Es ist für mich eine hohe Ehre, heute in dieser berühmten deutschen und europäischen Stadt Aachen, auch Aix-la-Chapelle genannt, den Karlspreis zu erhalten.
Es erfüllt mich auch mit Stolz, daß mein Name zu der glänzenden Liste von Preisträgern gefügt wird, die alle so hervorragend zu der mitreißenden Idee der europäischen Einheit und Brüderlichkeit beigetragen haben. Es freut mich ganz besonders, daß mein unmittelbarer Vorgänger der Herr Bundeskanzler selbst ist. Kein Einzelner hat sich mehr als Dr. Adenauer bewußt dafür eingesetzt, daß Deutschland zurückgeführt wurde in den Kreis der freien Völker, die mit Hoffnung in die Zukunft blicken. Ich erinnere mich an mein erstes Zusammentreffen mit ihm in Den Haag vor acht Jahren. Ich habe die große Leistung, die er für sein Land vollbracht hat, aufmerksam verfolgt und mich über seinen Erfolg herzlich gefreut.
Dr. Pfeiffer und seine Mitbürger der Stadt Aachen haben mit der Schaffung dieses Preises und der Festlegung der Bedingungen für seine Verleihung in der Tat ungewöhnlichen Gedankenreichtum bewiesen. Der Name Karls des Großen lag ihnen natürlich sehr nahe, denn hier wurde Karl der Große bestattet. Schon bevor er seine Herrschaft Jahrhunderte nach dem Zerfall des römischen Imperiums aufrichtete, hatten weiteste Schichten der Bevölkerung Europas sich dem Gedanken verschlossen, es müsse in der Welt so zugehen, daß einander bekriegende Stämme, deren Streitigkeiten ihr ganzes Leben beherrschten, die Regel waren. So wie es eine Weltkirche gab, schwebte den Menschen jener Zeit in schwachen Umrissen der Gedanke vor, es müsse irgendeine anerkannte Herrschaftsgewalt geben, um die Ordnung im Innern zu wahren und Einfälle von außen zu verhindern. Und so wurde die Wiedererrichtung des römischen Imperiums unter Karl dem Großen an jenem Weihnachtstage an der Wende des achten Jahrhunderts von fast allen mit einem Seufzer der Erleichterung in der Hoffnung begrüßt, daß jetzt Frieden und Wohlstand zurückkehren würden und die größere Einheit, die einst bestanden hatte. Aber ach, der Gedanke war zu schön, um wahr zu sein. Die Einheit konnte noch nicht einmal 50 Jahre hindurch gewahrt werden. Kriege zerrissen Europa über tausend Jahre hindurch. Es waren seit dem Tode Karls des Großen genau 1100 Jahre vergangen, als im Jahre 1914 ein Krieg, wütender und verheerender als alle vorherigen, zwischen den Staaten ausbrach, deren Grenzen so nahe bei dieser Stadt liegen. Ich brauche nicht das dann folgende Vierteljahrhundert voll unruhigen Friedens und flackernder Hoffnung zu schildern, das im Jahre 1939 sein Ende fand. Es ist auch nicht notwendig, heute noch einmal die sechs Jahre zu beklagen, die dann folgten. Sie in dieser Stadt kennen sie nur zu gut - jedoch, wie ich gerne denke, nicht so, daß es Sie daran gehindert hätte, mich so zu empfangen, wie Sie es getan haben.
Ich bin seit der Potsdamer Zusammenkunft vor elf Jahren nicht mehr in Deutschland gewesen. Ich mußte wieder abreisen, bevor sie beendet war, weil in Großbritannien allgemeine Wahlen stattfanden, und bin danach nicht wieder zurückgekehrt. In diesen elf Jahren hat sich vieles ereignet. Während der ersten beiden Jahre verfolgte Rußland eine Politik, die es von seinen Alliierten trennte. Jetzt hören wir von hoher russischer Stelle, daß dies die ?stalinistische Politik? gewesen sei, und der damals allmächtige Stalin ist heute tot. Inzwischen nahmen aber die Ereignisse ihren Fortgang. Während der stalinistischen Ära folgte sehr schnell zwischen dem britischen Commonwealth und den Vereinigten Staaten einerseits und der großen Masse Westdeutschlands andererseits die Aussöhnung. Das war in der Tat ein historisches Ereignis. Es hat unter anderem zu der Bildung der NATO geführt, die nunmehr nicht weniger als fünfzehn Staaten umfaßt, von Kanada und den Vereinigten Staaten bis zur Türkei und von Island bis Italien und Portugal. Dieser Vertrag, in dem Deutschland ein Partner ist, ist eine feierliche Bekräftigung der Einheit Europas und der Entschlossenheit der Vereinigten Staaten, über den Atlantischen Ozean zurückzukehren und bei ihrer Aufrechterhaltung eine Rolle zu spielen, die nur die führende sein kann.
