Herr Bundespräsident,
dies ist nicht die erste Verleihung des Karlspreises, an der teilzunehmen ich die Ehre habe. Und doch bin ich immer wieder aufs Neue bewegt von dieser Feier, die gleichzeitig Auszeichnung für einen bedeutenden Vertreter des europäischen Gedankens in unserer Gegenwart und Huldigungen jene große Gestalt ist, die an den Anfängen unserer abendländischen Geschichte steht, an Karl den Großen. Worin eigentlich liegt die Anziehungskraft jenes Mannes, der uns in dieser Stadt, in diesem Saale, im Bannkreis jenes ehrwürdigen, sakralen Oktogons, das seinen Thron birgt, so lebendig begegnet? Ist es der Gedanke an Herrschaft, die ihre Legitimation tiefer schöpft als aus einem periodisch sich erneuernden Wahlkampf und Wahlakt? Ist es die Erinnerung an einen staatlichen Gründungsakt, der das christlich-antike Menschenbild in unseren barbarischen nördlichen Regionen so tief einpflanzte, daß es noch nach über einem Jahrtausend einen dramatischen und widerspruchsvollen Geschichte das unverwechselbare Kennzeichen unserer civitas europaea geblieben ist? Oder ist es die Vorstellung von einem ordo, der menschliche Gesittung aufblühen ließ und gesellschaftliches Zusammenleben ermöglichte, noch bevor die natio zum Bezugspunkt staatlicher Existenz und leider auch zum Keim blutiger Rivalitäten und Zerwürfnisse wurde? Nun, meine Damen und Herren, ein jeder von Ihnen wird andere Assoziationen mit dem Namen Karls des Großen verbinden. Doch es kann wohl kein Zweifel sein, daß von dem Werk jenes Mannes Kräfte ausgegangen sind, die unsere europäische politische Zivilisation tief geprägt haben und in ihr noch heute wirken. Liegt nicht in der Verpflichtung unserer demokratischen Staaten auf die Menschenrechte, die uns gerade heute als die gemeinsame Grundlage unserer freien westlichen Gesellschaftsordnung wiederum bewußt wird, ein Nachhall jener antik-christlichen Grundidee, daß die Förderung des geistigen und sittlichen Wohls des Menschen Hauptziel und -zweck staatlichen Handelns sein muß? Und auch jene in unserer Generation wiedergefundene Einsicht, daß diese gemeinsame Grundlage auch Verpflichtung zur Einheit Europas über die nationale Einzelstaatlichkeit hinaus bedeutet, ist doch auch eine säkularisierte Weiterentwicklung seiner Vision vom christlichen Reich oder, neutraler formuliert, von einer politisch verfaßten abendländischen Kulturgemeinschaft.
Es ist eines der hoffnungsvollen Zeichen unserer Epoche, daß diese Grundvorstellungen von gemeinsam verpflichtenden Menschenrechten und von der Notwendigkeit einer politischen Einheit Europas heute allen tragenden politischen Kräften Europas gemeinsam sind, seien es konservative, christlich, soziale oder liberale Demokraten. Die Männer, die Träger des Karlspreises sind, weisen dies aus, ich brauche ihre Namen nicht zu nennen. Heute haben wir uns zur Verleihung dieses Preises an einen Mann versammelt, der aus der liberalen Strömung er europäischen politischen Tradition hervorgegangen ist: Bundespräsident Walter Scheel. Er gehört zu jener Generation von Männern, die in ihrer Jugend die Verirrungen jenes sich selbst in maßlosem Größenwahn als "tausendjähriges Reich" proklamierenden Machtsystems erlebten und seinen totalen Zusammenbruch in Blut, Zerstörung und Chaos erfuhren. Er gehörte zu den ersten, die sich gerufen fühlten, daran mitzuwirken, aus dem Chaos eine neue Ordnung hervorzubringen, die die Rechte des Menschen vor die des Staates stellt und die Lebensinteressen des eigenen Staates in Harmonie mit denen der Umwelt zu verwirklichen sucht. Er stellte sich dem Wiederaufbauwerk früh zur Verfügung, zuerst in seiner Vaterstadt Solingen, dann im Landtag von Nordrhein-Westfalen, seit 1953 im Deutschen Bundestag. Von Anfang an gehörte er zu denjenigen in seiner Partei, die die Zukunft ihres Landes in einer festen Verankerung in einem europäischen Verband am besten gewährleistet sahen und deshalb die Politik der europäischen Integration vorbehaltlos unterstützten. In den parlamentarischen Gremien der Montanunion und hernach der Europäischen Gemeinschaft ragte er durch sein aktives Eintreten für integrationspolitische Fortschritte hervor. Als langjähriger Vorsitzender des Ausschusses für Fragen der Entwicklungsländer im Europäischen Parlament wirkte er an entscheidender Stelle bei der Gestaltung der Beziehungen der Gemeinschaft zu den Ländern Schwarzafrikas mit, einer der wenigen wirklichen Ruhmesblätter der Außenpolitik der Gemeinschaft.
