Verehrte Festgäste,
die Verleihung des Internationalen Karlspreises hier im historischen Krönungssaal in Aachen, an dem Ort der Kaiserpfalz Karls des Großen, setzt Jahr für Jahr ein „Zeichen für mehr Europa“. Hier sind wir am Ort wichtiger kultureller Wurzeln Europas, hier kann man europäischen Geist atmen. Aachen macht Mut für die Fortsetzung und Vertiefung des europäischen Einigungsprozesses, und Sie alle tragen dazu bei, dass diese symbolträchtige Plattform für die Begegnung und die Debatte über die Zukunftspläne unseres Kontinents genutzt wird.
Wir ehren heute einen unermüdlichen Arbeiter an der praktischen Umsetzung dieser Pläne, der über Jahrzehnte an wichtigen Schaltstellen europäische Geschichte mitgeschrieben hat und weiterhin schreibt. Sehr herzlich begrüße ich den Karlspreisträger 2012, den Minister der Finanzen der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Dr. Wolfgang Schäuble.
Es ist uns eine große Ehre, S.E. den Premierminister des Großherzogtums Luxemburg, den Karlspreisträger des Jahres 2006 und Vorsitzenden der Eurogruppe, Herrn Dr. Jean-Claude Juncker, willkommen heißen zu können, dem ich schon jetzt für seine Laudatio auf den Preisträger danke.
Ich begrüße herzlich den Karlspreisträger des Jahres 1997, den ehemaligen Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Prof. Dr. Roman Herzog.
Wir freuen uns außerordentlich über die Anwesenheit des Karlspreisträgers 2001, des ehemaligen Präsidenten der Akademie der Künste, Herrn György Konrád.
Herzlich willkommen heißen wir S. E. den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Herrn Martin Schulz.
Wir begrüßen I.E. die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission, Frau Dr. Viviane Reding, sowie S.E. das Mitglied der Europäischen Kommission, Herrn Michel Barnier.
Ich begrüße sehr gerne die Exzellenzen die Botschafter der Länder Großherzogtum Luxemburg, Republik Kroatien, Rumänien, Italienische Republik, Königreich der Niederlande, Vereinigte Staaten von Amerika, Irland, Slowakische Republik, Republik Bulgarien, Portugiesische Republik sowie den Generalkonsul der Republik Kroatien und weitere Mitglieder des konsularischen Corps.
Ein herzliches Willkommen gilt dem Präsidenten des Deutschen Bundestages, Herrn Prof. Dr. Norbert Lammert.
Wir freuen uns über die Anwesenheit der Ministerpräsidentin des Landes Nordrhein-Westfalen, Frau Hannelore Kraft.
Ebenso herzlich begrüßen wir Herrn Bundesminister Ronald Pofalla sowie den Vorsitzenden der FDP-Bundestagsfraktion, Herrn Rainer Brüderle.
Ein herzlicher Willkommensgruß gilt dem Präsidenten des nordrhein-westfälischen Landtages, Herrn Eckhard Uhlenberg, und der Landesministerin Frau Dr. Angelica Schwall-Düren sowie dem Landesminister Herrn Dr. Norbert Walter-Borjans.
Wir begrüßen herzlich den Generalsekretär des Europäischen Parlaments, Herrn Klaus Welle, den Ehrenpräsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, Herrn Drs. René van der Linden, und den ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments, Herrn Hans-Gert Pöttering.
Wir freuen uns über die Anwesenheit zahlreicher Mitglieder des Europäischen Parlaments sowie des Bundestages und des nordrhein-westfälischen Landtages und des Präsidenten der Oesterreichischen Nationalbank, Herrn Dr. Claus Raidl.
Darüber hinaus begrüße ich mit Freude S.E. Herrn Bischof Dr. Heinrich Mussinghoff sowie die Vertreter der Kirchen und Religionsgemeinschaften und für den Karlspreisträger 1951, den vormaligen Rektor des Europa-Kollegs, Herrn Professor Dr. Hendrik Brugmans, der viele Jahre treuer Gast der Karlspreisverleihungen hier in Aachen war, begrüße ich seine Witwe, Frau Hannah Brugmans-Kirsten.
Herzlich willkommen heißen wir den Initiator des Jugendkarlspreises, Herrn Dr. André Leysen, und die Preisträger dieses Jahres, allen voran die Vertreterin des Siegerprojektes aus Griechenland, Eleftheria Makri.
Ihnen und vielen weiteren Persönlichkeiten, die uns durch ihre Anwesenheit ehren, aber auch den Zuhörern und Zuschauern an Radio und Fernsehen gilt der herzliche Gruß der Stadt Aachen.
