Als Timothy Garton Ash vor ein paar Wochen anregte, dass ich die Laudatio anlässlich der Verleihung des Karlspreises an ihn halten sollte, konnten wir nicht vorhersehen, dass diese Feier wegen eines tragischen Ereignisses in einer Atmosphäre der Trauer und der Wut stattfinden würde. Ein neuerliches Verbrechen islamistischer Terroristen scheint die Sichtweise zu bestätigen, dass wir uns mitten in einem globalen Bürgerkrieg befinden. Dennoch ist unser vorherrschendes Gefühl vor allem das der Solidarität mit den Familien der Opfer und mit dem Vereinigten Königreich. Und wer kennt die Bedeutung des Wortes „Solidarität“ besser als unser Preisträger? Timothy, wir sind heute mit unseren Gefühlen und Gedanken bei dir, in Manchester.
Als der Professor mich gefragt hat, habe ich mit Freude und ohne einen Moment des Zögerns zugesagt. Nicht nur wegen meiner natürlichen Eitelkeit und eines Gefühls des Stolzes darauf, dass ich von einem der herausragendsten Historiker und Intellektuellen unserer Zeit für diese Aufgabe ausgewählt wurde, dessen Bücher mir und meiner ganzen Generation (nicht nur in Polen und Mitteleuropa) wichtige Leitlinien an die Hand gegeben haben – genau dreißig Jahre lang. Auch, weil er mich gebeten hat, meine Rede auf Polnisch zu halten – wobei ich meine große Freude über diesen Vorschlag nicht verbergen kann. Der wichtigste Grund jedoch ist das Gefühl – zumindest meinerseits – einer besonderen Verbundenheit mit Professor Timothy Garton Ash. Erstens, Verbundenheit wegen des gemeinsam zurückgelegten Weges; zweitens, Verbundenheit aufgrund politischer Glaubensgrundsätze; drittens, Verbundenheit dank eines gemeinsam geteilten moderaten Optimismus.
Unser gemeinsamer Weg begann im August 1980 auf der Danziger Werft während des großen Streiks, aus dem die Solidarność-Bewegung hervorging. Dort richteten sich die Sehnsüchte aller Polen unter dem kommunistischen Joch auf einen zentralen Punkt: den Wunsch nach Meinungs- und Religionsfreiheit, Wahrhaftigkeit im öffentlichen Leben, Rechtsstaatlichkeit, menschlicher Würde und danach, der Allmacht der regierenden Partei Einhalt zu gebieten. Zu jener Zeit war ich damit beschäftigt, eine unabhängige Studentenbewegung zu organisieren, während Timothy für sein Buch über die polnische Revolution Nachforschungen anstellte. Einige Jahre später veröffentlichten wir das Buch in einem Untergrundverlag. Es wurde sofort zur Pflichtlektüre für die Elite der illegalen Solidarność. Beim Lesen wurde mir klar, dass ich daran beteiligt war, Geschichte zu schreiben – für einen politisch engagierten Historiker war das von außergewöhnlicher Bedeutung. (Ja, wir sind beide Historiker; oder genauer gesagt, ich war nur ein gewöhnlicher Geschichtsstudent; Professor Ash ist ein außergewöhnlicher Geschichtsdozent. Mir ist klar, dass es hier einen Unterschied gibt – das müssen Sie mir glauben –, aber lassen Sie mich bitte nur für die Dauer der heutigen Feier das Gefühl haben, ein Mitglied derselben Gemeinschaft zu sein.)
Wir haben beide fest an die Idee der Integration ganz Europas und an ihren Erfolg in der Zukunft geglaubt, und wir haben beide getan, was wir konnten, damit sie Wirklichkeit wird. Mein Verdienst ist dabei viel geringer: Schließlich lag der Beitritt meines Landes für mich als Polen in meinem ureigenen Interesse. Professor Ash war bei diesem Prozess in viel stärkerem Maße der Idealist; dennoch haben seine Bemühungen tatsächlich zu sehr praktischen Ergebnissen geführt. Vor Kurzem haben wir die Seiten gewechselt. Während des Brexit-Dilemmas hat unser heutiger Preisträger sich in seinem eigenen berechtigten Interesse für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU eingesetzt; wie ich auch – und ich tat es aus idealistischen Gründen. Mit dem Unterschied, dass meine Bemühungen zu keinerlei praktischen Ergebnissen geführt haben. Lassen Sie mich noch eine weitere Erfahrung erwähnen, die wir teilen: Wir wurden beide intensiv von der Stasi überwacht, woraus einige dicke und äußerst interessante Aktenordner entstanden sind.
