Verehrte Festgäste,
Europa steht an einem bedeutsamen Scheidepunkt. Die Erweiterung ist fast vollendet. Der jüngste Beitritts-Akt von Athen hat die Nachkriegs-Ordnung überwunden, die Trennung in Ost und West aufgehoben und die Weichen zur endgültigen Wiedervereinigung gestellt. Europa muss jetzt beweisen, dass es funktioniert, regierbar ist und die Europäer für seine Ziele gewinnt. Der Irak-Krieg, dessen Rechtfertigung umstritten bleibt, hat offenbart, dass der Traum von der Einheit mit der Wirklichkeit noch wenig gemein hat. Das europäisch-amerikanische Bündnis, das Auftreten der Europäer in UN und NATO, auch die Positionierung in wichtigen Fragen der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zeigen, es gibt die gewünschte Einigkeit noch nicht. Es wird daher Zeit, dass wir uns ernsthaft festlegen, welches Europa wir wollen, insbesondere welche globale Verantwortung dabei entwickelt und gemeinsam vertreten werden soll. Der europäische Verfassungskonvent hat die schwierige Aufgabe der inneren und äußeren Reformierung übernommen. Zur künftigen Organisation und Kompetenz-Verteilung der EU, zu ihrem äußeren Auftreten wird er schon nächsten Monat seine Vorschläge unterbreiten. Diese Arbeit muß die Bürgerinnen und Bürger Europas davon überzeugen, dass die EU zukunftsfähig ist.
Der Karlspreisträger 2003 hat als Präsident des Verfassungs-Konvents gemeinsam mit parlamentarischen Kollegen aus den 15 Mitglieds- und 13 Bewerber-Staaten, mit Regierungsvertretern und Kommissions-Mitgliedern die Aufgabe angenommen, diese enorme Herausforderung zu bewältigen. Als überzeugter Europäer hat er auf seinem Lebensweg nicht nur Fortschritte der EU miterlebt, sondern auch ihre Probleme. Deshalb verkörpert er als Visionär und nüchterner Pragmatiker die Hoffnung, dass trotz der schwierigen Situation dieses Werk gelingt. Mit großer Freude begrüße ich den Träger des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahr 2003, den vormaligen Präsidenten der Französischen Republik und jetzigen Präsidenten des Europäischen Konvents, Herrn Valéry Giscard d´Estaing.
Monsieur le Président, soyez le bienvenue à Aix la Chapelle.
Mit ihm begrüße ich die Karlspreisträger früherer Jahre:
- den Nestor der Karlspreisträger aus dem Jahre 1963, den vormaligen britischen Premierminister, Sir Edward Heath;
- den Karlspreisträger 1977, den damaligen Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Walter Scheel;
- den Karlspreisträger 1979, den vormaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments, Herrn Emilio Colombo,
- die Karlspreisträgerin 1981, die erste Präsidentin des freigewählten Europäischen Parlaments, Madame Simone Veil;
- den Karlspreisträger 1990, den früheren Ministerpräsidenten der Republik Ungarn, Herrn Gyula Horn;
- den Karlspreisträger 1991, den ehemaligen Präsidenten der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik, Herrn Vaclav Havel;
- für den Karlspreisträger 2002, den Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Herrn Wim Duisenberg.
Eine besondere Freude bereitet uns mit seiner Anwesenheit der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Herr Johannes Rau, dem ich an dieser Stelle schon danken möchte für die große Ehre, die er uns mit der Laudatio auf den diesjährigen Preisträger erweist. Herzlich grüße ich die Botschafter und diplomatischen Vertreter der Länder: Bulgarien, Ecuador, Frankreich, Griechenland, Niederlande, Italien, Luxemburg, Polen, Slowakische Republik, Spanien, Tschechische Republik, Ukraine, Ungarn, Vereinigte Staaten von Amerika, Zypern. Mit sehr großer Freude begrüßen wir in Aachen den ehemaligen Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Helmut Schmidt. Herzlich begrüßen wir die vormalige Präsidentin des Deutschen Bundetages, Frau Rita Süßmuth. Willkommen heißen wir auch die anwesenden Mitglieder des Europäischen Konvents, darunter den früheren Ministerpräsidenten der Republik Italien, Herrn Giuliano Amato. Für die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland grüßen wir mit großer Freude den Bundesaußenminister, Herrn Joschka Fischer sowie die Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung, Frau Ulla Schmidt. Herzlich grüße ich den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Herrn Peer Steinbrück sowie den Landesminister Jochen Dieckmann und die Vize-Präsidenten des nordrheinwestfälischen Landtages, Frau Edith Müller und Herrn Jan Söffing.