Vom aktuellen Zustand europäischer Integration könnte man ein ernüchterndes Bild zeichnen: Europa steckt in einer fundamentalen Krise, ausgelöst durch die globale Finanzkrise und die Verschuldungskrise etlicher Mitglieder des Euro-Raums. In einer Folge kurzfristig zusammengerufener Gipfel wurden von den europäischen Regierungen ökonomische Maßnahmen vereinbart, die die Turbulenzen auf den internationalen Finanzmärkten beruhigen sollten.
Offen bleibt bislang, ob die Rettungsschirme und Bürgschaften greifen und nachhaltig zum Erfolg führen. Die damit verbundenen Einschnitte, die den Bevölkerungen betroffener Staaten zugemutet wurden und wohl auch zugemutet werden mussten, wurden in verschiedenen Ländern als Spardiktat empfunden, schufen den Nährboden für soziale Unruhen, wachsenden Populismus und eine Abkehr weiter Bevölkerungskreise vom europäischen Gedanken, vom Ziel einer Weiterentwicklung der europäischen Integration.
Der spürbare Vertrauensverlust gegenüber den europäischen Institutionen und ihren Repräsentanten hat in einzelnen Staaten schon zu Renationalisierungstendenzen geführt, die jeden überzeugten Europäer mir großer Besorgnis erfüllen müssen. Doch sind nicht auch diejenigen, die die Einigung des gemeinsamen Kontinents als den einzig möglichen Weg zu Frieden und Wohlstand sehen, allzu oft ratlos oder zumindest sprachlos, wenn es darum geht, schlüssige Perspektiven aufzuzeigen?
Wie finden wir das richtige Maß zwischen vernünftigem Sparen und notwendiger Wachstumsförderung? Wie lässt sich eine Konsolidierung verwirklichen, die die Wirtschaftsentwicklung nicht abwürgt, der die Bevölkerung gar zustimmen kann, weil sie nicht fürchten muss, dass soziale Notlagen sich verschärfen? Und: Wie kann in den noch prosperierenden Ländern für die notwendige Solidarität geworben werden, die Lasten der Schwächeren mitzutragen, Transfermechanismen zu etablieren, ohne dass Populisten mit ihren einfachen Schlagwortlösungen weiter Zulauf erhalten.
Klar ist, dass nur Lösungen funktionieren können, die von den Menschen mitgetragen werden. Und so ist auch das Bild der Deutschen in Europa am Ende nur so positiv, wie es uns gelingt, einen gemeinsamen Weg mit den Menschen in allen Teilen Europas zu finden. Und dabei geht es auch um die Würde, um das Selbstwertgefühl, das wir nicht verletzen dürfen.
Dieser Aspekt des Selbstwertgefühls hat eine große Rolle gespielt bei der Wiedervereinigung Deutschlands. „Wir sind das Volk!“ Es ist den Politikern dieser Zeit gelungen, als wahre Volksvertreter die richtigen Entscheidungen zu treffen. Die Menschen mussten nicht mehr überzeugt werden. Man handelte im Namen des Volkes.
Meine Damen und Herren, Wolfgang Schäuble hat in dieser Zeit historisch verantwortungsbewusst gehandelt durch seine Rolle bei den Verhandlungen des deutsch-deutschen Einigungsvertrages. Dieser Vertrag wurde 1990 ausgehandelt, um die ganz praktischen Schritte der Wiedervereinigung in eine Form zu gießen. Voraussetzung dafür war der Zwei-plus-Vier-Vertrag, der in Wahrheit ein Friedensvertrag mit den Alliierten war.
Für den Einheitsvertrag gab es kein Beispiel, kein Vorbild, das man hätte zu Rate ziehen können. Es war eine große Kraftanstrengung aller Beteiligten. Und sie war möglich, weil die Chancen der Besiegelung des Friedens und des gemeinsamen Lebens in Freiheit alles im positiven Sinne überstrahlt haben.
Hätte es nicht diese Aufbruchstimmung gegeben, diesen unbedingten Willen, die historische Chance zu nutzen, es wären sicher genügend Bedenkenträger aufgetaucht, die vor allem die Risiken der zu treffenden Entscheidungen hervorgehoben hätten. Aber Wolfgang Schäuble gehörte zu denen, die die wahre Dimension erkannt haben. Es ging nicht allein um Deutschland, um die Anpassung von Gesetzen und Systemen. Es ging um Europa, um die Überwindung der Teilung eines ganzen Kontinents und um die Verantwortung, die Wiedervereinigung zum Motor europäischer Einigung zu machen.