Dies ist weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort für nostalgische Reisen in eine weit zurückliegende Vergangenheit, vor allem da unser Protagonist oft als Meister der Geschichte der Gegenwart bezeichnet wird. Eine Sache möchte ich jedoch mit Nachdruck betonen: Für alle vernünftig denkenden und engagierten Polen waren (und sind) Ihre Präsenz in schwierigen Zeiten, Ihr Insiderwissen und Ihr Mitgefühl – das man, verzeihen Sie mir, von einem Engländer nicht erwarten würde – von unschätzbarem Wert und von höchster Bedeutung, da sie uns Mitteleuropäer auf unserem Weg in die Freiheit begleitet haben. Last but not least sind unsere Ehefrauen beide Polinnen, und das finden wir beide gut.
Zweitens, die Verbundenheit aufgrund politischer Glaubensgrundsätze. Wir glauben, dass das, was Europa vereint, was alle Europäer verbindet oder verbinden sollte, unser Bekenntnis zur Freiheit und zu einigen wenigen Grundsätzen ist, die vielleicht ein wenig altmodisch anmuten, zusammen aber ein politisches Phänomen darstellen (meiner persönlichen Ansicht nach die wichtigste Erfindung des Menschen), das „freiheitliche Demokratie“ genannt wird. Europa ist heutzutage ein Schmelztiegel verschiedener Nationen und Volksgruppen, vieler Religionen und Sprachen, unterschiedlicher Traditionen und Schicksale. Die Freiheit in ihren unterschiedlichen Dimensionen gibt unserem Zusammenleben auf diesem – objektiv gesehen – besten, jedoch immer noch recht problembeladenen Flecken Erde seine Bedeutung. Diese Freiheit – zusammen mit der Kultur – verleiht dem Westen auch im politischen Sinne seine Bedeutung. Wer versucht, dies zu ändern, ob von innen oder von außen, der muss sich unzweideutig und immer wieder sagen lassen, dass die Freiheit das Wesen Europas ausmacht.
Aus diesem Grunde ist es so wichtig, möglichst enge und lang anhaltende Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu pflegen – zumindest so lange, wie diesem Wert auch auf der anderen Seite des Atlantiks prioritäre Bedeutung beigemessen wird. Morgen treffe ich Präsident Trump, und ich will versuchen, ihn davon zu überzeugen, dass das Wesen der euro-atlantischen Beziehungen in der Zusammenarbeit der Freien für die Freiheit liegt; dass wir unser Erbe der Freiheit gemeinsam verteidigen sollten, wenn wir ein Szenario verhindern wollen, das vor kurzem in München von unseren Gegnern schon als „post-westliche Weltordnung“ bezeichnet wurde.
Unsere dritte Gemeinsamkeit ist ein moderater Optimismus. Hier wird es etwas komplizierter. Im Januar hat Professor Ash in einem Artikel für The New York Review of Books geschrieben, dass er, wenn er im Januar 2005 kryogenisch eingefroren worden wäre, sich als glücklicher Europäer zur Ruhe gelegt hätte. Damals befand sich der Kontinent in einem Einigungsprozess, voll Begeisterung für Europa, die europäische Verfassung stand kurz vor ihrer Verwirklichung, die gemeinsame Währung – entgegen skeptischer Meinungen – erwies sich als Erfolg, das Vereinigte Königreich unter Premierminister Blair bekannte sich klar dazu, dass der Ärmelkanal viel schmaler war, als es vorher den Anschein hatte, und Euro-Begeisterte in der unmittelbaren Nachbarschaft der EU, beispielsweise in Kiew, bekamen Aufwind.