Herzlich begrüße ich alle Vertreter der Kirchen und Religionsgemeinschaften, vor allem den Erzbischof von Prag und Primas von Böhmen, Seine Eminenz Miloslaw Kardinal Vlk, den Erzbischof von Straßburg, Seine Exzellenz Joseph Doré und den Aachener Bischof Heinrich Mussinghoff. Ich begrüße aufrichtig den FDP-Vorsitzenden, Herrn Guido Westerwelle, die Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Thüringen, Frau Dagmar Schipanski, den Ministerpräsidenten der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, Herrn Karl-Heinz Lambertz, die Abgeordneten aus nationalen und dem Europa-Parlament, die Bürgermeister aus Aachens Partner- und Nachbarstädten sowie die Vertreter der Bertelsmann-Stiftung und der Medien. Darüber hinaus grüße ich viele weitere, namhafte Persönlichkeiten, die uns durch ihre Anwesenheit ehren. Ihnen allen, die Sie an diesem heutigen Ereignis hier im Krönungssaal oder an Radio und Fernsehen teilnehmen, gilt der aufrichtige Gruß der Stadt Aachen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
der Konvent darf nicht scheitern. Die Öffnung der Gemeinschaft für zehn neue Partner bietet die große Chance, die Friedensfähigkeit der Union zu stärken, Freiheit und Demokratie zu stabilisieren und die Hoffnungen auf Wachstum und Wohlstand zu verwirklichen. Allerdings: die Erweiterung bedingt, dass Europa sich neu organisiert, sich politisch, administrativ, finanztechnisch, vor allem bürgernah auf die neue Aufgabe vorbereitet. Europa ist bei den Europäern nicht unumstritten. Erwartungen sind unterschiedlich, Ziele undefiniert. Das Funktionieren der Union begegnet manchen Zweifeln, die Bürokratie sogar Ängsten. Eine europäische Identität neben der nationalen ist - selbst in den älteren Mitgliedsstaaten - kaum vorhanden. Natürlich sind wir alle Europäer, aber häufig doch mit einer gewissen Unverbindlichkeit. Wir müssen deshalb aus dem Europa der Experten, der klugen und bestimmenden Köpfe, auch ein Europa der Herzen machen. Verfassung ist, was Menschen leben, was sie bewegt, womit sie sich identifizieren. Das neue Verfassungsmodell muss daher mehr sein als ein ausgefeilter Text, unter dem die Unterschriften von Mächtigen stehen. Das verfasste Europa muss attraktiv sein, vorteilhaft und lebensnah. Natürlich geht es um das Verhältnis der Nationalstaaten zur europäischen Ebene, um Organisationsfähigkeit und Teilhabe, damit um eine völlig neue Verfassungsstruktur. Vor allem aber geht es um ein System, das verständlich, funktionstüchtig und regierungsfähig ist, um überschaubare und demokratische Umsetzung von Politik in Gremien. Wir Bürger lieben unsere Städte, unsere Regionen, identifizieren uns mit unseren Staaten. Wir werden uns auch mit Europa mehr anfreunden, wenn die Aufgaben für die EU und der Teil der Macht, der von den Nationalstaaten an eine effiziente Exekutive der Gemeinschaft delegiert werden soll, klar beschrieben sind. Es muss deutlich werden, wer für was wann und wie verantwortlich ist. Wir wollen nicht mehr Gremien, sondern effizientere, nicht mehr Verantwortungs-Träger, sondern größere Transparenz und Beteiligung, nicht mehr Vereinheitlichung, sondern stärkeren Wettbewerb und Vielfalt. Und: Wir stellen Qualitätsansprüche. Föderalismus und Subsidiarität, Rechtsstaatlichkeit und soziale Ausgewogenheit, die gesellschaftliche Verpflichtung der Wirtschaft, die Selbstverwaltung der Städte und Gemeinden - das alles sind Errungenschaften, die unverzichtbar zum Maßstab der Reform gehören müssen. Neu und existenznotwendig ist der Aufbau einer - endlich - gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Dabei ist unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten auf die alte Freundschaft zurückzuführen, die über Jahrzehnte selbstverständlich, gut und von gemeinsamen Werten getragen war. Die weltweite Vorherrschaft Amerikas mag uns nicht gefallen, aber die globalen Auseinandersetzungen und Bedrohungen - Terrorismus und Massenvernichtungs-Waffen, Bürgerkriege und Genozide - sind keine Erfindung Washingtons. In diesen Stunden geschieht im Kongo ein neuer Völkermord. Da darf die zivilisierte Welt nicht zuschauen. Da muss Europa begreifen, dass es ohne eine eigene, abgestimmte Außen- und Sicherheitspolitik, ohne ein eigenes Militärbündnis, seine Vorstellung von Frieden und Recht nirgendwo durchsetzen kann.