Doch sein wesentlicher Beitrag zum Werden der Europäischen Gemeinschaft liegt in den Jahren, in denen er das Amt des Außenministers der Bundesrepublik Deutschland bekleidete. Bei ihm lag die Fortsetzung der entschlossenen Integrationspolitik der Regierungen Adenauer, Erhard und Kiesinger in zuverlässigen Händen. Als Mitglied des Rats der Europäischen Gemeinschaft hatte er hervorragenden Anteil am Zustandekommen des Beschlusses über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien, Dänemark und Irland, die noch in seiner Amtszeit zum Ergebnis führten. In seine Amtszeit fiel auch der Luxemburger Beschluß über die Aufnahme regelmäßiger politischer Konsultation mit dem Ziele der Schaffung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft. Andere wichtige Beschlüsse wie die Einigung über eine Außenhandelspolitik der Gemeinschaft gegenüber den Staatshandelsländern, über die Schaffung eigener Einnahmen der Gemeinschaft und über einen Stufenplan zur Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion, verdanken ihm entscheidende Impulse. Er hatte erkannt, daß die Bemühungen der Regierung Brandt um einen Ausgleich mit der Sowjetunion im Zuge der Entspannungspolitik nur erfolgversprechend waren auf der Grundlage einer festen Verankerung der Bundesrepublik in dem sich zusammenschließenden Europa und in der atlantischen Allianz, und er tat sein äußerstes, dieser Politik gegenüber dem Westen Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit zu erhalten.
Diesem Grundtenor seiner außenpolitischen Überzeugungen ist der Politiker Walter Scheel auch als Bundespräsident treu geblieben. Schon vor seinem Amtsantritt hatte er geschrieben, er wolle ein Präsident in Europa sein; seine Ansprachen während seines Staatsbesuchs in Paris und bei anderen Anlässen bezeugen sein fortdauerndes Engagement für Europa. Mancher Europäer mag es bedauert haben, daß Walter Scheel mit seiner Wahl in das hohe Amt aus den Reihen der aktiven Mitstreiter für Europa ausschied; aber es hat seine hohe Bedeutung, wenn der oberste Repräsentant der staatlichen Souveränität der Bundesrepublik sich nicht scheut, von einer Verfassung für Europa zu sprechen, und damit über die nationalstaatliche Souveränität, die er verkörpert, hinausweist. Gerade an dem Felsenriff der Souveränität zerschellen ja immer wieder auch die bescheidensten Versuche, die politische Identität Europas stärker zu profilieren. Noch hat niemand in Europa den Mut, Souveränitätsrechte auf die Gemeinschaft zu übertragen, geschweige denn, die Souveränität der neun Einzelstaaten einzubringen in eine höhere europäische. Manchmal ist man versucht zu bedauern, daß der einfache und so schöne menschliche Weg, den das dynastische felix Austria eine Zeitlang gegangen ist, um seinen Traum von der Wiederherstellung der europäischen Einheit unter einer Souveränität zu verwirklichen, heute nicht mehr gangbar ist; aber dennoch ist es nicht müßig, darauf hinzuweisen, daß auch Staatsoberhäupter eine wichtige Funktion für Europa erfüllen können, wenn sie zur Einheit mahnen; es wäre einiges gewonnen, wenn sich alle Staatsoberhäupter der neun Staaten hierauf verständigen könnten.
