Herr Bundespräsident,
Herr Oberbürgermeister,
meine Damen und Herren,
Ihre Entscheidung, mir den diesjährigen Karlspreis zu verleihen, hat mich tief bewegt und sehr gefreut. Bedeutet sie doch, mich - Jahrhunderte später und in bescheidener Rolle - in die geistige Gefolgschaft Karls des Großen einzureihen. Ja, Jahrhunderte später, denn es ist nun doch schon etwa 1.200 Jahren her, dass er - auf die damals übliche Weise - ein europäisches Reich zu schaffen unternahm. Und in bescheidener Rolle, ist die Aufgabe, die mir heute obliegt, doch darauf beschränkt, einen Entwurf einer dauerhaften Organisationsstruktur für Europa zu erstellen! Eine solche Aufgabe hätte Karl dem Großen vielleicht Schwierigkeiten bereitet, denn anscheinend war er selbst ja des Schreibens nie mächtig. Trotzdem vermochte er, dank seiner außergewöhnlichen Tatkraft und seines Feldherrntalents, Ländereien unter seiner Herrschaft zu vereinen, in deren Umrissen sich das heutige Europa bereits abzeichnet.
Meine Bewegtheit geht auf eine Kindheitserinnerung zurück. Die Legenden um Karl den Großen haben seine Persönlichkeit verwandelt und bereichert - und haben ihn nach und nach zu einem Heiligen gemacht. Eine bekannte Stelle aus seinen Kapitularien besagt, dass jeder Hausvater seinen Sohn in die Schule schicken müsse und ihn dort zu belassen habe, bis er gut gebildet sei. Zur Erinnerung daran war es in den Schulen und Universitäten in Frankreich Tradition, den Tag des Heiligen Karl (des Großen) zu begehen. An diesem Tag, dem 28. Januar, dem Todestag Karls des Großen, gab es in den Schulen ein Festessen für die Besten ihrer Schüler. Ich bin dazu nur einmal eingeladen worden, aber ich war - genau so wie meine anderen jungen Kameraden - sehr stolz darauf. Denselben Stolz empfinde ich heute auch - und dafür danke ich Ihnen. Ich danke dem Bundespräsidenten, Ihnen, lieber Herr Rau, für die nachsichtigen und wohlwollenden Worte, die Sie für mich gefunden haben.
Ich muss jedoch daran erinnern, dass die Aufgabe, der ich den diesjährigen Karlspreis zu verdanken habe, noch nicht abgeschlossen ist! Weniger als vier Wochen vor dem Abschluss des großen kollektiven Abenteuers unseres Europäischen Konvents bin ich mir der Verantwortung nur zu bewusst, die auf uns lastet: unsere Aufgabe ist es, zum ersten Mal in der Geschichte Europas eine paneuropäische Verfassung auszuarbeiten. Immer wieder hat man versucht, unseren Kontinent zu einen: Cäsar, Karl der Große, Napoleon, um nur einige Namen zu nennen. Diese Versuche wurden mit Waffengewalt unternommen, mit dem Schwert in der Hand. Wir versuchen, Europa mit der Schreibfeder zu vereinen. Wird der Feder gelingen, was das Schwert letztendlich nicht vermochte? Wird in den Waagschalen der Geschichte die Feder schwerer wiegen als das blutige Eisen des Schwertes?
Ich glaube, ja, da die Grundlage für unseren Erfolg heute die freie Entscheidung der Völker Europas ist, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten. Die nächsten Monate werden uns auf diese Fragen die Antwort bringen.
Der Europäische Konvent ist - bei aller von ihm selbst gewollten Bescheidenheit - ein großes Ereignis. Er ist die erste verfassunggebende Versammlung auf europäischer Ebene. Der Konvent hat die Aufgaben, einen soliden und beständigen Verfassungsrahmen für 450 Millionen Europäer in demnächst nun 25 Mitgliedstaaten zu schaffen. Dies in einem Europa, das sich - dem Lauf der Sonne folgend - von Estland bis Portugal erstreckt, und das zugleich von Griechenland bis in den Norden Großbritanniens reicht - noch über den Hadrianswall hinaus! Einfach nur zum Vergleich, erlaube ich mir, in Erinnerung zu rufen, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten, die bewunderungswürdige amerikanische Verfassung, für dreizehn Staaten entwickelt wurde. Kein einziger dieser Staaten konnte auf eine lange Geschichte zurückblicken und alle Bürger dieser Staaten sprachen dieselbe Sprache und gehörten derselben Religion an. Diese dreizehn Staaten hatten dreieinhalbe Millionen Einwohner - weniger als 1 % der Bevölkerung dieses Europas, nach dessen Einigung wir streben.
