Herr Bundespräsident, meine Damen und Herren!
Der Herr Oberbürgermeister der Stadt Aachen hat eben daran erinnert, daß sie, Herr Bundespräsident, vor vier Jahren Salvador de Madariaga gewürdigt haben, einen großen Philosophen aus dem liberalen Geist Europas. Heute haben sie diesen gleichen Preis erhalten, und ich möchte Ihnen im Namen der Bundesregierung sehr von Herzen dazu unseren Glückwunsch aussprechen.
Meine Damen und Herren, die Berufung auf den genialen Kaiser, dessen Politik die Grundlagen schuf für die Reiche und Länder des christlichen europäischen Mittelalters und der europäischen Staatenwelt auch der Neuzeit, die Berufung auf sein unbedingtes Sendungsbewußtsein, auf seinen Expansionsdrang, auf seine Härte könnte uns auch auf Abwege führen. Sie, Herr Bundespräsident, haben jedenfalls keine Anzeichen hervorlugen lassen, daß sie etwa die Absetzung des Herzogs von Bayern für ein zulässiges, ein legitimes Mittel der Politik halten würden. Sie würden auch die Sachsen und Slawen an den Grenzen Ihres Reiches nicht für christianisierungsbedürftig erklären wollen. Die Sammlung alter Lieder fände wahrscheinlich eher Ihre Zustimmung. Sie meiden heutzutage gemeinhin ein Wort wie "Abendland", das zwar für viele von uns einen hohen Wertgehalt mit sich trägt, aber doch nur von geringerer begrifflicher Präzision ist. Sie sind, lieber Walter Scheel, eher ein Mann des klaren Wortes.
Die heutige Auszeichnung gilt einem Manne, meine Damen und Herren, gilt einer Politik, die sich ihre Erfolge gegen große sachliche Schwierigkeiten - der Herr Oberbürgermeister hat eben einige davon beleuchtet -, aber auch gegen Mißverständnisse und gegen Mißtrauen, gegen Verdächtigungen hat erkämpfen müssen. Die Auszeichnung gilt, wie ich glaube, auch dem Gemeinwesen, das Sie als Bundespräsident vertreten, und für dessen Bürger Sie gesagt haben: "Wir sind auf die Gemeinschaft der europäischen Völker angewiesen. Nur in dieser Gemeinschaft sehe ich eine Zukunft für unser Land, nur in ihr wollen und können wir unsere Aufgaben in der Welt erfüllen."
Ich sehe mit dem heutigen Tage, mit der Verleihung des Karlspreises an Sie, Herr Bundespräsident, mit einer gewissen verhaltenen Freude auch, daß ein Klischee weiter abbröckelt, das manche von Ihnen gezeichnet haben, nämlich das Klischee vom Nur-Ostpolitiker Walter Scheel. Sie haben mit großer Geduld den Kritikern Ihrer und unserer gemeinsamen Politik, jenen Kritikern, die sie und uns auf Ostpolitik in einer Ausschließlichkeit fixiert glaubten, daß sie darin ein Hemmnis für die westeuropäische Integration sehen zu müssen glaubten, immer wieder und unermüdlich den Zusammenhang unserer Politik erläutert, nämlich – um Sie abermals zu zitieren – als "den deutschen Anteil an einer gesamteuropäischen Politik des Ausgleichs, der Annäherung und der Friedenssicherung".
Ich möchte einen Augenblick bei dem Adjektiv "gesamteuropäisch" verweilen, das Sie, Herr Bundespräsident, damals gebraucht haben. Europa insgesamt: dazu gehört ja geschichtlich, kulturell Konstantinopel als Vorort der oströmischen Kirche, als Vorort des oströmischen Reiches genauso wie Budapest, wie Nowgorod oder Leningrad, genauso wie Petrus in Rom, wie die Juden und Araber in Granada, wie die skandinavischen Wikinger im Mittelmeer; dazu gehört Paris genauso wie London, Aachen genauso wie Prag und West-Berlin genauso wie Ost-Berlin.
Für Sie, verehrter Herr Bundespräsident, und für die Bundesregierungen - denjenigen, denen Sie angehört haben, deren Nachfolgerinnen wie auch für die jetzige Bundesregierung -, für Sie und für uns war die gesamteuropäische Politik des Ausgleichs, der Annäherung, der Friedenssicherung, für uns war das und bleibt dies zugleich der einzige Weg, unser Verhältnis zu dem anderen deutschen Staat, in dem ein großer Teil unseres Volkes leben muß, unser Verhältnis zur DDR von der totalen Konfrontation in ein anderes, in ein besseres, in ein geregeltes Verhältnis im Interesse der Menschen zu überführen. Ihre Politik, Herr Bundespräsident, unsere gemeinsame Politik, hat geholfen, vielerlei Fronten in Europa aufzulockern, hat geholfen, Doktrinäres zu überwinden. Vielen ist erst dadurch wieder bewußt geworden, daß wir geistes- und geschichtsverwandte Nachbarn in Europa nicht nur im Westen, Süden und Norden, sondern auch im Osten haben, und daß man mit ihnen allen reden muß, weil sie ja zu unserem Leben gehören.
