicht und internationales Prestige. Paul Henri Spaak kommentierte die Reihe der Laureaten in seiner Dankesrede im Krönungssaal im Jahre 1957 zu Recht mit den Worten: „Es handelt sich hier um die berühmtesten Namen des politischen Nachkriegs-Europas.“
Mit seinen Preisverleihungen spiegelt der Karlspreis die Geschichte des europäischen Einigungsprozesses anschaulich wider. Den Gründervätern der EGKS folgten die Hoffnungsträger der Erweiterungen und der Vertiefungen, die Verantwortlichen für die demokratischen Institutionen, die Akteure der Wiedervereinigung von Ost und West, die europäischen Denker, Macher und Impulsgeber auf kultureller und sozialer Ebene.
Die ursprünglich auf das westliche Europa bezogene Preisstiftung erfasst inzwischen alle Facetten der europäischen Integration, die Wertevermittlung, den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, den Nord-Süd-Ausgleich und das Wirken in der Union sowie gegenüber der inzwischen globalisierten Welt.
Für die Ideale des Preises stehen politische Persönlichkeiten wie Simone Veil, Leo Tindemans, François Mitterrand und Helmut Kohl, Václav Havel, Jacques Delors, Jean-Claude Juncker, Angela Merkel, Donald Tusk, Martin Schulz oder auch Papst Johannes Paul II., der 2004 in Würdigung eines herausragenden Lebenswerkes als erste Persönlichkeit mit einem Außerordentlichen Karlspreis geehrt wurde.
Im Jahr 1997 wurde die Stiftung Internationaler Karlspreis zu Aachen ins Leben gerufen, die durch vielfältige Veranstaltungen pro-europäische Impulse geben und dazu beitragen will, dass die Bürgerinnen und Bürger, vor allem die jungen Menschen, für den Europagedanken gewonnen werden. Seit 2008 verleiht die Stiftung gemeinsam mit dem Europäischen Parlament ergänzend zum Internationalen Karlspreis deshalb auch den Europäischen Karlspreis für die Jugend. Mit dem Jugendkarlspreis wird die Idee, die Kurt Pfeiffer einst seinem Lesekreis vortrug, aufgegriffen, ergänzt und bereichert. Denn mit ihm werden junge Menschen ausgezeichnet, die die Gemeinschaft der Europäer beispielhaft vorleben, Projekte zur Integration durchführen und so das große Einigungswerk eindrucksvoll fortsetzen.
Krisen, Schwächen und selbst Rückschläge der Europäischen Union belegen, wie wichtig es ist und auch in Zukunft bleiben wird, für mehr Gemeinsamkeit in Europa zu werben und sich für Europa einzusetzen. Frieden, Freiheit und Demokratie sind unverbrüchliche Maßstäbe für unsere Arbeit, ebenso die vielen materiellen Fortschritte und Vorteile, die der europäische Einigungsprozess bisher erarbeitet hat. Nach der leidvollen Geschichte unseres Kontinents über viele Jahrhunderte wissen wir, dass die Integration der einzig richtige Weg ist; wir wollen und müssen sie konsequent vertiefen.
Das Signal, das die Verleihungen des Internationalen Karlspreises zu Aachen Jahr für Jahr aussenden, soll Ideal und Impuls zugleich für die künftige Gesellschaft Europas und das Zusammenleben der Bürger auf unserem Kontinent sein.
In den zurückliegenden Jahren standen die Karlspreisverleihungen – zumindest vordergründig – vermehrt im Zeichen der Krise: der Staatsschuldenkrise und auch der Vertrauenskrise, die immer weiter um sich zu greifen scheint und im Rahmen derer die öffentliche Meinung immer weniger von den Errungenschaften der Union, denn vielmehr von ihren Problemen geprägt wird. Aber der Karlspreis stand in diesen Jahren vor allem auch im Zeichen der Frage, wie wir den Herausforderungen der Zukunft erfolgreich begegnen und welches Europa die Bürgerinnen und Bürger wieder zu überzeugen vermag.
In ihren Reden zur Entgegennahme des Karlspreises haben Jean-Claude Trichet und Wolfgang Schäuble, Dalia Grybauskaitė, Herman Van Rompuy und Martin Schulz denn auch wichtige und teils richtungweisende Anregungen für die Weiterentwicklung des Vereinten Europas gegeben. Und sie haben – wie viele andere Preisträger zuvor – die Plattform des Karlspreises genutzt, um über den Tag hinausweisende Ideen zu entwickeln und in die europäische Debatte einzubringen.
Der Internationale Karlspreis zu Aachen und seine Gremien machen selbst keine Politik. Die Bürgerinnen und Bürger, die seit Jahrzehnten für ihn arbeiten, sind pro-europäisch eingestellt, unterstützen die politischen und gesellschaftlichen Aktivitäten zur Einigung des Kontinents und zeichnen Persönlichkeiten, Institutionen oder Bewegungen aus, die in diesem Sinne handeln.
Durch den Festakt, die Preisträger, Laudatoren und Redner, zunehmend auch durch die mediale Aufmerksamkeit und die Botschaften, die mit der jeweiligen Auszeichnung verbunden sind, will der Karlspreis zu einem positiven Europabild in der Bevölkerung beitragen und eine Art öffentlichen europäischen Raum mit gestalten. In diesem Sinne begleitet der Karlspreis den europäischen Einigungsprozess, bestärkt und unterstützt, hinterfragt bisweilen kritisch und will vor allem auch Ermutigung aussprechen.
