Europa soll von den Stärken seiner Staaten lernen
Einen eindringlichen Appell für eine gemeinsame europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik hat Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble am Vortag der Karlspreis-Verleihung beim Karlspreis-Europa-Forum gehalten. „An den Stabilitäts- und Wirtschaftspakt haben wir uns nicht so richtig gehalten, deswegen ist er nicht ausreichend, und deswegen müssen wir weitergehen“, sagte Schäuble am Mittwochnachmittag vor rund 200 geladenen Gästen im Alten Kurhaus in Aachen. Er sehe weitere politische Diskurse darüber voraus, welche Zuständigkeiten die einzelnen Mitgliedstaaten künftig an Europa übertragen wollten: „Ich bin dafür, dass wir Europa ein bisschen mehr anvertrauen und auch zutrauen.“
Es gehe, betonte Schäuble, nicht darum, in Europa alles zu vereinheitlichen: „Aber das, was wir vereinheitlichen, machen wir im Wettbewerb.“ Die Vielfalt, die in Europa in allen Bereichen herrsche, nannte er „Garant für Nachhaltigkeit“.
Auch Michel Barnier, Mitglied der Europäischen Kommission und zuständig für den europäischen Binnenmarkt, plädierte für die Vielfalt und empfahl eine Analyse der nationalen Wirtschaftspolitiken, um jeweilige Stärken als „best practice“-Beispiele nutzbar zu machen.
Barnier sagte nachdrücklich, man dürfe im Zuge der europäischen Krise keinesfalls vergessen, was Europa in den vergangenen 60 Jahren aufgebaut habe.
Sven Giegold, Mitglied des Wirtschafts- und Währungsausschusses des Europäischen Parlaments und Mitbegründer von Attac Deutschland, forderte, die Europäer dürften sich nicht der derzeit grassierenden Europaskepsis ergeben: „Wir opfern nicht den Binnenmarkt, sondern gestalten ihn aus.“ Allerdings sieht er im Bürokratieabbau bei der Ausgestaltung des Binnenmarktes die Chance, den Bürgern und Bürgerinnen den Nutzen von Europa wieder deutlicher zu machen. Investitionen in Zukunfts- und Schlüsseltechnologien, wie sie Michel Barnier in seiner Rede gefordert hat, seien wichtig.
Zentraler Punkt für den Weg aus der Krise, darin waren sich alle Redner des Karlspreis-Europa-Forums, unter ihnen auch Uwe Fröhlich, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken, einig, sei es, den Bürgern Perspektiven aufzuzeigen. „Wir müssen eine partizipative Demokratie an der Basis erreichen“, betonte Michel Barnier. Das sei auch mittels der neuen Medien- und Kommunikationswege möglich.
Bereits am Vormittag hatten die Teilnehmer des Karlspreis-Europa-Forums darüber debattiert, wie viel Integration Europa braucht: „Wir brauchen mehr Integration. Der Weg aus der europäischen Wirtschaftskrise ist ohne mehr Integration nicht möglich.“ Das sagte Hannes Swoboda, Vorsitzender der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten im Europäischen Parlament. Vieles an ungelöster gesellschaftlicher Integration schwäche die politische Integration in Europa, betonte der Österreicher.
Demgegenüber nahm der niederländische Publizist und Schriftsteller Leon de Winter einen provokativen Standpunkt ein. Er verglich die 27 europäischen Mitgliedsstaaten mit Familien in einem fiktiven Appartementhaus: „In unserem Haus gibt es einen Vorstand, der beschlossen hat, dass jede Familie für die Schulden der anderen aufkommen muss. Niemand von Ihnen würde auf die Idee kommen, die Verantwortung für die Schulden Ihrer Nachbarn zu übernehmen. Ich befürchte, wir in unserem Haus, der Villa Europa, müssen die griechischen Nachbarn bitten zu gehen, vielleicht auch die spanischen.“ De Winter betonte, er sei nicht gegen europäische Zusammenarbeit, aber für den Erhalt regionaler und nationaler Identitäten und Souveränität: „Wer hat meine Souveränität? Ein europäischer Beamter? Wir sind in die Hände von Bürokraten gefallen.“
György Konrád, Schriftsteller und Karlspreisträger 2001, widersprach seinem Kollegen: „Ich denke, wir brauchen mehr Europa. Es gibt eine endlose Zahl von Identitäten. Sie auf eine europäische zu reduzieren, wäre falsch.“
Der Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika in Berlin, Philip D. Murphy, brachte den Blick von außen auf Europa ein. „Der Traum eines geeinten, freien und demokratischen Europas hat seine Wurzeln hier in Aachen. Der wohl bedeutendste europäische Preis, der Karlspreis, spiegelt das wider.“ Er sagte, für das Wohlergehen müssten sich Politik und Wirtschaft stets die Waage halten. „Integration und der Euro bleiben attraktiv, denn sie sind, ökonomisch betrachtet, sinnvoll.“ Der Botschafter betonte, Amerika wolle die europäische Integration: „Es ist unser fester Glaube: je mehr Integration, desto besser.“
In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass die Integrationsbemühungen in Europa auf vielen Ebenen erfolgreich sein müssen, um die Menschen in Europa für den Gedanken der Einheit zu begeistern. Es gebe nicht eine einzige europäische Identität, sondern viele verschiedene. Für Europa müsse der Grundsatz der Einheit in Vielfalt gelten.
Das Karlspreis-Europa-Forum mit hochkarätigen Teilnehmern aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien findet jedes Jahr am Tag vor der Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Aachener Rathaus statt. Ausrichter ist die Stiftung Internationaler Karlspreis zu Aachen. Mitveranstalter und Unterstützer des Forums ist der Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR).