Herr Oberbürgermeister!
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!
Sehr geehrter Herr Generalsekretär!
Ich danke dem Karlspreisdirektorium und Ihnen, Herr Oberbürgermeister, für diese hohe Ehrung.
Ich habe heute viele freundliche Worte gehört, und ich kann nur wiederholen, was ich in meiner Heimatstadt Solingen sagte, als sie mir die Ehrenbürgerrechte verlieh: "Wenn einer das Bedürfnis hat, mit sich selbst ins Gericht zu gehen, dann sollte er einen Bekannten mit noblem Charakter bitten, er möge ihm eine Laudatio halten. Ich bin gewiß, er wird danach tief zerknirscht sein."
Mit meinem Dank für Ihre Worte, Herr Oberbürgermeister, verbinde ich den Dank für die europäische Arbeit der Stadt Aachen. Die Stiftung des Karlspreises selbst ist eine der ersten und wichtigsten europäischen Bürgerinitiativen. Die Verleihung des Karlspreises hat die Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit immer wieder und weit über die deutschen Grenzen hinaus auf das Ziel der europäischen Einigung gerichtet. Die Stadt Aachen braucht sich nicht nur auf Karl den Großen zu berufen, wenn sie den Karlspreis verleiht; sie ist auch dazu legitimiert durch ihre eigene praktische europäische Arbeit hier in der Euregio.
Sie, Herr Bundeskanzler, und Sie, Herr Generalsekretär, waren - in verschiedenem Sinne - meine Kollegen. Sie, Herr Bundeskanzler, waren von 1969-1974 mein Kabinettskollege und Sie, Herr Generalsekretär, von 1969 - 1971 mein Außenministerkollege. Sie wären nicht hier, wenn die Sache Europas nicht auch Ihre Sache wäre. Diese Stunde, die der Sache Europas dienen soll, erhält durch Ihre Anwesenheit ihr besonderes Gewicht! Ich danke Ihnen dafür.
Meine Damen und Herren!
Niemand ist mit Europa heute zufrieden. Und so vergessen wir allzu leicht, was schon geleistet wurde und nicht zuletzt auch von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland unter Ihrer Führung, Herr Bundeskanzler, noch täglich geleistet wird. Das ist sehr viel. Wir haben einen europäischen Markt. Die Ziele der Wirtschaftsgemeinschaft sind in vielen Bereichen erfüllt. Alle Mitglieder haben davon profitiert und werden davon profitieren, vor allem auch - entgegen einer bei uns weit verbreiteten Meinung - die Bundesrepublik Deutschland. Gäbe es den gemeinsamen Markt nicht, es ginge uns allen schlechter. Die Gemeinschaft ist ein erstrangiger Faktor der Weltwirtschaft und wird als solcher geachtet. Man rechnet mit ihr, in allen Teilen der Welt. In den vergangenen Jahren der weltwirtschaftlichen Rezession hat die Gemeinschaft eine harte Bewährungsprobe bestanden. Die Mitgliedsländer widerstanden der Versuchung, sich voneinander abzukapseln. Die Gemeinschaft blieb funktionsfähig.
All das ist nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch ein großer politischer Erfolg. Ich bin in der Tat der Überzeugung, daß die Europäische Gemeinschaft, so wie sie jetzt ist, trotz allem, was wir an ihr zu kritisieren und zu bemängeln haben, die bedeutendste Gemeinschaftsleistung dieses alten Kontinents in seiner langen Geschichte ist.
Diese Leistung beruhte nicht nur auf wirtschaftlichen Motiven, die sicher auch ihre wichtige Rolle gespielt haben. Das Besondere an dieser Leistung bestand darin, daß zunächst sechs und dann neun europäische Nationen bewußt über ihren eigenen nationalen Schatten gesprungen sind. Es war ein Sprung ins kalte Wasser, wie man im Deutschen sagt. Der Erfolg hat uns recht gegeben. Auf dem Gebiet der Wirtschaft hat sich gezeigt: der europäische Weg ist der richtige.
Wer das europäische Geschäft kennt, weiß, wie schwer es ist, auch nur das Erreichte zu erhalten; wieviel Arbeit, Anstrengung, Phantasie dazu gehört, diese kostbare Substanz vor dem Zerbröckeln, vor dem Verfall zu bewahren.
Protektionistische Tendenzen bedrohen den freien Warenverkehr. Im Wirtschafts- und Währungsbereich liegen die Länder noch weit auseinander: die Gemeinschaft ist im Währungsbereich praktisch gespalten; zwischen den Ländern des Währungsverbundes treten Spannungen auf, die freifloatenden Währungen sind großen Schwankungen ausgesetzt. Die Kosten des gemeinsamen Agrarmarktes steigen sprunghaft an. Die strukturellen Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten wachsen. Unterschiede in den ordnungspolitischen Vorstellungen der Mitgliedsländer werden deutlich.
Es ist wahrlich keine kleine Aufgabe, dies alles und noch eine ganze Menge mehr unter Kontrolle zu halten, auf Mittel und zuweilen auch Mittelchen zu sinnen, wie man gefährliche Entwicklungen aufhalten kann. Wir können für jeden Tag dankbar sein, an dem es den gemeinsamen Markt gibt. Wir haben uns alle so an ihn und an alle seine Vorteile gewöhnt, daß wir ihn als etwas Selbstverständliches hinnehmen. Das ist er ganz und gar nicht. Und so verdienen die verantwortlichen Politiker in den Hauptstädten der Mitgliedsländer und die Europäische Kommission und ihre Mitarbeiter unser aller Dank für ihre europäische Arbeit, die so gar keinen Ruhm einbringt, auf deren Erfolg aber ein großer Teil unseres Wohlergehens beruht. Um Europa erwerben sich eben nicht nur die Karlspreisträger Verdienste. Es gibt auch in unserem Lande Tausende von Menschen, die dafür arbeiten, daß die europäische Idee nicht erlischt. Sehr viele von ihnen gehören dem Deutschen Rat der europäischen Bewegung an. Ich habe die Liste der Mitgliedsorganisationen durchgezählt. Es sind 46, die sich alle auf die eine oder andere Weise um Europa bemühen. Ihnen und ihren Schwesterorganisationen in den anderen Mitgliedsländern möchte ich heute als Karlspreisträger und als Präsident der Bundesrepublik Deutschland einmal öffentlich danken. Ihre Arbeit gibt allen, die sich um Europa mühen, Hoffnung. Diese Hoffnung brauchen wir, wenn wir einen Blick auf die Realität in Europa werfen.
Es war ein Ziel der Römischen Verträge, den Abstand zwischen den Mitgliedsländern zu verringern. Davon sind wir aber weiter denn je entfernt. Die europäischen Länder entwickeln sich auseinander - wirtschaftlich, sozial und politisch. Die Unterschiede zwischen den reichen und den armen Regionen in Europa werden größer. Dauerstreiks erschüttern die Volkswirtschaften einiger Mitgliedsländer. Die sozialen Spannungen nehmen zu. Die Parteienstrukturen treiben nach rechts und links auseinander.
Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten treffen wir eher auf Negatives: Arbeitslosigkeit, politischen Terror, knappe Mehrheitsverhältnisse in den Parlamenten, geschwächte Regierungen.
Zu diesem Zeitpunkt steht der Gemeinschaft der Beitritt von drei weiteren Ländern ins Haus. Griechenland hat seinen Beitrittsantrag schon gestellt, Portugal und Spanien werden folgen. Wer wird nicht diese drei Staaten, die aus eigener Kraft den Weg zur Demokratie zurückgefunden haben, in einer europäischen Gemeinschaft begrüßen? Dürfte sich die Gemeinschaft noch "Europäische Gemeinschaft" nennen, wenn sie nicht jedem demokratischen europäischen Staat offenstünde? Aber wem liegt nicht auch klar vor Augen, daß sich die Divergenzen innerhalb der Gemeinschaft damit noch verstärken werden?
Woher soll die Gemeinschaft die Kraft beziehen, auch die mit dem Beitritt der drei südeuropäischen Staaten verbundenen Probleme zu lösen, da sie alle ihre Kraft zusammennehmen muß, das Erreichte im engeren Kreise zu bewahren? Diese Kraft kann nur aus einer politischen Idee kommen. Und diese Idee heißt "Europa". Europa, das ist eben mehr als ein Gemeinsamer Markt, mehr als eine Zollunion, so wichtig sie auch ist. Nur diese Idee Europa öffnet uns den weiten geistigen und politischen Horizont, den wir brauchen, um nicht in der Enge eines rein wirtschaftlichen Denkens langsam aber sicher unterzugehen. Wir werden die Europäische Gemeinschaft nur erhalten können, wir werden sie nur dann erweitern können, wenn wir die politische Idee Europa, den Gedanken der politischen Einigung Europas, wiederbeleben.
Das ist nötig. Bei einer jüngsten Meinungsumfrage in der EG erklärten 80 Prozent der Befragten, sie kümmerten sich wenig oder gar nicht mehr um Gemeinschaftsfragen.
Die politische Einigung Europas - ist das nicht eine Illusion? Ich glaube das nicht. Die Gemeinschaft braucht politische Ziele, sie leidet an einem Mangel an politischen Zielen. Nur solch ein Ziel bündelt und ordnet die politischen Kräfte; es setzt Energien frei, von denen niemand vorher wußte. Fehlt das politische Ziel, zerfasert sich die Politik in Einzelheiten, löst sie sich auf, verliert sie ihren Zusammenhang; die Kräfte nehmen ab und die Hoffnung; der Horizont verdüstert sich; die Bürger werden verdrossen. Genau das kann man in den Ländern Europas beobachten. Man braucht nur die Zeitungen zu lesen. Überall wird die Frage gestellt: Was sollen wir, was können wir tun? Unsere Antwort darauf ist: Wir müssen Europa bauen.
Ich weiß, es gibt Einwände dagegen, auch nur darüber zu sprechen, wie die Europäische Union eigentlich aussehen soll, die Präsident Pompidou auf der Pariser Gipfelkonferenz 1972 als Ziel für 1980 beschworen hat. Man glaubt, man könne Europa schweigend bauen; der Konsens stelle sich schon irgendwie ein. Es gilt nahezu als Dogma, daß man die Grundsatzfragen liegen lassen und sich auf "praktische Fortschritte" konzentrieren solle. Aber was ist ein Fortschritt, wenn niemand weiß, wohin die Reise geht? Das Wort Fortschritt hat doch nur einen Sinn, wenn man ein Ziel hat.
Und wann eigentlich soll oder darf man über die Grundsatzfragen Europas reden? Es gibt natürlich immer Gründe, nicht davon zu sprechen: Da sind Regierungen in Schwierigkeiten, da muß man die nächsten Wahlen oder die XY-Konferenz erst einmal abwarten. Wie aber will man unsere Bürger für das Ziel einer Europäischen Union gewinnen, wenn man nie miteinander über dieses Ziel spricht? Wie eigentlich will man die Beitrittsverhandlungen mit den drei südeuropäischen Ländern führen, wenn man ihnen nicht sagen kann, worauf sie sich da eigentlich einlassen?
Das ständige Aussparen des Wesentlichen führt zu einer eigentümlichen Hohlheit, Vordergründigkeit, Doppeldeutigkeit der politischen Sprache, wenn von Europa die Rede ist. Man kann es den Bürgern nicht verdenken, daß sie glauben, mit einer Sache, über die in einer solchen Sprache gesprochen wird, können es nicht weit her sein. Ich glaube, wir sollten Schluß damit machen.
Wir sollten auch nicht verschweigen, daß manche die Sorge haben, die nationale Identität eines Volkes, einer Nation, könnte von einer europäischen Superstruktur erdrückt werden. Diese Sorge ist unbegründet. Denn Europa kann sich nur, es muß sich auf das Selbstbewußtsein der europäischen Völker gründen. Ja, die Europäische Union ist die politische Form, in der das Eigene, das Besondere jeden Volkes am besten zu sich selber kommt, zu seiner vollsten und reichsten Entfaltung. Das scheint zunächst paradox zu sein, und doch ist es die Wahrheit. Ich glaube nicht daran, daß der Nationalstaat dieses Besondere so rein entfalten kann wie eine Europäische Union. Erst eine Europäische Union wird den gemeinsamen Grund sichtbar machen, dem alle europäischen Nationen entwachsen sind. Der Nationalstaat isoliert das Besondere der eigenen Nation, er überbetont es, er setzt die Akzente falsch.
Ich erkenne den deutschen Beitrag zur Geschichte, zur Kultur Europas erst richtig, wenn ich ihn als die besondere, die für unser Volk charakteristische Ausprägung einer geistigen Grundsubstanz verstehe, die allen Völkern Europas gemeinsam ist. Natürlich gibt es eine französische, eine italienische, eine deutsche Kultur und so weiter. Aber die französische, die italienische, die deutsche Kultur, sie sind Sonderfälle einer europäischen Kultur, die allen gemeinsam ist. Erst wenn wir dieses allen Gemeinsame als Gemeinsamkeit erfahren, werden wir zur richtigen Einschätzung unserer Sonderart finden. In einer Europäischen Union werden die Nationalstaaten Europas nicht untergehen; sie werden in ihr, um ein tiefsinniges Wort Hegels zu gebrauchen, in einer höheren Einheit "aufgehoben" sein. Europa ist kein Ersatz für die eigenen Nation. Uns Deutsche drängte es nach dem Krieg nach Europa; wir hofften wohl, in Europa ein neues Vaterland zu finden; denn es war nicht leicht, ein Deutscher zu sein in jener Zeit. Manche wollten dabei auch der eigenen Nation entfliehen. Und vielleicht drängten wir deshalb auch zu unbedacht auf gesamteuropäische Strukturen und erregten so den - bewußten oder unbewußten - Widerstand mancher Nachbarn. Doch man kann seiner Nation nicht entfliehen und man soll es nicht. Diese Erkenntnis ist eines der wichtigsten Vermächtnisse Charles des Gaulles an Europa. Sie spricht für den geschichtlichen Sinn dieses großen Europäers. Wir Deutschen wollen heute Europas nicht mehr als ein Ersatzvaterland. Wir wollen wieder bei uns, bei der deutschen Nation, zuhause sein. Doch ich stelle ganz entschieden in Frage, daß die deutsche Nation nur in der Form des Nationalstaates sich entfalten könne.
Doch es gilt nicht nur den nationalstaatlichen Einwand gegen ein vereintes Europa. Es gibt auch das Argument, die Völker seien noch nicht reif für eine europäische Lösung. Das ist nicht sehr schmeichelhaft von den Völkern gedacht. Es geschieht sonst auch ziemlich selten, daß man seinem eigenen oder einem anderen Volk politische Unreife attestiert. Selbstachtung und Höflichkeit hindern einen meist daran. Doch wenn es um Europa geht, ist dieses "Argument" gar nicht so selten zu hören. Ich glaube, man unterschätzt die Völker da ein wenig. Und wären die Völker wirklich nicht reif, warum setzt man sie nicht der wärmenden Sonne der europäischen Idee aus, in der sie reifen können?
Das scheinbar stärkste Argument gegen eine Europäische Union zum heutigen Zeitpunkt sind die unterschiedlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Man sagt, diese Verhältnisse müßten erst einander angeglichen werden. Es gebe eben Sachzwänge, die eine Europäische Union jetzt noch verhinderten. Besser als illusionäre Träumereien sei eine Politik der "kleinen Schritte".
Als liberaler Mensch wehre ich mich zunächst gegen das Wort "Sachzwänge". Man kann allgemein feststellen, daß die Sachzwänge in dem Maße zunehmen, in dem die politischen Ideen abnehmen. Da besteht offenbar ein untergründiger Zusammenhang. Sich einem "Sachzwang" beugen, heißt für mich, sich auf eine unwürdige Art seiner Freiheit zu begeben, selbst zu entscheiden und die Sachen zu verändern.
Die "kleinen Schritte" - sie sind der Alltag der Politik. Und ich bin der Letzte, der etwas gegen sie sagen wollte. Diese zähe, tägliche, ruhmlose Arbeit der Politik, sie verdient unseren Dank und unseren Respekt. Aber dieser Respekt sollte uns nicht dazu verführen, nun überhaupt keinen großen Schritt mehr machen zu wollen. Denn wer sagt eigentlich, daß die Europäische Union erste gegründet werden kann, wenn die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse einander angeglichen sind? Versuchen wir doch einmal das Ding vom Kopf auf die Füße zu stellen. Ich bin fest davon überzeugt, daß wir einheitliche Lebensverhältnisse in Europa überhaupt nur dann bekommen können, wenn wir uns vorher zu einer Europäischen Union im vollen Sinne des Wortes zusammenfinden. Versuchen wir doch einmal, uns vorzustellen, daß man mit einer simplen, klaren, durchsichtigen Verfassungsregelung für Europa beginnen könnte, die alle Furcht vor einer Unterjochung der Nationen durch administrative Superstrukturen beseitigte, die die quälende Ungewißheit von uns nähme, wo es denn mit diesem Europa hinaus wolle, die Klarheit und Vertrauen schaffte.
Einer solchen Regelung sollten folgende Überlegungen zugrunde liegen: Europa kann kein zentral regierter Einheitsstaat sein. Es muß eine Föderation sein. Wir in der Bundesrepublik Deutschland haben gute Erfahrungen mit einem demokratischen Bundesstaat gemacht. Diese Erfahrungen könnte man verwerten. Nun besteht Europa aus vielen Nationen. Die Bedeutung des föderativen Elements müßte also stärker sein als in unserem Bundesstaat, der nur aus dem Teil einer Nation besteht. Deshalb muß auch jeder einzelne Staat in der Föderation eine größere Selbständigkeit haben, als sie bei uns ein Bundesland hat. Und das Gremium, in dem die Einzelstaaten Europas zusammenwirken werden, müßte ein vergleichsweise größeres Gewicht haben als der Bundesrat in der Bundesrepublik Deutschland. Das führt zu einem Zweikammersystem mit einer Staatenkammer, in der die Regierungen vertreten sind, und mit einem Parlament, das von den Völkern Europas direkt gewählt wird.
Wichtige Elemente einer solchen Verfassungsregelung sind in den Römischen Verträgen und durch die vorgesehene Direktwahl des Europaparlaments bereits vorgebildet. Eines dieser Element ist die Mehrheitsentscheidung im Rat, die in Artikel 148 des EG-Vertrages verändert ist. Jedermann weiß, daß dieser Artikel stillschweigend außer Kraft gesetzt ist und daß der Rat mit Einstimmigkeit entscheidet. Das war bei neun Mitgliedsländern unzureichend genug. Bei künftig zwölf Mitgliedern bedeutet dieses Prinzip der Einstimmigkeit nichts anderes als Entscheidungsunfähigkeit.
Ich nehme die bisher gegen die Mehrheitsentscheidung geltend gemachten Einwände durchaus ernst. Wenn wir jedoch wieder zu Mehrheitsentscheidungen kommen wollen - und das müssen wir - dann sollten die Abstimmungsregeln so modifiziert werden, daß sie berechtigten Einwänden Rechnung tragen.
Das könnte zum Beispiel so aussehen: Eine Mehrheitsentscheidung wird gefällt. Darauf macht ein Mitgliedsland geltend, es könne den Beschluß nicht hinnehmen, weil er seinen lebenswichtigen Interessen zuwiderläuft. Dieser Einspruch ist zu begründen. Er wird nur wirksam, wenn er vom Nationalparlament dieses Mitgliedslandes mit qualifizierter Mehrheit bestätigt wird. Durch diese Bestätigung wird der Mehrheitsbeschluß für das betreffende Land suspendiert. In der Praxis mag das in dem einen oder anderen Fall dazu führen, daß die Suspendierung in dem einen Land den Beschluß auch für andere Mitglieder unannehmbar macht.
Bisher wurden ja manche Fragen gar nicht erst angefaßt, weil mit Einstimmigkeit nicht zu rechnen war. Auch das würde sich dann ändern. Die politische Diskussion würde für den Bürger durchschaubarer.
Ein solches Verfahren könnte auch in eine europäische Verfassung, in der ja die in den Römischen Verträgen nicht enthaltenen Bereiche geregelt werden mußten, eingehen, wobei der zunächst wahrscheinlich weite Bereich der lebenswichtigen nationalen Interessen nach und nach einvernehmlich eingeschränkt werden müßte.
Die europäische Verfassung wäre damit keine Regel für die Zusammenarbeit nach der vollzogenen Integration allein, sondern sie wäre selbst ein Instrument zur Integration aller wichtigen politischen Bereiche.
Eine weitere Anregung, die das öffentliche Verständnis für die europäischen Zusammenhänge der nationalen politischen Entscheidungen verbessern könnte: Die nationalen Parlamente sollten bei allen wichtigen Fragen neben den Berichterstattern der Fachausschüsse einen Berichterstatter hören, der die europäischen Gesichtspunkte der anstehenden Entscheidung eingehend darlegt. Die Mitgliedschaft eines solchen Berichterstatters im europäischen Parlament würde eine verstärkte Wechselwirkung zwischen der parlamentarischen Arbeit auf nationaler und europäischer Ebene herstellen.
Dies alles sind nur Vorschläge. Man kann sich auch andere ausdenken. Über solche Dinge kann man doch, meine ich, offen in Europa diskutieren. Dabei werden sehr unterschiedliche Auffassungen von der Gestalt der Europäischen Union auf den Tisch kommen. Wir sollten die Auseinandersetzung darüber nicht scheuen. Es ist absolut unnötig, darüber mit gesenkter Stimme in Brüsseler Fluren und Hinterzimmern zu raunen. Ich rede hier darüber, um ein Gespräch in Gang zu setzen, das den Willen zu Europa wieder belebt.
Dieses Gespräch sollte bald beginnen. Was werden die Wähler vor den Wahlen zum Europaparlament 1978 wohl die Kandidaten fragen? Sie werden fragen: Wie soll denn dies Europa aussehen?
Und es wäre ganz gut, wenn die Kandidaten dann schon darauf eine Antwort hätten. Denn sonst erscheint den Wählern die Wahl als ein Manöver, mit dem ein Fortschritt vorgetäuscht werden soll, der gar nicht stattgefunden hat.
Ich begrüße von ganzem Herzen die Direktwahl eines Europäischen Parlaments. Diese Wahl bietet die Chance, daß die Idee Europa in den europäischen Völkern wieder lebendig wird. Aber sie muß Konsequenzen haben, denn sonst besteht die Gefahr, daß sie die Bürger unserer Länder enttäuscht oder - noch schlimmer - langweilt.
Die politische Einigung Europas ist ein Werk des Friedens. Sie dient nicht nur den Interessen der Mitglieder der Gemeinschaft. Sie dient dem Wohl aller europäischen Länder. Seit ihren Ursprüngen steht sie für alle demokratischen Länder Europas offen. Sie sucht die friedliche Zusammenarbeit auch mit den Ländern Osteuropas, sie sucht den Brückenschlag zu den anderen demokratischen Staaten der Welt.
Die Völker der Gemeinschaft dienen - so meine ich - dem Frieden am besten, wenn sie sich zu einer Europäischen Union zusammenschließen. Doch die Zeit verrinnt. Wenn sich Europa nicht bald auf sich selbst besinnt, könnten die desintegrierenden Faktoren wirklich unüberwindlich werden. Ich glaube, wir müssen schnell handeln. Das Risiko des Nichtstuns ist groß. Die Wirtschaft hat durch die europäische Lösung einen ungeahnten Aufschwung genommen. Warum sollte die politische Stärke Europas durch einen politischen Zusammenschluß nicht ebenso wachsen? Schon manche versuchten, Europa mit Gewalt zu einen. Es führte immer ins Unglück. Einen wir Europa aus Einsicht und mit freiem Willen. Es ist die schönste, die lohnendste historische Aufgabe, die uns in unserer Geschichte gestellt wurde. Es fordert die besten Kräfte unserer Völker heraus. Diese Kräfte sind da in den großen geistigen und politischen Traditionen unserer Länder. Erkennen wir unseren Reichtum in der Vielfalt. Erkennen wir unsere Stärke in der Einheit.