"Der Karlspreis der Stadt Aachen", so bestimmt die Satzung der für seine Verleihung im Jahre 1949 ins Leben gerufenen Gesellschaft, "wird alljährlich verliehen für die beste Leistung im Dienste der Verständigung und der internationalen Zusammenarbeit im europäischen Raum. Ziel ist die Förderung der Vereinigten Staaten von Europa durch den sich jährlich wiederholenden Appell an die öffentliche Meinung". Der Erreichung dieses Zieles diente die erste Preisverleihung am Himmelfahrtstage 1950 an den Mann, der schon wenige Jahre nach dem ersten Weltkrieg die Völker Europas zur Einigung aufrief: Graf Richard Coudenhove-Kalergi. So wie in den meisten seither vergangenen Jahren hat auch heute wieder die Stadt Aachen eine große Zahl von Gästen hierher gebeten, um im Krönungssaale ihres altehrwürdigen Rathauses der feierlichen Preisverleihung beizuwohnen, die gleichzeitig auch wieder, wie die Satzung es vorschreibt, Gelegenheit geben soll, einen ernsten und dringenden Appell an alle Verantwortlichen zu richten mit angespannten Kräften fortzufahren und nicht zu erlahmen in den Bemühungen um den Zusammenschluß der Völker Europas. Wir sind beglückt darüber, daß viele unserer Einladung gefolgt sind. Ich habe die Ehre, Sie alle namens der Stadt Aachen willkommen zu heißen.
Mein erster Gruß gilt - (Es folgen Namen der Ehrengäste - siehe beiliegende Sonderliste)
Erinnern wir uns an die von mir soeben erwähnte erste Preisverleihung, dann vergegenwärtigen wir uns auch den Optimismus, der damals alle diejenigen beseelte, die Europas Einigung herbeisehnten. Zur gleichen Zeit trat Robert Schuman mit dem Plan der Begründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl an die Öffentlichkeit, dessen schnelle Verabschiedung den Optimisten Recht zu geben schien. Recht gab ihnen auch die allenthalben hervortretende Begeisterung weiter Kreise für eine schnelle Verwirklichung der europäischen Einigung. Dieser großartige Elan konnte nicht zum Erlahmen gebracht werden durch das Scheitern des Planes der europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Der Abschluß der Römischen Verträge schuf die Grundlage für weitere bedeutsame Fortschritte auf wirtschaftlichem Gebiet. Die praktische Durchführung aller Vereinbarungen machte zwangsläufig die ständige Zusammenarbeit der beteiligten Länder erforderlich, woraus sich eine fortlaufende persönliche Fühlungnahme ergab, die ebenfalls wieder die Grundlage einer weiteren Annäherung schafft. Die Tatsache, daß auf parlamentarischer und auf administrativer Ebene fortgesetzt gemeinsam beraten, beschlossen und ausgeführt wird, kann nicht hoch genug bewertet werden.
Trotz dieser positiven Faktoren können wir aber nicht leugnen, daß die erzielten Fortschritte uns durchaus ungenügend, daß das Tempo uns unbefriedigend erscheint. Oder müssen wir vielleicht heute rückblickend eingestehen, daß wir im Jahre 1950 einem irrealen Wunschdenken verfallen waren, das vor einer nüchternen Betrachtungsweise nicht bestehen kann? Haben vielleicht die Neunmalklugen recht, die uns belehrend darauf hinweisen, daß in der Vergangenheit vergleichbare geschichtliche Entwicklungen Jahrhunderte in Anspruch genommen haben? Brauchten doch selbst die durch keine gewichtige historische Überlieferung belasteten jungen Völker des nordamerikanischen Kontinents fast ein Jahrhundert, ehe sie sich in der uns heute so selbstverständlich erscheinenden Form zusammengeschlossen hatten. Wieviel Zeit muß man da nicht erst uns Europäern zugestehen, nachdem wir uns doch in einer langen Geschichte immer mehr auseinander gelebt und voneinander abgeschlossen haben! Und dabei haben wir dieses Abschließen vom andern mit einer solchen Perfektion betrieben, daß wir gegen jede Vernunft Industrien aufgebaut haben, die ihre einzige Existenzberechtigung darin hatten, daß sie uns vom Nachbarn, der das gleiche Produkt besser und billiger herstellen kann, unabhängig machen sollten. Wir bauten mit großem Aufwand auf eigenem Territorium Straßen, Eisenbahnen und Kanäle, um nur ja nicht auf die Benutzung der kürzeren, besseren und billigeren Wege auf dem Hoheitsgebiet des Nachbarn angewiesen zu sein.