Herr Präsident, verehrte Konvents-Mitglieder,
wir wissen, dass Sisyphus-Arbeit zu leisten ist, bei der Sie stärker sein müssen als der Fels. Diese Stärke wünschen wir Ihnen. Der heutige Festakt soll Ermutigung sein für die schwierige und notwendige Aufgabe, die Sie übernommen haben, er soll Hoffnung und Zuversicht ausdrücken, dass sie gelingt. Allerdings: Sie werden nur im Konsens erfolgreich sein, nicht aber durch faule Kompromisse, erst recht nicht durch falsches Nachgeben gegenüber den Nationalisten, den Besitzstands-Wahrern oder auch den Großen und Zahlungskräftigen. Europa braucht das Bekenntnis zur Gemeinsamkeit. Es braucht Überzeugungs-Kraft und Durchsetzungsfähigkeit, endlich auch Sendungsbewusstsein seiner Werte, seiner Fähigkeiten und seines Einsatzwillens. Der Konvent muss Erfolg haben, denn: es gibt zur Einheit Europas keine Alternative.
Verehrte Gäste,
kaum ein Politiker ist so ausgewiesen, diese Herausforderung mit dem Konvent zu bestehen, wie Valéry Giscard d´Estaing. Er ist einer der erfahrensten Europäer. Er weiß, wie die europäischen Organe - Kommission, Parlament und Rat - funktionieren, weiß auch, welches Gewicht ihnen gegenüber die nationalen Regierungen haben. Vormals Präsident der Französischen Republik hat er viele sichtbare Akzente enger europäischer Zusammenarbeit gesetzt. Er hat - gemeinsam mit dem damaligen Deutschen Bundeskanzler, dem großen Europäer Helmut Schmidt - die deutsch-französische Freundschaft als wichtige Achse innerhalb des Bündnisses ausgebaut. Mit ihm hat er auch den Europäischen Rat, die regelmäßige Zusammenkunft der Regierungschefs, auf den Weg gebracht. Er hat - wiederum gemeinsam mit Helmut Schmidt - im Juli 1978 im Aachener Rathaus angeregt, ein europäisches Währungssystem als Vorläufer der europäischen Währung einzurichten. Er hat die Direktwahl zum Europäischen Parlament mit initiiert. Und: Er hat eine genaue Vorstellung davon, was sich in Europa ändern soll. Seine Vorschläge passen nicht immer Jedem, doch Valéry Giscard d´Estaing ist Kritik-erprobt, vor allem aber konsensfähig. Der Vorsitz im Konvent hätte nicht besser als durch ihn besetzt werden können.
Sehr geehrter Herr Präsident,
wir danken Ihnen für Ihr überdurchschnittliches Engagement in Sachen Europa. Sie sind ein großer Staatsmann, ein
bedeutender Europäer. Ich gratuliere Ihnen namens des Direktoriums zur Verleihung des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen sehr herzlich zur Auszeichnung des Jahres 2003. Wir wünschen Ihnen und dem Konvent Erfolg bei der großen Aufgabe, für Europa ein Zukunfts-Modell zu entwerfen.