Damit war der Weg frei für weitere große Ziele:
Der Vertrag von Maastricht hat die Richtung gewiesen, die Einführung des Euro hat Fakten geschaffen. Und auch hier sind mutige Entscheidungen mit Erfolg belohnt worden. Der Euro an sich hat keine Probleme verursacht, er ist stabil und er eint viele Länder Europas. Aber der Euro ist nicht die Lösung aller Probleme. Und die gemeinsame Währung kann mittelfristig nur funktionieren, wenn es unter den beteiligten Ländern auch eine gemeinsame Vorstellung darüber gibt, wie die wirtschafts- und finanzpolitischen Eckpfeiler zu konstruieren sind. Jean-Claude Trichet hat als Preisträger des vergangenen Jahres genau hier eindrucksvoll auf diese Aufgabenstellung hingewiesen.
Zwischen den großen Zielen der Europapolitik und der heutigen Wirklichkeit klafft inzwischen eine große Lücke. Es wird über Europa diskutiert, aber überwiegend mit den Schlagworten Finanzkrise und Schuldenkrise, und angstvoll werden die Unruhen in den Märkten beobachtet.
Wohin geht also Europa? Wird es getrieben durch anonyme Märkte, durch Spekulationen und Wetten auf einen Niedergang? Oder ist nicht doch der Drang zur Festigung von Frieden und Freiheit durch den Einigungsprozess in Europa und die Verantwortung der Europäer in der Welt die stärkere Kraft?
Eine solche Rückbesinnung, weg vom Alltag mit seinen ökonomischen Automatismen, seinen Ablenkungen, hin zu langfristigeren Erwägungen erfordert Menschen, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind. Nervosität ist ein schlechter Ratgeber. Die persönliche Erfahrung, welcher Logik wirklich historische Problemlösungen folgen, ist dagegen anscheinend von großem Vorteil. Dr. Wolfgang Schäuble bringt in seinem jetzigen Amt die langjährigen Erfahrungen in Verantwortung und die damit verbundenen Schlüsselerlebnisse ein in die Bewältigung der derzeitigen Krisen in Europa.
Und seine Rolle ist deshalb so wichtig, weil sie Mut macht für ein Europa, das stark genug ist, auch die gerade heute aktuellen Probleme zu lösen.
Europa ist eben mehr als die Bewältigung von Finanzkrisen. Der Einigungsprozess Europas ist die Lehre aus unserer gemeinsamen Geschichte und zugleich der Jahrhundertauftrag, der in unserer Kultur begründet ist. Frieden, Freiheit und Demokratie sind dauerhaft in einem geeinten Europa möglich, wenn nationale Egoismen im Zweifel zurückstehen hinter den Gesamtinteressen der Gemeinschaft.
Und doch holt uns der Alltag immer wieder ein: Wir befinden uns hier nicht nur an einem der symbolträchtigsten Orte der europäischen Geschichte, sondern zugleich in einem Rathaus.
Wer in einer Stadt in Deutschland Verantwortung für einen kommunalen Haushalt trägt, der weiß, wie nah die Finanzierungsprobleme Griechenlands auch für uns sind. Sobald die Zinsen in Europa steigen werden oder die Gewerbesteuer erneut einbricht, wird uns hochverschuldeten Städten eines so reichen Landes das Wasser bis zum Hals stehen. Wer die Zahlen kennt, der fordert zu Recht mehr Haushaltsdisziplin auf allen Ebenen.
Aber in unseren Städten tun wir uns schwer damit, die Bürger von der Notwendigkeit des Sparens zu überzeugen. Und von Bund und Land Unterstützung zu fordern, löst kein Problem, sondern verlagert es nur. Die Konsequenz ist, dass beinahe jeder die Augen verschließt vor der Tatsache, dass man nicht mehr ausgeben sollte, als man einnimmt, solange die Banken uns noch Kredite gewähren. Und von anderen europäischen Ländern fordern wir Haushaltsdisziplin. Damit machen wir uns nicht gerade beliebt, und das sollte uns auch nicht wundern.
Wie geht eigentlich gutes Sparen? Sparen wir uns kaputt? Oder sparen wir uns gesund? Wie kann ein fairer solidarischer Ausgleich erfolgen zwischen reicheren und ärmeren Städten, zwischen reicheren und ärmeren Ländern? Und wenn der Finanzausgleich organisiert ist, gibt es dann noch genug Anreize, sich auch selbst zu helfen, auch selber Opfer zu bringen?