Weil diese Industrien nicht lebensfähig waren, mußten wir dann hohe Zollmauern errichten, um unsere eigenen Völker zu zwingen, ihre überteuerten Erzeugnisse zu konsumieren und auf die Wehrgänge dieser Mauern stellten wir ein Heer von ausgewachsenen Männern, deren Berufsaufgabe darin besteht, daß sie das bessere und billigere Produkt des Nachbarn von uns fernhalten. Das alles gibt es noch im Jahrhundert des Fortschritts, im 20. Jahrhundert. Wir bemühen uns mit vollem Recht darum, mit Hilfe unserer besten Wissenschaftler alle Möglichkeiten einer Verbilligung der industriellen Fertigung auszuschöpfen, um den arbeitenden Menschen zu entlasten und ihm ein leichteres und besseres Dasein zu gewährleisten, und zur gleichen Zeit verzichten wir darauf, auf der Straße liegende Milliardenbeträge uns nutzbar zu machen, indem wir den zwischenstaatlichen Warenverkehr von den Vorurteilen einer langjährigen Fehlentwicklung befreien.
Seit dem Weltkriege haben viele Länder, gerade bei uns, sich sehr darum bemüht, die Jugend zueinander zu führen, damit der Blick sich weiten und die Kenntnis aus eigener Anschauung auch ein besseres Verstehen herbeiführen sollte. Ein lobenswertes Beginnen, an dem jedes Volk Interesse finden sollte. Aber welches sind nun die Folgen, die sich praktisch für den Einzelnen ergeben? Ich beziehe mich auf ein Beispiel, das eine angesehene deutsche Wochenschrift kürzlich brachte: Da zog vor einigen Jahren eine junge Straßburgerin mit ihrem Mann, einem Schweizer, nach Hamburg. Sie war Studentin der Medizin und hatte in Straßburg ihr Physikum gemacht. Langes Hin und Her, bis die Hamburgische Universität die Zwischenprüfung anerkannte. Die junge Frau bestand dann auch ihr Staatsexamen. In Deutschland darf sie nun nicht praktizieren, weil sie keine Deutsche ist, in Frankreich darf sie nicht praktizieren, weil sie deutsche Examina gemacht hat. In der Schweiz, wohin sie schließlich mit ihrem Mann zog, wird nicht einmal ihr französisches Abitur anerkannt. Wenn sie sich dort als Medizinerin bestätigen will, muß sie auf der Schulbank neu anfangen. So sieht die Ermutigung aus, die wir unserer Jugend geben, die über den eigenen Gartenzaun hinwegblicken möchte! Wir haben uns wirtschaftlich voneinander abgeschlossen, wir haben unsere Verkehrswege nicht aufeinander abgestimmt und wir erschweren heute noch der Jugend den Weg zu einer möglichst universalen Ausbildung. Auf vielen Gebieten unserer wissenschaftlichen Forschung gehen wir eigene Wege und streben mit Eifer danach, möglichst "vor dem anderen", einen Vorsprung zu gewinnen. Wenn wir unsere Kinder mit der Vergangenheit vertraut machen, dann nehmen in diesem Geschichtsunterricht die Kriege, die uns in so heillose Gegensätze gebracht, den breitesten Raum ein. Eine gewonnene Schlacht ist von größter Bedeutung bis auf den heutigen Tag und ein verlorener Krieg war ein von uns nicht zu verantwortendes Mißgeschick. Man hat uns eben Unrecht getan, und das konnten wir natürlich nicht hinnehmen, denn das verträgt unsere berechtigter nationaler Stolz nicht.
Diese und ähnliche Weisheiten sind nicht auf dem Boden eines einzigen Landes gewachsen, man kann sie vielmehr in jedem dieser alten Kulturländer vernehmen, wo wahrhaftig genügend zu sagen wäre von den großartigen kulturellen Leistungen des einen und des anderen, die in ihrer Summe doch den Grund dafür darstellen, daß dieses Europa für uns liebenswert ist, und daß wir trotz aller Kriege und aller nationalen Verirrungen stolz auf unsere gemeinsame Vergangenheit sein dürfen und auch sind.