Wir sind Bundespräsident Scheel jedenfalls dafür dankbar, den Gedanken einer europäischen Verfassung wieder ins europäische Gespräch gebracht zu haben. Sicher ist die Zeit noch nicht reif für umfassende Lösungen solcher Art, wie sie Anfang der fünfziger Jahre bereits erfolglos versucht wurden; aber es erscheint mir durchaus nicht zu früh, über einige Aspekte der institutionellen Weiterentwicklung der Gemeinschaft verstärkt nachzudenken. Die Diskussion über die verschiedenen Wege nach Europa ist in den letzten 25 Jahren mitunter recht doktrinär verlaufen. Als das ambitiöse Verfassungsprojekt des Ad-hoc-Ausschusses scheiterte, gewann das Argument von den Sachzwängen die Oberhand, die quasi automatisch zur Einbeziehung immer neuer Materien in die Gemeinschaftskompetenz führen und schließlich auch staatsanaloge Entscheidungsmechanismen hervorbringen würden. Dann beherrschte die abstrakte Kontroverse über Konföderation oder Föderation einige Jahre das Feld, bis man ihre Sterilität erkannte. Schließlich errang die These vom "vitalen Interesse" allgemeine Anerkennung, wonach wichtige Entscheidungen nur im Wege des Konsensus getroffen werden dürften; sie bestimmt die Wirklichkeit der Entscheidungsfindung in der Gemeinschaft noch heute, obwohl sie die in den Römischen Verträgen grundgelegten Regeln über Mehrheitsentscheidungen unberücksichtigt läßt.
Inzwischen mehren sich wieder die Stimmen, die in diesem Zustand das Kernübel der allgemein beklagten Handlungsunfähigkeit der Gemeinschaft sehen. In der Tat sind die ergebnislosen Dauerpalaver im Rat der Gemeinschaften auch über Fragen untergeordneter Bedeutung – ich erinnere nur an die Standortentscheidung für den Joint European Torus! – für die Öffentlichkeit Europas längst zum Ärgernis geworden. Sie haben eine Indifferenz, ja Verachtung gegenüber der Integrationspolitik erzeugt, die auf die Dauer tödlich sein müssen. Wenn die europäischen Regierungen ihre eigenen Proklamationen über die Einheit Europas ernstnehmen und glaubwürdig bleiben wollen, müssen sie hier auf wirksame Abhilfe sinnen. Dies ist um so dringlicher, als der Beitritt weiterer Mitglieder, dem sich die Gemeinschaft aus politischen Gründen nicht wird entziehen können, unerbittlich zum Stillstand des Integrationsprozesses führen würde, wenn weiterhin jeder einzelne Mitgliedstaat entgegen dem klaren Wortlaut der Römischen Verträge in jeder beliebigen Frage eine Einigung durch sein Veto auf unbegrenzte Zeit blockieren könnte.
Es ist nicht meine Aufgabe, hier und heute auf Möglichkeiten der Abhilfe hinzuweisen. Ein Hinweis allerdings liegt nahe, nämlich der auf die Entscheidungsregeln der Gemeinschaftsverträge, die man auch anders als durch Nichtbeachtung honorieren könnte. Der Tindemans-Bericht enthält weitere bedenkenswerte Anregungen in dieser Richtung. Auch scheint mir, daß es guttäte, der Kommission ihre zentrale Rolle im Entscheidungsprozeß der Gemeinschaft nicht mehr streitig zu machen. Die herabsetzende Qualifizierung der Männer der Kommission als unpolitische Technokraten verringert nicht nur die Autorität ihrer Vorschläge und schwächt damit das wichtigste, auf das Wohl der ganzen Gemeinschaft bezogene Organ der Gemeinschaft; sie ist im Hinblick auf Werdegang und frühere Rolle einiger ihrer hervorragendsten Mitglieder schlicht unzutreffend. Immerhin ist einer ihrer ehemaligen Vizepräsidenten heute Ministerpräsident eines großen Mitgliedstaates der Gemeinschaft. Es sollte im Gegenteil erwogen werden, ob die Rolle der Kommission nicht dadurch gestärkt werden könnte, daß man ihrem Präsidenten den Vorsitz im Rat der Gemeinschaften überträgt, denn es hat sich inzwischen doch wohl erwiesen, daß die landläufige Annahme, integrationspolitischer Ehrgeiz veranlasse die jeweiligen turnusmäßigen Ratspräsidenten zu besonderen Anstrengungen bei der Kompromißfindung, durchaus nicht generell, sondern eher in glücklichen Ausnahmefällen zutrifft.