Sie waren fünf Jahre lang als Außenminister einer der großen Beweger in Europa, und Sie sind es als Bundespräsident abermals – in ganz Europa. Andererseits ist im Scheinwerferlicht der Ostverhandlungen, an denen Sie einen motivierenden und operativ bedeutenden und entscheidenden Anteil hatten, bisweilen übersehen worden, daß eben auch im Westen Europas über Stationen und Perioden der Euphorie und des Aufbruchs, aber auch – wie schon eben von dem Sprecher vor mir gesagt worden ist – der Stagnation, des Stillstandes ein vorher nicht erreichtes Maß an Gemeinsamkeit und Kooperation innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zustande gebracht worden ist. Auch daran haben sie einen erheblichen Anteil.
Nun ist niemand, und gewiß wir Deutschen nicht, mit dem erreichten Stande der Europäischen Gemeinschaft zufrieden. Wie könnte man dies auch sein, bei dem täglichen mühsamen Ringen um neuen Konsens, das wir alle miterleben, an dem viele von uns beteiligt sind, oft – wenn ich dieses Bild so gebrauchen darf – mit dem Rücken an der Wand des jeweils kleinsten gemeinsamen Nenners. Und dies alles bei größten wirtschaftlichen Sorgen in allen beteiligten Staaten, dies alles in einer Großwetterlage, wie Walter Scheel einmal gesagt hat, die gekennzeichnet ist durch Turbulenzen und Störungszentren – und dies ist eine freundliche Beschreibung der Großwetterlage. Letztlich ist diese Großwetterlage in der Welt und in Europa, wenn wir nur einmal den wirtschaftlichen Aspekt ins Auge fassen, durch menschliche Fehler, durch politische, durch ökonomische Fehler entstanden. Wir sind gemeinsam mit anderen Staaten dabei, diese Fehler schrittweise zu überwinden und zu korrigieren – gemeinsam mit anderen in der Europäischen Gemeinschaft in Brüssel, gemeinsam mit anderen in Paris, nämlich mit den Entwicklungsländern und Ölländern, mit denen wir Industrieländer langsam nach einem Ausgleich suchen, gemeinsam mit anderen in Helsinki oder später in diesem Jahr in Belgrad. Und ich denke, die Welt wird sich ändern!
Walter Scheel hat einmal den Wunsch ausgesprochen, in einer Phase Bundespräsident sein zu wollen, in welcher der Weg zur Europäischen Union vollendet werden könne. Man kann heute nicht gut absehen, ob dieser Wunsch des Bundespräsidenten in Erfüllung geht. Aber eines, glaube ich, kann man absehen, nämlich daß Sie in Ihrer Amtsperiode das noch erleben werden, was eben der Oberbürgermeister die "demokratische Legitimation der Europäischen Gemeinschaft" genannt hat, die gemeinsamen Wahlen, und darauf aufbauend, daraus hervorgehend – so hoffe ich – ein starkes und mutiges, ein europäisches Parlament, das mehr ist als die Summierung nationaler Fraktionen und mehr ist als die Bühne für den Vortrag nationaler Eigenbröteleien.
Die Völker Europas brauchen sich ihrer Unterschiede gewiß nicht zu schämen. Sie haben nötig, diese nationalen Unterschiede zu achten und zu beachten. Aber der gemeinsame geschichtliche und kulturelle Urgrund muß uns alle ebenso als Gleiche bewußt werden lassen. Ich denke, dazu wird dieses Parlament beitragen. Ich hoffe, es wird dazu beitragen, daß wir die alten, die stereotypen nationalen oder parteilichen Freund-Feind-Bilder vor der Tür lassen.
Die europäischen Aufgaben können nur in einer Anstrengung gelöst werden, in der alle Völker und Staaten, alle Typen politischer Parteien, alle Klassen und die Angehörigen aller religiösen Bekenntnisse sich gleicherweise beteiligen. Europa besteht aus Christen und aus Juden, aus Katholiken und aus Protestanten, aus Katholiken verschiedener Bekenntnisse und aus Protestanten verschiedener Bekenntnisse, Europa besteht auch aus Freidenkern, Europa besteht aus Vielfalt. Und deshalb bedürfen wir Europäer der Tugenden der Liberalität und der Toleranz: der Toleranz nicht aus Gleichgültigkeit gegenüber den Überzeugungen und dem Glauben der anderen, sondern aus dem Willen zur Achtung der Überzeugungen und der Bekenntnisse der anderen.