Wir gingen von der Frage aus, ob der Optimismus, der bei den Freunden eines europäischen Zusammenschlusses im Jahre 1950 herrschte, irreal gewesen sei und ich gebe gern zu, daß die nüchterne Wertung aller dieser von mir selbst zitierten Gegebenheiten, eine Bejahung dieser These nahelegen könnte. Und trotzdem bin ich der Auffassung, daß die Ungeduld und das Drängen jener Epoche sehr viel realer waren als das heute mancherorts üblich gewordene Zaudern, das vor lauter Bedenken einen echten Fortschritt kaum mehr aufkommen läßt. Die Fortschritte, die heute noch gemacht werden, liegen in den Auswirkungen der Verträge, die früher abgeschlossen wurden. Aber selbst hier liegt manches im Argen. So haben sich die beteiligten Regierungen bis zum heutigen Tage nicht auf einen gemeinsamen und definitiven Sitz der europäischen Institutionen einigen können.
Wenn ich der Ansicht bin, daß diese Ungeduld der ersten Jahre sehr viel realer war, als die heute vielfach festzustellende Haltung, dann gründet sich meine Auffassung nicht auf irgendwelchen emotionalen Aufwallungen, sondern auf einer sehr nüchternen Analyse unserer Lage. Im politischen Raum ist es geradezu eine Binsenwahrheit, daß die Entwicklung der letzten fünfzig Jahre von den ehemaligen europäischen Großmächten nichts übrig gelassen und sie ausnahmslos degradiert hat. Im weltpolitischen Geschehen mitzusprechen wird ihnen künftig nur mehr möglich sein, wenn sie gemeinsam auftreten und sich nicht der Gefahr des von jeher so vielversprechenden divide et impera der Weltmächte aussetzen. Das gemeinsame Handeln in der Politik kann aber nicht auf der herkömmlichen Basis der Bündnisse souveräner Nationalstaaten erfolgen, diese ist viel zu brüchig, als daß sie allen möglichen Belastungen standhalten könnte. Nur ein aus gemeinsamen Wahlen hervorgegangenes Parlament und eine von diesem bestellte Exekutive gibt die Gewähr für eine tragfähig Willensbildung, die auch wirklich die Interessen der Gesamtheit in gebührender Weise nach außen vertreten kann. Dadurch wird auch die Gefahr vermieden, daß wir uns in der Erfüllung wichtiger Aufgaben verzetteln.
Nehmen wir als Beispiel doch nur das Gebiet der kulturellen Repräsentation gegenüber den Völkern der anderen Erdteile. Es ist ein ernstes und wichtiges Anliegen, die jungen Völker mit unserer Kultur bekanntzumachen. Zweifellos interessieren dort aber niemanden die Unterschiede in den kulturellen Leistungen der europäischen Nationalstaaten. Es ist schon allein aus materiellen Gründen ganz unmöglich, daß die einzelnen Länder im Alleingang in der Erfüllung dieser gegenüber einer Vielzahl von Völkern sehr dringend gewordenen Aufgabe, zu hinreichenden Erfolgen kommen. Ganz anders würde das aber aussehen, wenn wir unsere nationalen Möglichkeiten zusammentäten und dazu kämen, in den anderen Erdteilen ein repräsentatives Bild europäischer Kultur zu bieten. Es ist mehr als lächerlich, daß wir hier die nationale Ambition noch den Ausschlag geben lassen, haben wir doch allen Grund dazu, gleichmäßig stolz zu sein auf die gelungene Leistung einer italienischen Oper, eines französischen Schauspiels oder eines deutschen Konzerts.
