Meine Damen und Herren,
sehr geehrte Anwesende,
der Internationale Karlspreis, den ich heut entgegennehme, ist von seiner Entstehung an eng mit der Einheit Europas verbunden. Es verbindet ihn mit diesem Ideal nicht nur sein Name, durch den wir an die Gestalt eines vor langer Zeit wirkenden europäischen Einigers erinnert werden, sondern auch die Galerie der hervorragenden Persönlichkeiten, die ihn in der Vergangenheit erhielten und die ohne Ausnahme ihr Leben mit den grundlegenden europäischen politischen Werten und mit den auf ihnen beruhenden Integrationsprozessen verbunden haben.
Vor sechsunddreißig Jahren sagte an dieser Stelle Winston Churchill, als er den Karlspreis entgegennahm: "Die Tschechoslowakei wird die Freiheit wiedergewinnen und Deutschland wird wieder vereinigt sein."
Ich bin der erste Preisträger, der das Glück hat, hier ausrufen zu können: "Winston Churchill, die Tschechoslowakei ist frei und Deutschland ist vereinigt!"
Diese beiden Ereignisse - die Befreiung meines und die Vereinigung Ihres Landes - trafen nicht zufällig in derselben Zeit zusammen. Beide sind sie integrale und voneinander nicht zu trennende Bestandteile derselben historischen Erscheinung: nämlich der Selbstbefreiung der Völker Mittel- und Osteuropas von den Fesseln des totalitären Systems und ihre Rückkehr zu den Werten, von denen sie durch das totalitäre System gewaltsam getrennt waren. Wie viele andere habe auch ich immer gedacht, der Eiserne Vorhang, der unseren Kontinent teilt, kann nicht fallen, ohne daß nicht auch sein sichtbarster Teil - die Berliner Mauer - zusammenbricht, und daß umgekehrt die Berliner Mauer nicht zusammenbrechen kann, ohne daß nicht zugleich dieser gesamte Vorhang zusammenbricht. Diese Annahme hat sich bestätigt: die Geschichte hat gezeigt, daß es nur um zwei Seiten ein- und derselben Medaille geht.
Die Freiheit der Tschechoslowakei, eines Landes, in dem traditionell die Wege der europäischen Geschichte miteinander in Verbindung treten und sich wieder trennen, und die Vereinigung des künstlich geteilten Deutschlands sind also Bestandteile eines einzigen und viel breiteren Geschehens, eines äußerst hoffnungsvollen Geschehens: es bringt uns nämlich auf bislang nicht gekannte Weise jener uralten europäischen Hoffnung näher, mit der auch dieser Preis verbunden ist, nämlich der Hoffnung, daß Europa nach Jahrtausenden von Streit und Krieg endlich zu einem Raum freundschaftlicher Zusammenarbeit aller seiner Bewohner werden kann.
Was sollen wir tun, damit diese Hoffnung schnell zu Wirklichkeit wird? Was sollen wir tun, damit unsere Generation von zukünftigen Historikern nicht beschuldigt werden kann, sie hätte eine nie dagewesene Chance, die sich während ihres Lebens für Europa eröffnete, nicht ergriffen?
Meiner Ansicht nach müssen wir alle uns aus der Befangenheit in verschiedensten partikularen Interessen und gedanklichen Stereotypen befreien und in uns selbst den Mut zu schnellen, unkonventionellen und manches Mal auch riskanten Schritten finden, die so weit wie möglich kurzfristige und Teilinteressen den langfristigen und Gesamtinteressen unterordnen. Dies ist ein historischer Augenblick ohne Vorbild und er erfordert offenbar auch Taten ohne Vorbild.
Es gibt keine einfache und geradlinige Lösung, kein Schema, Modell oder Anleitung. Der Prozeß er gesamteuropäischen Integration wird offenbar ein sehr kompliziertes, simultanes Spiel auf vielen Schachbrettern zugleich sein.