In seinem Artikel schreibt Professor Ash weiter: „Wenn ich im Januar 2017 wieder aufgetaut worden wäre, wäre ich sofort wieder an einem Schock gestorben. Denn heute sehe ich überall Krise und Zerfall.“ Er erwähnt Probleme mit dem Euro, den Brexit, antiliberale Tendenzen in seinem geliebten Warschau und in Budapest (wie auch an vielen anderen Orten unseres Kontinents und anderswo), die unsichere Zukunft der Integration, das Misstrauen gegenüber der Idee und der praktischen Umsetzung der Freizügigkeit (in der Tat einer der Hauptgründe für den Brexit) sowie die Intervention Russlands in der Ukraine. Hinzu kommen noch die tragischen Anschläge in Paris, Nizza, Brüssel, Stockholm, Berlin, Kopenhagen, London und Manchester sowie das immer noch ungelöste Problem des massiven Zustroms von Flüchtlingen und Migranten.
Unter solchen Umständen wird ein Politiker, der – selbst in moderatem Maße – Optimismus zeigt, bestenfalls wohl als naiv betrachtet, selbst wenn er rationale Argumente für seine Sicht der Dinge anführt. Aber ich nehme diese Gefahr in Kauf. Was den Euro angeht, so waren jüngste Gespräche mit den Griechen im Rahmen der Eurogruppe recht vielversprechend. Nach einer langen Unterhaltung mit dem neuen französischen Präsidenten habe ich die Gewissheit, dass wir einen neuen starken Befürworter einer Reform der gemeinsamen Währung haben. Die Ukraine hält entschlossen an ihrer pro-europäischen Linie fest; eines der Ergebnisse dieser Haltung ist die neue Regelung für visumfreies Reisen. Mitteleuropa ist ein Beweis dafür, wie stark sich die Menschen – im Gegensatz zu einigen Regierungen – mit der Europäischen Union verbunden fühlen und wie entschlossen sie für ihren Verbleib darin kämpfen. Angesichts des Brexit haben sich die Länder der EU der 27 enger zusammengeschlossen als je zuvor, wobei mir bewusst ist, dass dies nur ein schwacher Trost für unseren Preisträger ist. Die Wahlergebnisse in Österreich, den Niederlanden, Bulgarien und Frankreich sowie die Wahlprognosen für Deutschland zeigen, dass die Idee eines integrierten, demokratischen Europas stärker ist als populistische Reden. Dies reicht zwar nicht, um uns die Stimmung von 2005 zurückzugeben, dient aber als hinreichende Rechtfertigung für Professor Ashs abschließende Bemerkungen in seinem Artikel: „An einem schlechten Tag für Europa, und davon gab es 2016 mehr als genug, hat man das Gefühl, in einen eisigen Winterschlaf zu fallen; aber jetzt ist keine Zeit für Erstarren. Am Beginn eines erfolgreichen Kampfes muss man genau verstehen, welche Konsequenzen welcher Aspekte des wirtschaftlichen und sozialen Liberalismus in der Ära nach dem Mauerfall [...] so viele Menschen verprellt haben, sodass sie jetzt für Populisten stimmen, die wiederum eine Gefahr für die Grundlagen des politischen Liberalismus darstellen. Nach einer eingehenden Diagnose müssen die liberalen Linken und die liberalen Rechten politische Strategien präsentieren und diese in einer verständlichen, emotional mitreißenden Sprache vermitteln [...] Vom Ausgang dieses Einsatzes wird der Charakter und die zukünftige Bezeichnung unserer derzeit namenlosen Ära abhängen.“
Ich betrachte diese Botschaft von Professor Ash als eine Verpflichtung für mich selbst, und ich meine dies in aller Ernsthaftigkeit. Einer der bedeutendsten Filme von Andrzej Wajda für unsere ganze Generation war – auf Polnisch – Popiół i diament. Die wörtliche Übersetzung des Titels ins Englische lautet „Ash and Diamond“. Im Rahmen unserer heutigen Feier bekommt dies eine spezielle Bedeutung. In Ihrem besonderen Fall, lieber Preisträger, bedeutet „Ash“ „Diamond“.