Von sehr großer Bedeutung ist auch bei der Beurteilung dieser Probleme die Erfüllung unserer materiellen Verpflichtungen gegenüber den jungen Völkern. Es steht wohl außer Frage, daß uns allen hierfür sehr große Leistungen abgefordert werden. Wir können und wir wollen uns diesen nicht entziehen, wir möchten sie aber nach Möglichkeit nicht mit einer Verschlechterung des Lebensstandards unserer eigenen Länder bezahlen. Wenn wir uns einmal ansehen, welche Riesensummen die Vereinigten Staaten von Amerika unter Beibehaltung eines sehr hohen Lebensstandards im eigenen Lande für Auslandshilfe schon seit vielen Jahren aufgebracht haben, dann dürfen wir daraus schließen, daß ähnliches auch uns möglich sein müßte. Allerdings haben die Amerikaner ihre Wirtschaft zu dieser Leistungsfähigkeit gebracht, indem sie auf all den Luxus, der mit unserer Kleinstaaterei verbunden ist, verzichtet haben; sie haben aus ihren 48 Staaten ein einheitliches Absatzgebiet gemacht und damit große Produktionseinheiten schaffen können und jeweils ihre Industrien an den von der Natur gegebenen günstigsten Standorten unter vorteilhaftesten Bedingungen arbeiten lassen.
Ein imposantes Beispiel für die unter solchen Bedingungen gegebenen Erfolgsmöglichkeiten stellt auch die Sowjetunion dar. Die Konzentration aller Anstrengungen auf bestimmte Ziele hat zu Ergebnissen geführt, die der Welt alle Achtung abnötigen. Wir sehen auch dort eine Entwicklung, die nur dadurch zustande kommen konnte, daß die Union der Sowjetrepubliken keine Zersplitterung duldet und in einer klugen Planung sich nicht von den gesteckten Zielen ablenken läßt. Dies ist um so beachtlicher, als bekanntlich die Zeitspanne, in der die Erfolge erzielt wurden, sehr viel kürzer war als in anderen Ländern.
Nun kann man nicht behaupten, daß das alte Europa zwischen den beiden großen Machtblöcken in einer aussichtslosen Position sei. Das gilt weder für die Bevölkerungsziffer noch für das wirtschaftliche Potential. Das gilt nur, solange wir aus freiem Entschluß oder - besser gesagt - aus mangelndem Entschluß freiwillig darauf verzichten, unsere eigenen Möglichkeiten zu nutzen. Seit dem Beginn der europäischen Einigungsbestrebungen nach dem letzten Kriege sind zehn wertvolle Jahre verstrichen. In diesen Jahren ist zwar, wie ich eingangs sagte, manches geschehen, aber die Gesamtbilanz ist doch durchaus ungenügend. Bei einer größeren Zielstrebigkeit aller Beteiligten müßten wir heute sehr viel weiter sein, als dies der Fall ist. Wir müßten weiter sein und wir könnten auch weiter sein. Es hat nicht an guten Vorschlägen gemangelt, man hat z. B. unter Mitwirkung bester Sachkenner den Entwurf einer europäischen Verfassung ausgearbeitet, aber dieser ist, wie manche andere wertvolle Initiative, vorläufig in der Versenkung verschwunden. Wir haben lernen müssen, daß Elan und Begeisterung nicht genügen, um die zahllosen Schwierigkeiten, die nun einmal vorhanden sind, aus dem Wege zu räumen. Sollte nicht die klare Erkenntnis, daß es hier letzten Endes für uns alle um eine Lebensfrage geht, das erzeugen, was bisheran noch an Tatkraft gefehlt hat? Gewiß dürfen Elan und Begeisterung nicht fehlen, aber wenn es sich darum handelt, den bei uns überall wuchernden mörderischen Perfektionismus zu überwinden, dann muß den vom Verstand herkommenden Hemmungen doch ein sehr viel gewichtigeres Verstandesargument entgegengesetzt werden. Wir können es uns ganz einfach nicht mehr leisten, eine gebieterische Notwendigkeit zu verzögern, nur weil wir keinen Ausweg aus einzelnen, zugegeben schwierigen Detailfragen wissen. Diese sind meist wirtschaftlicher Natur; wann aber könnten unvermeidliche wirtschaftliche Anlaufschwierigkeiten wohl reibungsloser überwunden werden, als in der augenblicklichen Zeit der Konjunktur? Können wir wichtige Entschlüsse noch weiter verzögern, weil in einem oder anderem Lande Industrien, die nüchtern gesehen überhaupt keine Existenzberechtigung haben, nun ihre Pforten schließen müssen? Das mag zwar im Einzelfall hart sein, aber im Grund ist das doch gerade gewollt, denn diese Betriebe können ganz einfach deswegen nicht weiter bestehen, weil ein anderer den Markt vorteilhafter bedienen kann.