Ein und dieselbe Verfassung für ein solches weit gespanntes Ganzes mit all seinen Unterschieden, ist das überhaupt möglich? Ist das realistisch, ist das vernünftig? Ich denke, die Arbeit der letzten fünfzehn Monate hat gezeigt, dass dies zwar ein schwieriges, aber keineswegs ein unmögliches Unterfangen ist. Vor allem aber hat sie gezeigt, dass dieses Unterfangen notwendig war, und dass es zudem auch ganz natürlich ist, dass wir uns darauf eingelassen haben. Ja, es war tatsächlich notwendig! Es wäre ein Unglück für Europa, wenn es uneins bliebe. Von Nachteil für Europas Wachstum, für die Entfaltung seiner Kultur, von Nachteil für den Vorwärtsdrang seiner Wissenschaften und Technologie, von Nachteil für das Ansehen und den Einfluss Europas in der Welt. Natürlich war es aber auch!
Schließlich ist Europa etwas anderes als einfach nur eine Genossenschaft seiner Mitgliedstaaten. Denn die Bürger unserer Staaten fühlen sich auch als Bürger Europas, und es ist manchmal sogar schwierig, die Geschichte dieser Staaten klar voneinander zu trennen. Ich denke dabei insbesondere an Karl den Großen: in Rom wurde er zum Kaiser gekrönt, sein ältester Sohn regierte über das Königreich Aquitanien, sein Ratgeber Alkuin wurde in York geboren und brachte die Klöster der Touraine zur Blüte - dieser Karl der Große, der nur zwei Schritte von hier seine letzte Ruhestätte fand und dessen Eltern, Pippin und Bertha, in St. Denis, vor den Toren von Paris, begraben sind. Damit unser Unterfangen von Erfolg gekrönt wird, müssen meiner Meinung nach drei Bedingungen erfüllt sein. Die politisch Verantwortlichen Europas müssen sich deutlich für den Fortschritt der Union einsetzen. Für den Europäischen Konvent und die Öffentlichkeit ist es wichtig, diesen Einsatz zu spüren. Es sind diese verantwortlichen Kräfte Europas, auf deren Schultern das gemeinsame Schicksal Europas ruht. Wir brauchen ihre Unterstützung. Um einen bekannten Ausspruch abzuwandeln: Wir im Konvent hören viel zu oft, was die Mitgliedstaaten von Europa erwarten, aber wir hören nicht oft genug, was die Mitgliedstaaten für die Einheit Europas zu tun bereit sind.
Des Weiteren benötigen wir die aktive Unterstützung der Bürger Europas, eine Unterstützung, die bei einem so abstrakten und wenig medienwirksamen Thema schwer zu erlangen ist. Deshalb hatte ich vorgeschlagen, irgendwo in Europa, weit ab von den mit Europa und den Gemeinschaften in Verbindung stehenden Kreisen, eine öffentliche Diskussion über die politische Bedeutung des Aufbaus eines geeinten Europas zu führen. Zu meinem Bedauern wurde dieser Vorschlag verworfen.
Il est également indispensable de rétablir l'esprit de bonne entente et de coopération qui n'aurait jamais dà» cesser d'exister entre les institutions européennes. Nous ne voulons plus entendre à la Convention les critiques négatives selon lesquelles, lorsque l'on propose d'améliorer le fonctionnement d'une institution, c'est pour en affaiblir une autre. La vérité, c'est que chacune des institutions a besoin d'àªtre rénovée et élevée, et c'est la plus démocratique - c'est à dire le Parlement européen - qui gagnera le plus en pouvoir.