Immerhin ist in der Entwicklung der Gemeinschaftsinstitutionen im letzten Jahr mit dem Beschluß über die Direktwahlen zum Europäischen Parlament ein wichtiger Fortschritt erzielt worden. Noch ist seine Verwirklichung leider nicht überall gesichert; sein Scheitern würde einen Rückschlag von großer Tragweite bedeuten. Es muß deshalb alles daran gesetzt werden, daß die Wahlen 1978 in allen Gemeinschaftsländern stattfinden können und zu einem Parlament führen, das für die öffentliche Meinung unserer Länder in seiner Zusammensetzung repräsentativ und politisch von wirklichem Gewicht ist. Schon die Tatsache dieser Wahl wäre von großer psychologischer und politischer Bedeutung. Sie würde unseren Völkern das Vertrauen in die Zukunft der europäischen Einheit zurückgeben und sie näher an die Gemeinschaft heranführen. Dies könnte zu ganz neuen Impulsen in der Herstellung eines neuen Gleichgewichts zwischen den kommunitären und den partikulären Einflüssen in den Gemeinschaftsorganen führen und die Suche nach besseren institutionellen Lösungen vorantreiben.
Vor allem nötig ist jedoch, daß die Regierungen, die sich zu diesem Schritt entschlossen haben, nicht mit der anderen Hand wieder nehmen, was sie mit der einen Hand gegeben haben. Ein mit einem direkten Mandat ausgestattetes Europäisches Parlament wird auf die Dauer nur dann Sinn haben, wenn ihm erlaubt wird, seine Rolle im europäischen Entscheidungsprozeß voll zu spielen. Dann wir des nicht ausbleiben, daß sich in diesem Parlament mindestens in den Wirtschafts- und Sozialfragen im weitesten Sinne Kombinationen von politischen Kräften und Interessengruppen über die nationalen Gruppierungen hinweg bilden, die sich auch gegenüber den von den Regierungen im Rat vertretenen nationalen Positionen zur Geltung bringen. Ein solches Korrektiv ist seit langem notwendig; denn es ist doch nicht zu übersehen, daß das von den Regierungen im Rat vertretene sogenannte nationale Interesse oft nicht anderes als einen im nationalen Rahmen mühsam erzielten Kompromiß darstellt, an dem oft nur wegen sonst zu befürchtender Rückwirkungen auf die nationale Politik eisern festgehalten wird, auch wenn er nicht unbedingt im besten Interesse aller Bürger der Gemeinschaft liegt.
Natürlich ist nicht zu übersehen, daß damit das bisher ungeschmälerte Recht der Regierungen auf die ausschließliche Definition und Vertretung der Interessen ihrer Staatsbürger eingeschränkt wird. Aber, meine Damen und Herren, führen wir doch einmal alle Bedenken, Ausflüchte und Besorgnisse gegenüber weiteren Integrationsschritten auf den wesentlichen Kern zurück: Wollen wir die Einheit Europas, oder wollen wir sie nicht? Ich glaube, keine von Ihnen, der aus dem heutigen Anlaß hierher in die Stadt Karls des Großen gekommen ist, wird diese Frage im negativen Sinne beantworten wollen. Die Einheit Europas muß Wirklichkeit werden! Für Robert Schuman und die europäischen Politiker seiner Generation war wohl die wichtigste Motivation für ihren Einsatz für die Einheit Europas die Sicherung des Friedens zwischen den europäischen Nachbarn, deren Rivalitäten Europa durch viele Jahrhunderte immer wieder in blutige Auseinandersetzungen gestürzt haben. Dieses Ziel ist heute erreicht; ein Krieg zwischen den Staaten Westeuropas erscheint heute schlechthin ausgeschlossen. Aber inzwischen sind in der Welt ganz neue, ebenso kardinale Herausforderungen aufgetreten, die ebenfalls fundamentale Lebensinteressen unserer Länder bedrohen. Unsere gewaltig expandierten Volkswirtschaften, die Quelle unseres Wohlstandes und unserer politischen und sozialen Stabilität, leben von einer freien und ungestörten Entwicklung der Weltwirtschaft und des Außenhandels und sind in wachsendem Maße auf die Einfuhr von Rohstoffen und Energie, an denen unser Kontinent arm ist, angewiesen. Krisen in anderen Teilen der Welt können, wie uns die Mittelost-Ereignisse des Jahres 1973 gezeigt haben, unseren Wohlstand, ja unsere Existenz bedrohen.