Ein erklärtes Ziel des angestrebten Zusammenschlusses ist auch die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in all den Teilen der Gemeinschaft, in denen sie bisheran noch aus irgendwelchen Gründen auf einem geringeren Niveau stehen geblieben sind. Alle diese notwendigen Maßnahmen zur Angleichung der Wettbewerbsbedingungen sind in den Römischen Verträgen vorgesehen und wäre töricht anzunehmen, daß sie von einem Tag auf den anderen durchgeführt werden könnten. Größte Sorgfalt ist am Platze, aber auch bei deren Beobachtung wird immer noch ein Rest an ungelösten Problemen bleiben. Wir haben das ja bei der Montanunion gesehen: auch dort hat es Schwierigkeiten und Widerstände gegeben, sie sind auch bis heute noch nicht restlos überwunden, aber trotzdem hat man sie ins Leben gerufen und es gibt heute keinen der Beteiligten, der dies bedauert; selbst diejenigen, die anfangs mit größter Skepsis an die Dinge herangegangen sind, würden heute nicht auf die inzwischen erzielten Ergebnisse verzichten wollen. Es kommt der Augenblick, in dem der Sprung ins kalte Wasser gewagt werden muß. Wir müssen ihn wagen und wir sollten ihn wagen, denn wir sind überzeugt, daß wir schwimmen können, auch dürfen wir auf dem jetzigen holprigen Boden nicht stehen bleiben, weil andere, die wir gern mit dabei sehen möchten, sich nicht entschließen können; sie werden sicherlich unserem Beispiel folgen, wenn sie erst sehen, daß dieses Wasser gar nicht so kalt und der Aufenthalt darin doch recht gesund und stärkend ist.
Betrachten wir die Reihe der bisherigen Karlspreisträger, dann können wir mit Genugtuung feststellen, daß sie alle, soweit sie noch aktiv im Leben stehen, nicht irre geworden sind an der hingebenden Arbeit für die Erreichung des hohen Zieles, wofür sie diese Auszeichnung entgegengenommen haben. Außer diesen Männern, die weit hinausragen aus der Vielzahl der Gleichgesinnten, gibt es aber in unseren Ländern noch manchen anderen, den man als rastlosen Aktivisten bezeichnen kann. Wie wäre es sonst auch möglich, daß das Unkraut des Nationalismus nicht schon wieder alles überwuchert hat. Eine besonders verantwortungsvolle Rolle ist den Männern aufgegeben, die bei den bereits bestehenden europäischen Institutionen dafür einzustehen haben, daß die Gesetze, nach denen sie angetreten sind, auch mit Leben erfüllt werden. Sehr zum Unterschied von den Beamten der seit langem bestehenden Staaten müssen sie ebenso behutsam wie entschlossen das zum Leben erwecken, was beim Beginn ihrer Tätigkeit nichts anderes als eine klug durchdachte theoretische Konstruktion, vielfach mit den Schönheitsfehlern des Kompromisses behaftet war. Sie müssen mannigfache Widerstände überwinden, die manchmal sogar in der Sphäre ihrer eigenen Herkunft wurzeln. Diese schöpferische Tätigkeit, die von jedem von ihnen verlangt wird, kann nur dann zur vollen Auswirkung kommen, wenn sie auf einer inneren Einstellung basiert, die wirklich europäisch ist. Die Tätigkeit der europäischen Institutionen bewegt sich gegenwärtig fast ausschließlich im wirtschaftlichen Raum. Trotzdem wären wir sehr übel dran, wenn sie ausschließlich von tüchtigen Fachmännern auf den zur Rede stehenden Gebieten ausgeübt würde. Es kommt ganz entscheidend darauf an, daß die Aktivität des Experten beflügelt wird von dem politischen Willen, der für den Abschluß der Verträge maßgebend war. Dieser Wille muß, wenn es auf den Erfolg ankommt, auch das Bedenken des Experten überwinden, ja selbst einmal einen wirtschaftlichen Nachteil bewußt in Kauf nehmen. Wirtschaftliche Details können noch so bedeutsam sein, sie können niemals den Ausschlag geben für den Verzicht auf eine politische Notwendigkeit. Die Römischen Verträge haben zwar einen überwiegend wirtschaftlichen Inhalt, ihre letzte Bedeutung kommt aber ganz eindeutig dem damit verfolgten politischen Ziel zu und daher ist auch für die Männer, die für ihre Durchführung in erster Linie verantwortlich sind, der Primat der Politik ausschlaggebend. Sie müssen immer erneut die Grundideen herausstellen, sie müssen gleichzeitig selbst handeln, überzeugen und andere dadurch zum Handeln mitreißen. Von ihnen wird wirklich vieles erwartet, denn wenn sie nicht - ganz im Widerspruch zu dem der Natur des Menschen so genehmen gleichmäßigen Gang - immer wieder vorpreschen, neue Fakten schaffen, dann werden sie ihrer Aufgabe niemals gerecht werden. Zu solchem außergewöhnlichen Tun befähigt aber nur eine fundierte Überzeugung verbunden mit einer großen geistigen Potenz, da sie sonst nicht zum Ziel kommen werden.