Und schließlich muss ein allgemeines Einverständnis - ohne jeden Hintergedanken - über die Natur unserer Union erreicht werden, wenn sie dieses Jahrhundert überdauern soll: es geht dabei um eine Doppelnatur, die sich aus den geschichtlichen Entwicklungen heraus ergeben hat, nämlich die einer Union, die zugleich Union der Mitgliedstaaten und Union der Bürger ist. Solange dies nicht akzeptiert wird, verlieren wir uns in utopischen oder aber zu kurz greifenden Debatten. Unsere Verfassung kann nicht die Charta eines zentralistischen Bundesstaates sein. Sie kann nicht auf einen einfachen Vertrag über die Zusammenarbeit zwischen Regierungen reduziert werden. Wer das noch nicht verstanden hat, der hätte in einer karolingischen Schule verdient, die Eselskappe zu tragen! Europa ist mit der griechischen Mythologie entstanden und dem entsprechend ist es noch immer geheimnisvoll und faszinierend.
Europa muss jedoch auch zur Vernunft anregen. Ohne Sinn für die Realitäten können wir Europa nicht zustande bringen. Der vor fünfzig Jahren begonnene Aufbau Europas hat bewirkt, dass aus dem diffusen Gefühl einer europäischen Identität heraus allmählich das Projekt einer politischen Organisation entwickelt wurde. Lassen Sie uns diese kühne Initiative der Gründerväter dankbar würdigen, diese Initiative, die sie zu einem Zeitpunkt ergriffen haben, als der Brand, zu dem innerhalb von 30 Jahren zwei brudermörderische Konflikte geführt hatten, noch schwelte. Die politisch Verantwortlichen der jüngeren Generation sehen sich heute vor zwei Reihen von Fragen gestellt: Wie kann zum einen in das europäische Gebäude ein neues politisches Stockwerk eingezogen werden? Wie kann auf dem Fundament des Binnenmarkts ein gemeinsamer Raum der Sicherheit und des Rechts errichtet werden? Wie können unsere jeweiligen Außen- und Sicherheitspolitiken so koordiniert werden, dass sie den Erwartungen der Mehrheit der Bürger gerecht werden, die uns eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik für Europa abverlangen?
Wie kann zum anderen die größte Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Gemeinschaft so vollzogen werden, dass sie nicht etwa ein System außer Funktion setzt, das für einen wesentlich kleineren Kreis erdacht worden war, sondern so, dass sie zu einer Bereicherung wird, indem sie diesem System eine paneuropäische Dimension verleiht? Sie, die Mitglieder des Karlspreisdirektoriums, haben sich überaus weitsichtig gezeigt, als Sie im Jahre 1950 dem Grafen Coudenhove-Kalergi, dem Vater der paneuropäischen Bewegung, den ersten Karlspreis verliehen haben. Wenn Sie heute seine damalige Rede noch einmal lesen, werden sein Engagement und seine Vision für Europas Zukunft Sie - wie auch mich - nicht unbewegt lassen. Uns muss es jetzt und heute gelingen, einen geeinten europäischen Kontinent zu schaffen.
Die Gründerväter hatten sich für ein politisch kluges Vorgehen entschieden: Durch die wirtschaftliche Integration, die Integration der Montanindustrie sollten die wirtschaftlichen Interessen der Mitgliedstaaten so ineinander verwoben werden, dass sich daraus schrittweise eine Schicksalsgemeinschaft ergeben sollte.
Im Gegensatz zu einer klassischen Föderation haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union in all diesen Jahren ihre klassischen Souveränitätsrechte beibehalten, zum Beispiel in der Außen- und der Verteidigungspolitik, die in den Römischen Verträgen noch nicht einmal erwähnt werden, während zugleich die Union die Aufgabe hatte, die wirtschaftliche Integration zu verwirklichen. Am Endpunkt dieses Integrationsstrebens stand die Einführung des Euro, unserer gemeinsamen Währung. Deshalb haben Sie ihm im letzten Jahr den Karlspreis zugedacht.
Europa besteht somit auf zwei Ebenen. Wir haben dies in Artikel 1 der neuen Verfassung zum Ausdruck gebracht: "Geleitet von dem Willen der Bürger und Staaten Europas, ihre Zukunft gemeinsam zu gestalten, begründet diese Verfassung die Europäische Union, der die Mitgliedstaaten Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele übertragen. Die Union koordiniert die diesen Zielen dienende Politik der Mitgliedstaaten und übt die ihr von den Mitgliedstaaten übertragenen Zuständigkeiten in gemeinschaftlicher Weise aus."