Einer Ihrer Weggefährten, Herr Bundespräsident, Karl-Hermann Flach, hat einmal in dem Zusammenhang, den ich eben anzudeuten versuchte, vor den "Trompetenbläsern" gewarnt, die, wie er sagte, in dogmatischer Verengung erstarrte Strukturen wechselseitig – Trompete hier, Trompete dort – am Leben halten und damit den Aufbau ausgeglichener Gesellschaften verhindern. Sie selbst, Herr Bundespräsident, weisen oft auf die Notwendigkeit nüchterner, praktischer Arbeit hin, auf die Notwendigkeit der Kompromisse. Um wörtlich auszudrücken, was dieses Wort meint: auf Not-ab-wendende Kompromisse. Oft wird ja nicht verstanden, daß in Europa Kompromisse, einer auf den anderen, aufgebaut werden müssen. Insbesondere in Deutschland wird die Tugend des Kompromisses häufig als eine Untugend mißverstanden. Not-ab-wendende Kompromisse! Sei weisen häufig hin auf die Notwendigkeit, in Geduld voranzugehen, Schritt für Schritt voranzugehen.
Nun könnte niemand für längere Zeit variantenreich und zugleich unbeirrt seiner Linie folgen, wenn an deren Ende nicht ein Ziel stünde, das er im Auge hat und im Auge hält. Das Grundmuster der Bewegung, wie Sie sie meinen, ist erkennbar. Sie haben jüngst gesagt:
"Die Welt ist erfüllt von Spannungen. Spannungen sind das Gegenteil von Verständigung, von Gespräch. Wir mühen uns um Entspannung, und das heißt zunächst um Verständigung, um Gespräch."
Sie fragen nach dem Sinn des Gesprächs, und Sie sagten, es gibt ein politisches Ziel, das über allen Weltanschauungen, allen Gesellschaftsordnungen, Rassen und Religionen steht, nämlich Frieden.
Vision und realistische Politik: Gegenüber unseren östlichen Nachbarn heißt das gegenwärtig Entkrampfung und Entspannung, damit die Menschen wieder miteinander reden können, wie Nachbarn über den Gartenzaun miteinander reden; gegenüber unseren westlichen Nachbarn heißt dies fortschreitende Integration, Erweiterung und Ausgleich – bis eines Tages hin zur Union; gegenüber der Dritten Welt heißt dies internationale Solidarität; gegenüber Nordamerika heißt dies partnerschaftliche Mitverantwortung.
Und im Innern? Seit Walter Scheel Bundespräsident ist, hat er nicht aufgehört, die Bürger, die Gruppen, die Parteien auf das zu verpflichten, was für den Bestand eines demokratischen Gemeinwesens unerläßlich ist, nämlich auf die Bewahrung des demokratischen Grundkonsensus, die Aufrechterhaltung des Gesprächs unter allen, die diesen Grundkonsens teilen, die Achtung der Freiheit und der Individualität des anderen, der Person, und die Solidarität mit den Benachteiligten – Grundwerte, die wir alle mit Ihnen, lieber Walter Scheel, teilen.
Es wäre aussichtslos, wenn Sie diese Ihre Grundüberzeugungen, diese Werte, andern predigen wollten, wenn nicht Ihre Person in ihrem Tun und Lassen diese Werte zugleich glaubwürdig machte. Aber genau das tun Sie. Sie machen diese Werte glaubwürdig. Sie ebnen Wege, Sie finden Gemeinsames, Sie sprechen das versöhnliche Wort dort, wo es nötig ist. Gewiß, Ihr Amt fördert eine solche Rolle, die Konstruktion Ihres Amtes fördert eine solche Rolle. Aber – und ich glaube, das darf ich von Person zu Person so sagen – es ist nicht bloß Ihre Rolle, sondern Sie sind es selbst.
Toleranz, diese europäische Tugend, die oft genug mit Füßen getreten worden ist in der europäischen Geschichte, an vielen Orten Europas, haben Sie einmal definiert als eine "auf Distanz zu sich selbst beruhende Verbindung von Selbstbewußtsein und Bescheidenheit", und so, wie Sie Toleranz praktizieren, könnten wir auch noch hinzufügen: eine auf Distanz zu sich selbst beruhende Verbindung von Selbstbewußtsein und Bescheidenheit, ach von Humanität und schließlich von Selbstdisziplin.
Erhalten Sie, verehrter Herr Bundespräsident, diese Fähigkeiten sich selbst, erhalten Sie sie uns, Ihren Freunden, Ihren politischen Mitstreitern, uns, den Bürgern unseres Landes und den Bürgern Europas. Helfen Sie weiterhin, unser Europa friedlicher, solidarischer, brüderlicher zu machen.
In diesem Sinne spreche ich Ihnen meinen Glückwunsch aus.