Vor allem ist es notwendig, sich auf die übernationalen Strukturen zu stützen, die im westeuropäischen Bereich seit dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind und die sich bewährt haben. Diese Strukturen sollten wagemutiger ihre neuen Beziehungen zu den Ländern suchen, die bisher außerhalb standen und stehen mußten, wobei unsere Länder zugleich alles tun sollten, um sich diesen Strukturen anzunähern. Der Europarat steht uns offen, unsere Länder werden allmählich zu Mitgliedern. Wir streben Assoziationsverträge mit den Europäischen Gemeinschaften an, diesem bislang am weitesten integrierten europäischen Gebilde, und gerne würden wir früher oder später zu ihren Vollmitgliedern werden. Was den Bereich der Sicherheit betrifft, knüpfen unsere Länder freundschaftliche Kontakte mit der Nordatlantischen Allianz und der Westeuropäischen Union an.
Parallel mit dieser Annäherung und diesem Sich-Anschließen der postkommunistischen Länder an die Formationen, die bisher nur westeuropäisch waren und mit der Transformation und Öffnung dieser Organisationen für unsere Länder, müssen wir alle gemeinsam grundsätzlich neue Integrationsmöglichkeiten auch dort suchen, wo wir von Beginn an alle oder fast alle gegenwärtig sind. In der Hauptsache ist dies der Helsinki-Prozeß. Ich glaube, dies ist ein Boden mit großer Perspektive, der viele Voraussetzungen dafür hat, sich früher oder später in einen festen Rahmen für die europäische Sicherheit und Zusammenarbeit zu verwandeln, die auf einer neuen Generation von Kollektivverträgen begründet ist.
Außer intensivem und geduldigem Wirken in den erwähnten Richtungen ist es notwendig, völlig neue Dinge zu suchen und auszuprobieren, die schon gleich von ihrer Entstehung an die radikal neue Situation auf unserem Kontinent reflektieren, auf deren Bedürfnisse eingehen und geradlinig auf das Ideal der gesamteuropäischen Einheit gerichtet sein werden. Eine der Ideen, die in diese Kategorie gehören, ist der Gedanke einer europäischen Konföderation, den Präsident Mitterrand ausgesprochen hat. Zum ersten Mal wird im nächsten Monat in Prag darüber diskutiert werden, auf einer Versammlung, die speziell diesem Thema gewidmet ist.
Ich bin davon überzeugt, daß keine dieser vielfältigen Bemühungen andere ausschließen muß, ja, daß diese Bemühungen einander nicht ausschließen dürfen. Sie müssen sich im Gegenteil gegenseitig ergänzen. Niemand von uns weiß bisher, in welcher von all diesen Partien wir die größten Chancen auf Erfolg für alle haben, also für ganz Europa, und schon deshalb müssen wir allen die angemessene Aufmerksamkeit widmen. Um so mehr, als jede ihre einzigartigen und nicht austauschbaren Vorteile und Chancen hat, und es wäre wenig vorausschauend, sie wegen der Orientierung auf andere Chancen, die in einem anderen Bemühen enthalten sind, nicht zu nutzen. Bei diesem komplizierten simultanen Spiel müssen wir meiner Ansicht nach zwei wichtige dinge ständig bedenken:
Zunächst die wesenhafte zivilisatorische Verbundenheit Europas mit dem nordamerikanischen Kontinent. Die gesamteuropäische Integration ist kaum vorstellbar ohne diese atlantische Dimension, nämlich ohne eine - zwar lockere, aber um so allseitigere - Beteiligung der Vereinigten Staaten und Kanadas.
Das zweite ist die sehr wichtige Tatsache, daß keine zukünftige europäische Ordnung ohne die europäischen Völker der Sowjetunion denkbar ist, die ein unteilbarer Bestandteil Europas sind, und ohne die große Völkergemeinschaft, zu der sich die heutige Sowjetunion wandelt. Ihr Weg zur Freiheit, Demokratie und einer funktionierenden Wirtschaft ist, wie wir wissen, besonders kompliziert. Das darf aber nicht Grund dafür sein, daß wir der Einfachheit halber aufhören, uns für das Schicksal unserer östlichen Nachbarn zu interessieren. Ganz im Gegenteil: es gibt allen Grund, uns besonders dafür zu interessieren. Eine gute Entwicklung in Europa als Ganzem ist undenkbar ohne eine gute Entwicklung in diesem bisher gefürchteten und heute zumindest beunruhigenden Sechstel der Welt. Im übrigen hat auch darauf an dieser Stelle schon vor sechsunddreißig Jahren Churchill hingewiesen.