Dabei ist der Einfluß der einzelnen Staaten Europas, ja selbst der seiner früheren Großmächte, die noch vor fünfzig Jahren das Weltgeschehen weitgehend lenkten, in der Welt von heute überall zurückgegangen; unter den nahezu 150 Staaten dieser Erde spielen unsere Länder nur noch eine Rolle neben anderen. Keiner der neun Staaten der Gemeinschaft hat heute noch die Möglichkeit, für sich allein Wohlstand und Sicherheit seiner Bürger gegenüber den großen Entwicklungen in der Welt von heute zu gewährleisten. Eine Politik des sacro egoismo, des "Rette sich, wer kann", könnte allenfalls für kurze Zeit helfen, würde aber angesichts der engen Verflechtung unserer Volkswirtschaften untereinander und mit der Weltwirtschaft den Niedergang aller nur beschleunigen. Nur kraftvolles gemeinsames Handeln, das das gesammelt noch immer beträchtliche Gewicht Europas in die Waagschale wirft, hat Aussicht, unsere Interessen mit Erfolg zur Geltung zu bringen. Von der übrigen Welt wird "Europa", d. h. unsere Gemeinschaft der Neun, übrigens bereits im viel stärkeren Maße als Einheit gesehen, als wir selbst dies tun. Ob wir es wollen oder nicht: Unsere Länder sind im Weltgeschehen bereits zu einer Schicksalsgemeinschaft geworden, und es liegt nur an uns selbst, ob wir eine Gemeinschaft nur im passiven Hinnehmen oder auch im aktiven Handeln sein wollen. Aktives Handeln aber setzt einen einheitlichen Willen voraus; dieser kann nur gebildet werden, wenn nach Abwägung aller divergierenden Meinungen und Standpunkte letztlich eine Instanz verbindlich entscheidet. In jedem Verein, jedem Unternehmen, jeder politischen Gebietskörperschaft wie natürlich in jedem Staat gibt es Verfahrensregeln, Verfassungen, die es erlauben, daß der legitime Streit der Meinungen letztlich durch den Spruch einer Instanz beendet und ein Lösungsvorschlag zur Geltung erhoben wird. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Europa ohne eine solche letzte Entscheidungsinstanz auf die Dauer auskommen kann und lediglich aus dem kontinuierlichen Verhandeln von neun gleichberechtigten und gleich hartnäckigen Regierungen heraus je zu einheitlichem Wollen und Handeln gelangen wird.
Oft wird von jenen, die die letztinstanzliche Entscheidungsgewalt in Europa ausschließlich den neun nationalen Regierungen überlassen möchten, eingewandt, nur diese trügen die letzte politische Verantwortung für ihre Staatsbürger, und die Vielfalt der Nationen sei die eigentliche Quelle des geistigen, kulturellen und wirtschaftlichen Reichtums Europas und seiner Innovationskraft. Nun, es wäre schließlich auch denkbar, daß für die Sachbereiche, die in europäische Kompetenz übertragen sind oder noch werden, auch die europäischen Institutionen mit direkter politischer Verantwortung ausgestattet werden, die Direktwahl zum europäischen Parlament ist ein erster Schritt auf diesem Wege. Daß die Pluralität der historisch gewachsenen Nationen für Europa eine Quelle der Kraft und des Reichtums bedeutet, wird niemand leugnen wollen: Aber Einheit und Pluralität der Regionen und Stämme innerhalb der meisten unserer neun Nationen, die sich heute ihrer Identität z. T. wieder stärker bewußt werden, ohne ihre Integration in einen nationalen Verband in Frage zu stellen. Niemand will auch einen zentralistischen Superstaat Europa; es geht lediglich darum, die optimale Wahrnehmung jener fundamentalen Interessen durch einen einigermaßen kraftvollen Entscheidungsträger zu siecher, die allen Bürgern Europas gemeinsam sind, ohne die Individualität der Nationen und Regionen Europas anzutasten.