Das Direktorium für die Verleihung des Karlspreises der Stadt Aachen ist von der Erkenntnis ausgegangen, daß unter den vielen hervorragenden Männern, die ihre ganze Tätigkeit in den Dienst der Schaffung eines einigen Europa gestellt haben, der Präsident der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Professor Walter Hallstein, diese Voraussetzungen in besonderem Maß erfüllt. Im ersten Jahre unseres Jahrhunderts in Mainz geboren, hat er nach Abschluß seines juristischen Studiums an den Universitäten Bonn, München und Berlin sein Leben zunächst ganz den Rechtswissenschaften gewidmet. Noch nicht dreißigjährig erhielt er eine ordentliche Professur in Rostock, von wo aus er im Jahre 1941 einem Ruf an die Universität Frankfurt folgte, um dort die Leitung des Instituts für Rechtsvergleichung und für Wirtschaftsrecht zu übernehmen. Als Kriegsgefangener gründete und leitete er die Lageruniversität Como/Missouri, um danach von 1949 - 48 als Rektor der Universität Frankfurt zu amtieren. Nach einer Gastprofessur bei der Georgetown-University im Studienjahr 1948/49 wurde er Mitbegründer und erster Präsident der Deutschen Unesco-national-Kommission. 1950 kam seine Ernennung zum Staatssekretär im Bundeskanzleramt und im folgenden Jahre siedelte er in gleicher Eigenschaft in das Auswärtige Amt über. Als Leiter der Deutschen Delegation für die Verhandlungen über den Schumanplan begann er 1950 seine persönliche, konkrete Arbeit für die Einigung Europas. Von diesem Zeitpunkt an ist er - in den meisten Fällen aktiv - zumindest aber von seiner Bonner Dienststelle aus den deutschen Beitrag dirigierend - unausgesetzt an allen Vorgängen beteiligt gewesen, bei denen es um den Zusammenschluß der Völker Europas ging. Er war in den ersten Jahren seiner Betätigung im europäischen Rahmen der engste Vertraute und Mitarbeiter des Karlspreisträgers Konrad Adenauer, der damals auch das Außenministerium selbst leitete. Gerade in den Anfangsjahren war es für uns Deutsche besonders wichtig, nach allem Vorausgegangenen ein gutes Verhältnis zu Frankreich herzustellen und Vertrauen in die Zuverlässigkeit und Stabilität der deutschen Politik zu erwerben. Wir wissen, daß Konrad Adenauer dieses Ziel stark in den Vordergrund seiner Bemühungen gestellt hat. Wenn wir heute mit Genugtuung feststellen dürfen, daß hierbei erfreuliche Erfolge erzielt wurden, dann wissen wir auch, daß Professor Walter Hallstein einen gewichtigen Anteil hieran hat. Am 10. Januar 1956 wurde er zum Präsidenten der Kommission der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ernannt, die sich schon sechs Tage später konstituierte. Im Verein mit den anderen Mitgliedern der Kommission ging er sogleich ans Werk. Ein erstes Arbeitsprogramm mußte aufgestellt und die zu seiner Bewältigung notwendige Organisation buchstäblich aus dem Boden gestampft werden. Diese Aufgabe nennen heißt gleichzeitig für jeden, dem ein Augenmaß für solche Arbeit gegeben ist, sie in ihrer ganzen Schwierigkeit und Delikatesse erkennen.
