Predigt an Christi Himmelfahrt in der Hohen Domkirche in Aachen vor der Verleihung des Karlspreises an Prof. Timothy Garton Ash
Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,
sehr geehrte Gäste aus ganz Europa,
sehr geehrter Karlspreisträger des Jahres 2017, Herr Prof. Ash,
im letzten Jahr hat unser diesjähriger Karlspreisträger „Zehn Prinzipien für die Redefreiheit in der digitalen Welt“ formuliert.
Die Nummer sechs dieser Prinzipien lautet: „Wir respektieren alle Gläubigen, aber nicht unbedingt alle Glaubensinhalte“.
Auch in der vernetzten Welt dürfen also alle Glaubensinhalte aller Gläubigen aller Religionen jedem zugänglich gemacht werden. Jeder soll seine Glaubensüberzeugungen überall frei äußern dürfen.
Religionsfreiheit ist auch digital ein Menschenrecht.
Neu aber ist in der digitalen Welt, dass die Glaubensinhalte sich noch viel stärker als bisher von denen lösen können, die sie vertreten.
Ohne als Gläubige persönlich erkennbar zu werden, können Menschen ihre Überzeugungen in bisher unvorstellbarer Schnelligkeit und Reichweite im Netz verbreiten.
In dieser Situation meldet das Prinzip einen Vorbehalt an: Respekt dem Gläubigen, aber kritische Prüfung, ja vielleicht sogar Ablehnung dessen,
was er vertritt.
Doch beißt sich hier nicht, bildlich gesprochen, die Katze in den Schwanz?!
Um einen Glaubensinhalt kritisch einschätzen, ja ablehnen zu können, brauche ich eine eigene Überzeugung und eine daraus hervorgehende Position.
Ich muss eben selber ein Glaubender sein, um mich kritisch zum Glaubensinhalt eines anderen positionieren zu können.
Oder wenigstens: Ich muss noch geprägt sein von einer allgemein gewordenen Glaubenseinschätzung, die mich zu meiner Position bringt, damit ich sie kritisch schützen, ihre Gefährdung zurückweisen kann.
Kurz: Europa, das keinen Glauben mehr verinnerlichen oder von ihm geprägt sein wollte, könnte schließlich auch nicht mehr kritisch sein gegenüber jedwedem Glauben.
Am heutigen Hochfest Christi Himmelfahrt möchte ich gerade den Glaubensinhalt dieses Festtages der These von Prof. Ash unterziehen: Warum kann man ihn respektieren?!
Dabei möchte ich zeigen, dass er Europa mit zu dem gemacht hat, was Europa heute ist.
„Der Gott Jesu Christi, unseres Herrn, der Vater der Herrlichkeit,“ hat seine ganze „Kraft und Stärke … an Christus erwiesen, den er von den Toten auferweckt und im Himmel auf den Platz zu seiner Rechten erhoben hat, hoch über alle Fürsten und Gewalten, Mächte und Herrschaften und über jeden Namen, der nicht nur in dieser Welt, sondern auch in der zukünftigen genannt wird“. So fasst der Apostel im Epheserbrief das Festgeheimnis zusammen.
Die ganze Macht Gottes, man kann auch sagen, die ganze Macht, die der Glaube an Gott hat, ist in dieser Welt schon vollendet wahr geworden an einem Menschen, an Christus.
Christus aber ist zugleich der, der an sich und an seinem eigenen Fleisch die ganze Macht der Menschen erlitten hat.
Und die ist immer in der Gefahr umzuschlagen gegen den Menschen selbst: der sich selbst am liebsten Menschensohn nannte, der wurde zum Gekreuzigten.
Und kein Gott hat das verhindert!
Kein Gott hat seine Kraft und Stärke dazu verwandt, ihn zu rächen oder diesen Glaubensinhalt zu unterdrücken: Der von Ewigkeit her der Gottes Sohn ist, der wurde tatsächlich gekreuzigt. Und das Kreuz wurde in Europa und weit darüber hinaus zum überall sichtbaren Zeichen für den Glauben an diesen Gekreuzigten, dessen Macht anders und größer ist als alle Gewalt und Unterdrückung, die ihm und seinen Gläubigen je angetan wurde und wird.
Er wurde in den Himmel aufgenommen, das heißt: die zukünftige Welt, die Welt aller Freiheit, aller Wahrheit, aller Macht nicht gegen, sondern für das Leben der Menschen, fängt in ihm schon an.
Sie ist keine Utopie.
Weder die Gläubigen noch die Atheisten müssen sich deshalb an ihrer endgültigen Verwirklichung abmühen. Und schon gar nicht müssen sie ihr eigenes kleines Leben als Kanonenfutter daran wegwerfen.
Niemand muss für Christus sterben!
Wenn dies dennoch geschieht, dann aus derselben Gewalt, die ihm selbst angetan wurde. Sie läuft sich aber im christlichen Martyrium tot.
Gerade die Kleinen aber, die Unterdrückten, die Verlierer, deren Sterben in dieser Welt niemanden interessiert, sie sind es, die ihm am nächsten kommen, die seinen Sieg als erste von ihm geschenkt bekommen.
In der zukünftigen Welt werden die Letzten die Ersten sein.
Christus, der neue Mensch, der ganz und gar gottfähige Mensch, ist in den Himmel aufgenommen, in ihm beginnt die zukünftige Welt.