Lassen Sie mich auch ein Wort zur Sicherheit Europas sagen. Als Generalsekretär der Atlantischen Allianz, die unsere Sicherheit im engen Zusammenwirken mit den Vereinigten Staaten verbürgt, habe ich mich in der Vergangenheit oft gefragt, wie manche europäische Staatsmänner, die sich als Realisten bezeichnen, ihre Kritik an der Rolle der USA in Fragen der europäischen Sicherheit mit ihrer oft sehr reservierten Stellung gegenüber dem Prozeß der europäischen Einigung zu vereinbaren vermögen. Ich brauche nicht immer wieder zu betonen, was ich bei anderen Gelegenheiten oft gesagt habe: Dem freien Europa steht die in Qualität und Quantität stetig wachsende Militärmaschine der Sowjetunion gegenüber, die es der Sowjetführung ungeachtet der unzureichenden Leistungen des Sowjetsystems auf vielen anderen Gebieten ermöglicht, ihre ideologischen und nationalen Ziele gegenüber Europa expansiv zu verfolgen. Gegenüber dieser wachsenden Macht der Sowjetunion kann es für Europa prinzipiell doch nur zwei sinnvolle Alternativen geben:
Entweder eine eigene adäquate Gegenmacht in Form einer ausreichenden Verteidigung aufzubauen, die ohne eine reaktionsfähige oberste europäische Handlungsinstanz nicht denkbar ist, oder die Sicherheit Europas dem Schutz der Abschreckung durch die amerikanische Nuklearmacht und der konventionellen Stärke des westlichen Bündnisses anzuvertrauen. Sicher wäre es theoretisch denkbar, daß Europa, mit einer Bevölkerung, die der der Sowjetunion in etwa entspricht, und einem Bruttosozialprodukt, das das sowjetische übersteigt, seine Verteidigung selbst organisiert; dazu wäre jedoch größere Solidarität in der Einschätzung der Lage und in der Konzeption der Verteidigungsstrategie, ein weitaus größeres Verteidigungspotential als das zur Verfügung stehende, eine glaubwürdige eigenständige nukleare Abschreckung und vor allem eine reaktionsfähigere gemeinsame politische Leitungsinstanz mit Zuständigkeit auch für Sicherheitsfragen erforderlich, als Europa sie heute darzustellen willens und in der Lage ist. Nur die Einbettung unserer Verteidigung in die Solidarität des Bündnisses mit den USA vermag daher mindestens unter den derzeitigen Umständen unsere Sicherheit zu garantieren. Denn selbst wenn wir die schier unüberwindlichen Schwierigkeiten, die der Zusammenfassung der britischen und französischen Nuklearstreitkräfte unter einen einheitlichen Oberbefehl entgegenstehen, einmal außer Acht lassen, würde das europäische nukleare Potential nicht ausreichen, die sowjetische Nuklearmacht glaubwürdig abzuschrecken. Die nukleare Schutzzusage der USA wird deshalb auf sehr lange Dauer der letzte Garant unserer Sicherheit bleiben müssen. Daher ist letztlich eine zuverlässige Sicherheitspolitik für Europa nur im Zusammenwirken mit den USA möglich; eine engere verteidigungspolitische Zusammenarbeit der Europäer muß dies berücksichtigen. Sie muß deshalb für die Abstimmung in allen wesentlichen gemeinsamen Fragen mit den nicht zur Gemeinschaft gehörenden Allianzpartnern und vor allem mit den Amerikanern offen bleiben, da sie letztlich für unsere Sicherheit mit ihrer Existenz bürgen.