In diesen Überlegungen werden uns Frankreich und das tapfere französische Volk sehr beschäftigen. Ich habe immer empfunden und es auch in Zürich im Jahre 1946 ausgesprochen, daß es zu den vornehmsten Pflichten und Vorrechten Frankreichs nach 1945 gehöre, alle Bitterkeit zu begraben und Deutschland bei der Hand zu nehmen und in die europäische Familie zurückzuführen. Der Beitrag Frankreichs zur Einheit Europas ist sehr groß und seine Aufnahme in Deutschland ist von unschätzbarem Wert gewesen. Keinen geringen Raum nehmen darin die Ideen eines früheren Trägers des Karlspreises, J. Monnets, ein. Heute steht Frankreich in Nordafrika vor sehr ernsten Schwierigkeiten, und seine Verbündeten sollten ihm bei dem Bemühen, eine gerechte Lösung zu erreichen, ihre volle Unterstützung leihen.
Die NATO ist eine ungewöhnliche Leistung und der Ausdruck der Entschlossenheit einer kriegsmüden Welt, ihre eigene Organisation mit solcher Stärke und Macht aufzubauen, daß hinfort Friede herrscht. Der Grundsatz des Vertrages ist einfach in seiner Großartigkeit. Wir alle vereinen unsere Anstrengungen und sind feierlich verpflichtet, den Angreifer zu bekämpfen, wer er auch sei. Eine neue Frage ist durch die kürzliche Entthronung Stalins in Rußland aufgetaucht. Wenn sie aufrichtig gemeint ist, haben wir es mit einem neuen Rußland zu tun, und ich selbst erblicke keinen Grund, warum, wenn dem so ist, das neue Rußland sich nicht dem Geiste dieses feierlichen Abkommens anschließen sollte. Wir müssen einsehen, wie tief und aufrichtig die russischen Befürchtungen wegen der Sicherung ihrer Heimat gegen eine Invasion von außen sind. In einer wahren Einheit Europas muß Rußland seine Rolle erhalten. Ich habe mit Freude gesehen, daß die jüngsten Änderungen in den russischen Anschauungen auf Polen schon jetzt nicht ohne Wirkung geblieben sind. Es kann sein, daß andere Änderungen folgen werden, die Tschechoslowakei ihre Freiheit wiedergewinnt und vor allem Deutschland wiedervereinigt wird.
Wir würden unüberlegt und tadelnswert handeln, wollten wir versuchen, das Problem der europäischen Einheit, in dem die Wiedervereinigung Deutschlands einen lebenswichtigen Teil bildet, durch einen Gewaltstreich zu lösen. Wir müssen Gewalt mit jedem uns zur Verfügung stehenden Mittel vermeiden. Die einzige Einheit, die der Gewalt entspringen könnte, wäre eine Einheit von Asche und Tod.
In gleicher Weise wäre es ein für die NATO tödlicher Fehler, wollten wir jetzt erlahmen und durch Apathie das zunichte machen, was durch die Planung und die Geldopfer der letzten acht Jahre erreicht worden ist. Ich habe ziemlich ausführlich über die NATO gesprochen, und ich möchte nicht den Eindruck hinterlassen, daß ich sie als den einzigen und ausschließlichen wirksamen Ausdruck der Bewegung zur europäischen Einheit betrachte. Niemand kann die Nützlichkeit der Westeuropäischen Union, des Wirtschaftsrats, der Montangemeinschaft in Zweifel ziehen und des Europarats, der in Straßburg tagt. Mit diesem stehen viele von Ihnen in so enger Beziehung. Aber ich glaube doch, die Hauptidee unserer Rettung sollte das große Bündnis der europäischen Mächte in Verbindung mit Kanada und den Vereinigten Staaten sein. Das britische Commonwealth umschließt als Mitglieder Australien, Neuseeland und Südafrika, obgleich diese Länder nicht Mitglieder des NATO-Paktes sind. Ich wiederhole, daß dieses System seinem Geiste nach Rußland und die europäischen Staaten nicht ausschließen sollte. Es kann sehr wohl sein, daß die großen Probleme, die uns so viel Sorge bereiten und zu denen als eines der ernstesten die Wiedervereinigung Deutschlands gehört, alsdann leichter gelöst werden könnten, als wenn feindliche Blöcke einander mit Mißtrauen und Feindschaft gegenüberstehen. Dieser Gedanke gehört der Zukunft an. Gehen wir auf sie zu, indem wir geduldig und beständig die Vorkehrungen verstärken, die wir bisher geschaffen haben.
Ich danke Ihnen für den freundlichen Empfang, den Sie mir und meiner Frau bereitet haben. Wir beide nehmen höchst erfreuliche und bleibende Erinnerungen an diese Veranstaltung mit auf den Weg.