Deshalb läuft in den Augen seiner Gläubigen diese Welt nicht einer leuchtenden menschengemachten Zukunft zu, sondern umkehrt: das absolute Ziel aller Welt und Geschichte, das schon erreicht ist, drängt aus der Zukunft in unsere Gegenwart hinein: „Dieser Jesus, der von euch ging und in den Himmel aufgenommen wurde, wird ebenso wiederkommen, wie ihr ihn habt zum Himmel hingehen sehen“, sagen die Engel zu den Jüngern, und sie lenken damit deren Blick vom Himmel auf die Erde zurück.
Der Apostel im Epheserbrief formuliert das Hereindrängen des Vollendeten so: „Er erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr versteht, zu welcher Hoffnung ihr durch ihn berufen seid“.
Es gibt kein Reich Gottes und keinen Gottesstaat, die von unten nach oben gebaut werden könnten.
Es gibt vielmehr die klare Trennung von Mächten und Herrschaften in dieser Welt und von der Macht, die allein der Auferstandene hat und eben nicht seine Jünger: „Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde“, sagt er selbst. In seinen Gläubigen aber wirkt sie sich schon aus in der Kraft der Hoffnung, die von oben stammt und sie erfüllt.
Darum sollen sie dem Kaiser geben, was ihm gebührt: die Steuer und die Befolgung der Gesetze, damit der Staat das Gemeinwohl herbeiführt und sichert.
Gott aber sollen sie alle Erwartungen ihres Herzens, allen Hunger nach Vollendung, alle Suche nach Wahrheit, alle Kraft zur guten Tat an den anderen Menschen, ja an der ganzen Schöpfung geben, damit sie in dieser Welt zu Zeugen werden für ihr Ziel, dessen Zeiten und Fristen Gott allein kennt.
Kann man diesen Glaubensinhalt respektieren?
Ich behaupte: Durch sie wurde und wird Europa fähig, es selbst zu sein.
Und dazu zähle ich: die im Evangelium grundgelegte Idee, dass Staat und Gottesherrschaft strikt zweierlei sind.
Deshalb die freie Kraft zur Kritik am Staat, ohne einen Gegenstaat nötig zu haben; deshalb die Idee der Würde jedes Menschen, weil Christus für ihn starb und ihm das vollendete Leben schon verbürgt; daher die Kraft der Vergebung und der Barmherzigkeit, weil die Macht des Auferstandenen aus Liebe und Stellvertretung für alle kommt und keine Rache kennt; daher die Idee des Sozialen, die als praktizierte Nächstenliebe Kraft aus dem Glauben selber bezieht; deshalb die Zurückdrängung der Gewalt in ein Gewaltmonopol des Staates, das allein der Sicherheit und der Verteidigung der Schwächeren und des Rechtes dienen darf, niemals aber der Sicherung und der Durchsetzung des Gottesglaubens; und schließlich: die Herausbildung des Säkularen und demzufolge einer liberalen Kultur und Kunst und darin alle Ansätze zur Aufklärung, die schon in der Heiligen Schrift selbst beginnen. Sie lassen uns Verstand und Glauben als gleich starke und unauslöschliche Kräfte des Menschen begreifen, und sie müssen nicht in Konflikt oder Unterordnung zueinander gestellt werden, sondern erst in ihrem Zusammenklang bringen sie das Humanum ganz hervor.
Wegen all dem braucht Europa keine eigene Ideologie, um sich selbst zu begründen oder sich gewaltsam durchzusetzen.
Europa ist kein neues Imperium!
Europa hat aus all dem die Kraft, die verheerenden Ideen einer Romantisierung des Staates, einer ideologischen Aufheizung des Nationalstaates oder der Idealisierung eines Gottesstaates zurückzuweisen. All das braucht Europa nicht, duldet Europa nicht!
Die Sehnsucht des Menschen nach Gewissheit aber, nach Sicherheit, ja nach Vollkommenheit wird mit dem Glaubensinhalt des heutigen Festtages zutiefst beantwortet: Christus, der im Himmel und alle Tage bei uns ist bis zum Ende der Welt, verbürgt uns die Vollendung.
Das hat die Kraft, die Glaubenden zu erlösen vom eigenen Streben nach Perfekion in dieser Welt und darum auch von der Gefahr, den Staat zu überhöhen.
Europa kann und will heute säkular sein und eine solche Kultur pflegen und allen anbieten, die darin leben wollen.
Alle Glaubensinhalte aber, die diese säkulare Kultur bekämpfen und zerstören wollen, muss Europa zurückweisen, das verlangt das sechste Prinzip von Prof. Ash.
Europa braucht aber dazu heute mehr als nur das Narrativ der Vergangenheit: seine Gründungsgeschichte nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkrieges und den nationalsozialistischen Verbrechen unseres Landes an unzähligen Menschen.
Europa muss immer wieder dazu kommen, die Idee seiner Liberalität und Säkularität als eigenen Glaubensinhalt zu begreifen, wertzuschätzen und zu verinnerlichen, weil er hervorgeht aus dem Evangelium von dem, der in den Himmel aufgenommen ist.
Darum bin ich überzeugt, dass die Idee der neuen Evangelisierung Europas auch seinem eigenem Selbstverständnis dient und es befördert als Raum des Säkularen, der Meinungsfreiheit, der Redefreiheit, der Gewaltenteilung und der religiösen Neutralität des Staates.
Denn alle diese Errungenschaften Europas stehen eben nicht im Gegensatz zu dem, der sagt: „Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde. Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern“. Amen.