Mir würde es im übrigen auch höchst kurzsichtig erscheinen, Gegensätze zwischen europäischer Einheit und atlantischer Zusammenarbeit zu konstruieren. Der Versuch, Polemik gegen vermeintliche Hegemoniebestrebungen der USA zum Instrument einer Politik für ein sogenanntes "europäisches" Europa zu machen, hat sich inzwischen wohl für alle deutlich als Irrweg erwiesen; er hat die Europäer untereinander nicht geeint, sondern eher entzweit. Im übrigen wird heute niemand behaupten können, die Beziehungen zwischen den USA und Europa seien durch Hegemonie gekennzeichnet. Die Staaten Europas vertreten ihre Interessen gegenüber den USA mitunter recht robust - ich will keine Beispiele nennen -, und auch die Amerikaner sind nach dem Vietnam-Debakel, das ihnen die Grenzen ihrer Macht dramatisch demonstriert hat, mehr denn je vom Wert und von der Notwendigkeit einer partnerschaftlichen Beziehung zu Europa überzeugt. Damit haben sich auf beiden Seiten des Atlantik die Voraussetzungen für eine konstruktive Zusammenarbeit ohne Minderwertigkeitskomplexe und Empfindlichkeiten, wie sie gleichrangigen Partnern angemessen ist, nur noch verbessert.
Auf diese Zusammenarbeit, meine Damen und Herren, sind wir Europäer heute mehr denn je angewiesen. Die Werte, denen wir Europäer uns verpflichtet fühlen und auf die wir stolz sind, werden in der Welt von heute auf vielfache Weise angefochten und in Frage gestellt. Wir müssen nicht nur nach Osten blicken, um festzustellen, daß Menschenrecht und Menschenwürde und ihre Sicherung in einer freiheitlichen Demokratie, die das Erbgut unserer europäischen Tradition sind, in vielen Ländern dieser Erde mißachtet werden; in der weltweiten Auseinandersetzung zwischen dem System einer kollektivistischen Staatsallmacht und unserer auf den Menschen bezogenen freiheitlichen Gesellschaft dürfen wir nicht in der Defensive bleiben; denn es geht dabei letztlich nicht nur um die bessere ökonomische Ordnung, sondern um die weitere Geltung unserer fundamentalen geschichtlichen Lebensform in der Zukunft und damit um die Fortdauer unserer geistigen Existenz und Identität. Diese Grundsätze können auch durch unser eigenes Verschweigen ausgehöhlt und schließlich zu Falle gebracht werden, ohne daß die physische Macht unserer Gegner uns zu überwältigen brauchte. Darum ist es notwendig, daß die Erinnerung an die geschichtlichen Wurzeln unserer staatlichen Existenz auch durch eine Feier wie die heutige neue Kräfte für den Einsatz für unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung weckt.
Meine Damen und Herren, ich habe heute einmal ausführlicher über die Probleme der Europäischen Gemeinschaften gesprochen, als ich dies in meinem derzeitigen Amt sonst zu tun pflege. Aber dies kann nicht anders sein bei der Verleihung des Karlspreises, der ja für die Einheit Europas gestiftet wurde, an Bundespräsident Walter Scheel, der sich um dieses Probleme Zeit seines Lebens als deutscher Politiker bemüht hat. Ein Stück dieses seines Weges durfte ich mit ihm gemeinsam gehen, und ich bin deshalb besonders beglückt, daß mir die Ehre übertragen wurde, für ihn heute die Laudatio zu halten. Ich schulde ihm aus diesen Jahren auch persönlichen Dank für manchen Rat und manche Unterstützung und – mehr noch – für die persönliche Freundschaft, die er mir entgegengebracht hat. Daß Walter Scheel jetzt den Karlspreis empfangen hat, macht diesen Preis für alle seine Träger und damit auch für mich noch wertvoller.
Lassen Sie mich schließlich die Hoffnung aussprechen, daß es gelingen wird, das freie Europa auf der Grundlage der Menschenrechte, der Freiheit und der Demokratie zu einem mächtigen Gemeinwesen auszubauen, ein Europa, das fähig ist, seine Lebensinteressen kraftvoll und der Zukunft zugewandt wahrzunehmen. Nicht zuletzt darum tun wir gut daran, unsere europäische Zukunft einzubetten in ein enges Zusammenwirken mit den übrigen Staaten der Atlantischen Allianz, die sich heute ausnahmslos zu den gleichen Grundsätzen bekennen wie wir. Mit einer solchen Haltung werden wir heute, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, dem Erbe gerecht, das uns Karl der Große hinterlassen hat.