Welches Ziel haben wir mit dieser Union vor Augen? Was wollen wir gemeinsam erreichen? Mit dieser inhaltlichen Grundfrage beschäftigt sich der Konvent, weit ab von allen Streitigkeiten über Rivalitäten in Fragen der Machtverteilung. Wir müssen diese Grundfrage präzise beantworten, und unsere Antwort wird für den politischen Aufbau unserer Union bestimmend sein.
Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wir begnügen uns damit, unsere Union auf dem jetzigen Stand der Integration zu konsolidieren und auf die neuen Mitgliedstaaten auszuweiten. Dies bedeutet den großen Markt, die vier Freiheiten, nämlich die Freizügigkeit der Menschen, der Waren, des Kapitals und der Dienstleistungen, die einheitliche Währung und eine gewisse finanzielle Solidarität: also einen Wirtschaftsbund. Dann müssen allerdings jene, die dies wünschen, dies auch unmissverständlich zum Ausdruck bringen. Diese Zielstufe könnte das gemeinsame Fundament, den gemeinsamen Unterbau der Verfassung darstellen, ihren ersten Stock sozusagen.
Oder aber wir gehen davon aus, dass diese Stufe notwendig ist, aber nicht ausreicht. Dass der Ehrgeiz Europas weiter reichen muss. Dass sich Europa besser organisieren muss, damit es auf internationaler Ebene besser gehört wird, damit es mehr Gewicht, mehr Respekt erlangt. Dass Europa selbst für seine Sicherheit sorgen muss. Dass man keine einheitliche Währung haben kann, ohne die Wirtschaftspolitik besser zu koordinieren. Dass man die Grenzen zwischen den Staaten nicht abschaffen kann, ohne einen echten europäischen Raum der Sicherheit und des Rechts zu schaffen. Wenn wir diese zweite Option akzeptieren, die zweifellos die historische Antwort auf die Fragen unserer Zeit darstellt und die allen Umfragen zufolge den Erwartungen der öffentlichen Meinung entspricht, dann macht eine Verfassung wirklich Sinn, eine Verfassung mit soliden Organen, die zum einen auf der Identität der Staaten, zum anderen auf dem gemeinsamen europäischen Gut gründen. Auf diese Weise werden wir die oberen Stockwerke der europäischen Verfassung errichten. Von diesen Ideen geleitet habe ich dem Präsidium meine Vorschläge unterbreitet. In diese Richtung werden wir weiterarbeiten.
Im Laufe der nächsten Wochen müssen wir einen klaren Kopf bewahren und versuchen, die angemessensten und auch die fruchtbarsten Lösungen zu finden. Vergessen wir nicht die harten Lehren der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Machen wir uns bewusst, dass der Aufbau Europas das friedlichste und zukunftsträchtigste Vorhaben ist, das auf unserem Kontinent jemals unternommen wurde! Niemand könnte die Verantwortung dafür übernehmen, ein solches Vorhaben aus egoistischen oder parteiischen Gründen scheitern zu lassen.
Behalten wir Europa im Kopf!
Europa hat eine Seele. Wir dürfen dies weder ignorieren noch vergessen. Europa muss aus dem kleinen Kreis der Eingeweihten heraustreten. Es muss wieder Gegenstand der Politik, der Bürger, der öffentlichen Diskussionen werden. Aus dieser Sicht ist der Konvent bereits ein Erfolg. Vielleicht werden unsere Diskussionen in die Geschichte Europas eingehen und so Teil seiner Identität werden. Vielleicht findet sich sogar ein Einhard, der sie in einer Fußnote erwähnt!
Wir müssen den nötigen Abstand gewinnen, um die Bedeutung unserer Aufgabe und insbesondere die unserer Verantwortung messen zu können. Der einzige Gedanke, der uns leiten darf, ist der Wille zum Erfolg, da unser Gelingen für Europa von immenser Bedeutung ist!
Ich danke Ihnen.