Es würde viel zu weit führen, wollte ich Sie hier mit allen Arbeitsgebieten, in welche die Römischen Verträge hineinführen, durch ihre Aufzählung vertraut machen. Nur eines sei konstatiert: Die Bewältigung der Anforderungen erfordert eine Unsumme von Sachverstand und eine sehr breite Basis des Vertrauens, die nur dann erworben werden kann, wenn die Zusammensetzung des Apparates den vielen kritischen Blicken von innen und außen standhält. Während fünf Jahren ist seither grundlegende Arbeit geleistet worden. Aus der Gesamtschau über die Zielsetzung aller europäischen Institutionen hat Herr Professor Hallstein in seiner vor dem Europäischen Parlament in Straßburg 1958 abgegebenen Erklärung gesagt: "Die Europäischen Gemeinschaften empfangen ihre letzte Rechtfertigung ja nicht daraus allein, daß sie in ihrem besonderen Zuständigkeitsbereich etwas Nützliches tun. Sie alle sind vielmehr Teile eines Entwicklungsprozesses, an dessen Ende ein in einem umfassenderen Sinne politisch geeinigtes Europa stehen soll, eine Gemeinschaft, die in der Lage ist, in der internationalen Welt geschlossen planend und handelnd aufzutreten mit dem Gewicht, das Europa zukommt. Es ist ein freies und friedliches Europa, das wir erstreben, ein Europa, in dem es sich zu leben lohnt und das Anziehungskraft für alle europäischen Völker hat, die ihr Schicksal frei bestimmen können. Dies ist unser Ziel; es richtet sich gegen nichts als gegen unsere eigene Schwäche."
Die Ausführungen besagen klar und deutlich, daß die Kommission den absoluten Primat der politischen Zielsetzung des Vertragswerkes anerkennt. Diese Haltung ist, wie wir alle wissen, nicht unangefochten und gerade deshalb ist es notwendig und angebracht, daß ihr die uneingeschränkte Zustimmung derer zukommt, die den drängenden Optimimus der ersten Jahre noch nicht aufgegeben haben.
Hier war der tiefste und letzte Grund, Herr Professor Hallstein, der das Aachener Direktorium zu seinem einstimmigen Beschluß bestimmt hat, Ihnen den Karlspreis 1961 anzuerkennen. Sie haben bei der eben von mir zitierten Gelegenheit Ihre Absicht dargetan: "Einmal beharrlich und ohne Schwanken unseren Weg fortzusetzen, die Gründungsverträge bis an den Rand ihrer Möglichkeiten mit einem starken und aktiven Leben zu füllen und überall nach einem organischen weiteren Fortschreiten Ausschau zu halten und die Bedingungen dafür zu schaffen."
Ihr Handeln in der Folgezeit hat bewiesen, daß es Ihnen ernst war mit diesen Worten, daß wir das feste Vertrauen haben dürfen, daß Sie niemals müde werden, diesen Weg unbeirrt zu gehen, so lange Ihre Kräfte reichen. In dieser unzählige Menschen beglückenden Überzeugung darf ich Ihnen denn die hohe Auszeichnung überreichen, indem ich zunächst die Verleihungsurkunde zur Verlesung bringe: "An Christi-Himmelfahrt, dem 11. Mai 1961, wurde im Krönungssaal des Rathauses zu Aachen, der ehemaligen kaiserlichen Pfalz, der Internationale Karlspreis für das Jahr 1961 Professor Dr. Walter Hallstein, Präsident der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, verliehen in Anerkennung seiner unermüdlichen, auf tiefgründiger Kenntnis der Probleme beruhenden zielbewußten Arbeit für die europäische Föderation. Auf dem Neuland der engen politischen und ökonomischen Zusammenarbeit der europäischen Nationen wurden feste Grundlagen geschaffen, die einer späteren gesamteuropäischen Konzeption die Wege ebnen werden." Die Medaille trägt die Inschrift: "Neues Europa freiwilliger Bindung".