„Europa … ist kein Ort, sondern eine Idee“, hat der französische Kulturphilosoph Bernard-Henri Levy gesagt und etwas philosophischer hinzugefügt: „Es ist eine Kategorie nicht des Seins, sondern des Geistes.“ Das wollen wir nicht vergessen, aber pragmatisch hinzufügen, dass die Europäische Union heute vor einem komplexen Konglomerat von Problemen steht, das erst einmal faktisch gelöst werden muss. Scheitert Europa daran, ist die Idee einer europäischen Integration auf Jahrzehnte verloren.
Für das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises wird das große Europa die Vitalität europäischer Nationen und die kreative Vielfalt seiner Kulturen nur dann bewahren, wenn es gelingt, die ethnischen, regionalen, nationalen und kulturellen Bezüge der Menschen als Reichtum europäischer Identität zu vermitteln.
Das große Europa wird das Friedensmodell für Gesamteuropa und seine Staaten nur dann bilden, wenn es erfolgreich dazu beiträgt, die aktuellen Kriege und Krisen zu beenden, wenn es den Bürgern Sicherheit und Stabilität vermittelt und wirksame Instrumente der Konfliktprävention bereithält, insbesondere aber, wenn es endlich eine gemeinsame und wirksame Sicherheits- und Außenpolitik anwendet.
Das große Europa wird zum Schlüsselelement gemeinsamer Problemlösungen werden, wenn es gelingt, die Entscheidungsfähigkeit der Union zu stärken, die Balance unter den Mitgliedstaaten, zwischen Groß und Klein, Reich und Arm zu erneuern und Handlungsräume für diejenigen Staaten zu schaffen, die eine größere Dichte der Integration verwirklichen wollen.
Das große Europa wird schließlich zur Initialzündung für gesamteuropäischen Wohlstand werden, wenn es gelingt, Verteilungskonflikte wirksam zu regeln und die wirtschaftliche Modernisierung sozial zu gestalten.
Gerade heute, da man die Sehnsucht nach Frieden und Verständigung, nach Freiheit, Akzeptanz und Harmonie verspürt, darf die Chance zur Gestaltung der Einheit nicht verspielt werden.
Der Internationale Karlspreis zu Aachen wird sich deshalb gerade jetzt, in einer Situation, in der die Europäische Union eine ihrer tiefsten Krisen erlebt, dafür einsetzen, dass die Zukunftsziele für ein geeintes Europa manifest bleiben.
Im Jahr 2016 wurde der Internationale Karlspreis an Seine Heiligkeit Papst Franziskus verliehen. Dies geschah in Würdigung seines herausragenden Engagements für Friedenssicherung, Mitmenschlichkeit, Barmherzigkeit und Solidarität. Dies geschah vor allem, um die europäische Politik und die Bürgerinnen und Bürger Europas daran zu erinnern, dass Europa sich heute wieder auf die Ideale seiner Gründerväter besinnen und Europa als Wertegemeinschaft verstehen muss.
Der Heilige Vater sendet eine Botschaft der Hoffnung und der Ermutigung aus, „die auf der Zuversicht beruht, dass die Schwierigkeiten zu machtvollen Förderern der Einheit werden können, um alle Ängste zu überwinden, die Europa – gemeinsam mit der ganzen Welt – durchlebt.“ Die päpstliche Botschaft ist eine „Ermutigung, zur festen Überzeugung der Gründungsväter der Europäischen Union zurückzukehren, die sich eine Zukunft wünschten, die auf der Fähigkeit basiert, gemeinsam zu arbeiten, um die Teilungen zu überwinden und den Frieden und die Gemeinschaft unter allen Völkern des Kontinentes zu fördern.“ Der Papst erinnert an den „Mittelpunkt dieses ehrgeizigen politischen Planes, […] das Vertrauen auf den Menschen, und zwar weniger als Bürger und auch nicht als wirtschaftliches Subjekt, sondern auf den Menschen als eine mit transzendenter Würde begabte Person“ wiederherzustellen. Es sei „die Stunde […] gekommen, gemeinsam das Europa aufzubauen, das sich nicht um die Wirtschaft dreht, sondern um die Heiligkeit der menschlichen Person, der unveräußerlichen Werte; das Europa, das mutig seine Vergangenheit umfasst und vertrauensvoll in die Zukunft blickt, um in Fülle und voll Hoffnung seine Gegenwart zu leben“. Es sei der Moment, „den Gedanken eines verängstigten und in sich selbst verkrümmten Europa fallen zu lassen, um ein Europa zu erwecken und zu fördern, das ein Protagonist ist und Träger von Wissenschaft, Kunst, Musik, menschlichen Werten und auch Träger des Glaubens“. Er fordert „das Europa […], das auf den Menschen schaut, ihn verteidigt und schützt; das Europa, das auf sicherem, festem Boden voranschreitet, ein kostbarerer Bezugspunkt für die gesamte Menschheit!“
In Würdigung dieser herausragenden Botschaften und Zeichen, die sein Pontifikat für Frieden und Verständigung, für Barmherzigkeit, Toleranz, Solidarität und die Bewahrung der Schöpfung setzt, war es dem Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationaler Karlspreises zu Aachen eine Ehre, Seine Heiligkeit Papst Franziskus mit dem Internationalen Karlspreis zu Aachen auszeichnen zu dürfen.
Dr. Jürgen Linden
Vorsitzender des Karlspreisdirektoriums