Europa ist ein sehr bunter und ungleichartiger Kontinent, um so mehr, als es bis vor kurzem so grausam geteilt war. Die Aufgabe, die beste Gestalt seiner zukünftigen Einheit zu finden, ist daher in keinem Falle leicht und kann gewiß nicht von einem Tag auf den anderen erfüllt werden. Es ist dies jedoch eine Aufgabe, an der zu arbeiten wir verpflichtet sind. Die Länder Mittel- und Osteuropas bekennen sich zu dieser Aufgabe und orientieren sich auf sie nicht, weil sie als heute arme und zerstörte Länder von ihren reichen und prosperierenden westlichen Freunden erwarten würden, daß sie alle Probleme an ihrer Stelle lösen. Ohne großzügige Hilfe, vergleichbar mit dem ehemaligen Plan von George Marshall, ebenfalls Träger des Karls-Preises, werden wir zwar nicht auskommen, und eine solche Hilfe ist sogar im existentiellen Interesse des Westens selbst, doch der Hauptantrieb unserer Bemühungen ist etwas anderes: indem wir uns heute zum sogenannten Westen bekennen, bekennen wir uns damit vor allem und hauptsächlich zu einer bestimmten Zivilisation, zu einer bestimmten politischen Kultur, zu bestimmten geistigen Werten und universellen Prinzipien. Keineswegs also nur zu den reicheren Nachbarn. Dabei geht es nicht um eine Zivilisation, Kultur und um Werte, die uns - nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems - plötzlich gefallen, sondern um eine Zivilisation, Kultur und um Werte, die wir als die unseren empfinden, weil wir lange Jahrhunderte hindurch an ihrer Schaffung beteiligt waren. Es geht also nicht um die Faszination durch eine andere Welt. Es geht im Gegenteil um das Sehnen, nach Jahrzehnten unnatürlicher Abweichung wieder auf den Weg zurückzukehren, der einst auch der unsere war.
Sehr geehrte Freunde,
die Tradition dieser Stadt und des Preises, den sie vergibt, weist auf einen der Grundsteine des Europäertums hin: nämlich auf die französisch-deutsche Beziehung, auf die Beziehung des romanischen und des germanischen Elements. Diese Beziehung, die in der Vergangenheit nicht nur einmal so dramatisch und voller Konflikte war, hat heute - und offensichtlich nun dauerhaft - die Gestalt einer engen Freundschaft, Zusammenarbeit und fruchtbarer gegenseitiger Beeinflussung angenommen, unter anderem auch dank zweier hier anwesender Träger des Karls-Preises, Präsident Mitterand und Kanzler Kohl, denen alle Europäer für ihre Bemühungen um die Integration dankbar sein sollten.
Mir scheint, daß die vorjährige Verleihung des Preises an Herrn Horn und die diesjährige Wahl meiner Person deutlich auf eine weitere wichtige Dimension des wirklichen Europäertums hinweisen: nämlich auf die uralte und heute sich schnell belebende Verbundenheit der großen westeuropäischen Kulturen mit dem reich gegliederten kulturellen Milieu Mitteleuropas.
Alles weist darauf hin, daß die Stadt Aachen sich aller grundlegenden Dimensionen des Ideals der europäischen Einheit in Vielfalt bewußt ist.
Herr Oberbürgermeister,
ich danke der Stadt Aachen für den Karls-Preis. Wenn ich die Namen derjenigen lese, die ihn vor mir erhalten haben - die Namen solcher Leute wie Churchill, Adenauer oder Spaak - dann stockt mir fast der Atem beim Gedanken daran, daß ich in ihre Reihen aufgenommen worden bin. Es ist für mich eine große Ehre und eine noch größere Verpflichtung.
Die Verpflichtung, mit allen Kräften dazu beizutragen, die Chance nicht zu versäumen, die sich uns heute bietet. Nämlich die Chance, daß Europa zum Ende dieses Jahrtausends zum ersten Mal in seiner dramatischen Geschichte zu einer festen Gemeinschaft demokratischer Staaten und freier Bürger werden kann, daß es bald ein Kontinent werden kann, von dem dauerhaft der Geist der Verständigung, der Toleranz und der gleichberechtigten Zusammenarbeit in die Welt ausstrahlen wird.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.