Ich glaube, dass wir in so schwierigen Diskussionen etwas brauchen, das uns gemeinsame Orientierung gibt. Wir brauchen Grundsätze für unser gemeinsames Handeln, die jedem einleuchten und die Vertrauen schaffen. Einer dieser Grundsätze muss das Bekenntnis zur gegenseitigen Solidarität in Europa sein. Wir müssen uns aufeinander verlassen können, wenn es darauf ankommt. Eine Stärkung der eigenen Position zu Lasten europäischer Partner darf nie das Ziel von Verhandlungen sein, vielmehr sind nur Lösungen hilfreich, die Europa insgesamt, also über alle Ebenen und Regionen hinweg in eine bessere Position bringen. Und die Gegenseitigkeit von Solidarität bedeutet auch, dass derjenige, der Hilfe empfängt, auch eine Verantwortung dafür hat, auf einen Zustand hinzuarbeiten, in dem keine weitere Hilfe notwendig ist.
Griechenlands Schulden sind auch unsere Schulden. Und wenn ein Land Probleme bekommt, dann wirkt das auch auf alle Partner in Europa. Aber wenn es uns gelingt, die wirtschaftlich schwächeren Partner zu stützen, dann nützt das Europa insgesamt.
Neben der Geldwertstabilität, die das oberste Prinzip der Europäischen Zentralbank bleiben muss, wird immer häufiger auch das Ziel der Wachstumsförderung für die europäische Politik gefordert.
Es gibt gute Beispiele, von der immens wichtigen Unterstützung im Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg über die subventionierte Anpassung der Wirtschaftsleistung und Infrastruktur in den neuen Bundesländern seit der Wiedervereinigung bis hin zu den kürzlich erst abgeschlossenen Sondermitteln im Rahmen der Konjunkturpakete, die in der heißen Phase der Wirtschafts- und Finanzkrise notwendig waren. All diese Beispiele, die sich alleine für unser Land aufzählen lassen, sind zeitlich befristet, und sie haben funktioniert, nicht als Allheilmittel, aber als wichtige Bestandteile in Konzepten, die wirtschaftliche Eigenständigkeit zum Ziel haben.
Einige Länder der Eurozone haben dringenden Bedarf, Perspektiven für eine wirtschaftlich stabilere Zukunft zu erhalten. Jede Hilfe darf nur dieses Ziel haben: eine Vorstellung davon zu vermitteln, dass sich das Kämpfen lohnt, eine Zeitspanne zu beschreiben, nach der die größten Opfer auch wieder beendet sein werden. Wenn diese Perspektive fehlt, dann beginnt eine Spirale abwärts, und Sie kennen die Länder, in denen es Anzeichen genau dafür gibt: Internationale Investoren halten sich fern, heimische Unternehmen und Investoren schaffen ihr Geld in andere Länder, und junge Menschen, die über eine gute Ausbildung verfügen, verlassen das Land.
Wenn die, die etwas können, flüchten, dann kann kein Aufschwung gelingen. Wir brauchen Vertrauen in die Chancen, die es in allen Ländern Europas geben muss. Würden wir das verneinen, dann hieße das, ein ganzes Land komplett abzuschreiben. Das kann nicht gut gehen und das kann nicht im Interesse Europas sein.
Wie kann also ein Aufbauprogramm aussehen: gezielte Anreize für Investitionen vor Ort, nicht flächendeckend und bedingungslos, sondern in innovativen HotSpots, in denen Leistungsbereitschaft geweckt werden kann, in langfristig nutzbare Infrastruktur und in erneuerbare Energien dort, wo sie auch tatsächlich Ertrag bringen. Das könnte die Möglichkeit bieten, Geld und Leistungsträger zu binden.
Sicher ist: Es gibt keine einfachen Lösungen und auch keine billigen und keine schnellen. Wenn zugleich durch gutes Krisenmanagement der Sturz in den ökonomischen Abgrund verhindert werden muss und die Überzeugungsarbeit zu leisten ist, die europäische Idee nicht als Ursache des Problems, sondern als einzige Chance für dessen Lösung zu sehen, dann lastet auf zentralen politischen Akteuren eine ungeheure Verantwortung.
Wir zollen Ihnen, sehr geehrter Herr Dr. Schäuble, am heutigen Tag unseren aufrichtigen Respekt für Ihre Leistung, wir gratulieren sehr herzlich zu der wohlverdienten Auszeichnung mit dem Internationalen Karlspreis 2012 und freuen uns, dass Herr Premierminister Juncker jetzt die Laudatio auf den Preisträger halten wird.