Sehr geehrter Herr Bürgermeister,
Sehr geehrte Damen und Herren Mitglieder des Direktoriums des Karlspreises der Stadt Aachen,
ich wende mich zuerst an Sie, um Ihnen aus tiefstem Herzen für die große Ehre zu danken, die Sie mir zuteil werden ließen, indem Sie mir einen Preis verliehen haben, der in meinen Augen angesichts der Verdienste der außergewöhnlichen Männer, die diese Auszeichnung vor mir in Empfang genommen haben, von unschätzbarem Wert ist. Darüber hinaus bin ich mir der Tatsache bewußt, die erste Frau zu sein, die mit diesem Preis ausgezeichnet wird, und ich hoffe, daß die Kühnheit Ihrer Entscheidung nicht die Ruhe des großen Kaisers des Abendlandes gestört hat, dessen Name dieser Preis trägt. Gestatten Sie mir schließlich die Vermutung, daß Ihre Wahl sich über meine Person hinaus auf die Tätigkeit des gesamten Europäischen Parlaments bezogen hat.
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie zu einem kurzen Ausflug in die verzauberte Welt der Träume und Märchen entführen. Ein vor kurzem angelaufener Film erzählt die Geschichte eines jungen Mannes von heute, der um fünfzig Jahre in ein früheres Leben zurückversetzt wird und dort einer jungen Frau zuliebe die Welt um sich herum neu aufbaut. Wir wollen umgekehrt verfahren und Europa zuliebe diejenigen wiederaufleben lassen, die es aus der Taufe gehoben haben.
Stellen wir uns vor, Robert Schuman, Jean Monnet, Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi, Paul-Henri Spaak, Joseph Bech, um nur einige der berühmtesten unter ihnen zu nennen, wären hier gemeinsam mit uns versammelt, um den Aufbau Europas zu beurteilen und über seine Zukunftsaussichten nachzudenken. Sie fragen sich, was aus ihren Hoffnungen geworden ist, wie ihre Nachfolger ihre Pläne in die Tat umgesetzt haben, welche neuen Initiativen ergriffen werden müßten, um den von ihnen begonnenen Aufbau fortzusetzen.
Ihre erste Feststellung lautet, daß Europa noch immer besteht, wenn es auch nicht genau ihren Träumen oder sogar ihren Plänen entspricht. Die Gemeinschaft hat sich zweimal erweitert; sie hat jedoch weitgehend ihr ursprüngliches Gepräge beibehalten, da der institutionelle Rahmen selbst sich nur wenig geändert hat. Bei genauer Betrachtung dieses Europa sind sie verblüfft durch das Wirtschaftswunder, das es erlebt hat und den Lebensstandard, den es so erreicht hat, und fasziniert von gewissen technischen Errungenschaften.
Gleichzeitig jedoch sehen sie die Schattenseiten: die Wolken, die sich über und um Europa zusammengeballt haben, bereiten ihnen große Sorgen, mehr vielleicht noch als uns, wo früher Vollbeschäftigung herrschte, gibt es viele Arbeitslose. Die Rohstoffversorgung Europas, insbesondere im Energiebereich, ist nicht mehr gesichert. Der innere Frieden ist gefährdet durch den Terrorismus. Die internationalen Spannungen lassen das Schlimmste befürchten. Auf die Hoffnungen, die auf die sich ausbreitende positive Wirkung eines von Europa geschaffenen friedlichen Zeitalters gesetzt wurden, folgt eine neue Periode der Spannungen, die sich in den meisten Gebieten der Erde äußern und bei denen sich stets die beiden Blöcke gegenüberstehen.
Nach diesem ersten Eindruck wollen sie jedoch eingehender Bilanz ziehen. Sie stellen ebenfalls fest, daß Europa trotz seiner Schwierigkeiten größere Fortschritte erzielt hat, als auf den ersten Blick sichtbar sind. Zwischen den zehn Mitgliedstaaten der Gemeinschaft sind enge Bande geknüpft worden, die sämtliche wirtschaftlichen und sozialen Bereiche betreffen und dank einem dichten Netz von Gesetzen und Vorschriften Gewohnheiten und Verhaltensweisen geschaffen haben, die die Feststellung erlauben, daß ein großer Teil des Wirtschaftslebens sich auf europäischer Ebene abspielt.
Beziehungen wurden aufgenommen mit 60 Ländern Afrikas, der Karibik und des Pazifik, wodurch die Tätigkeit der Gemeinschaft bis zu den entferntesten Regionen der Welt erweitert wurde zugunsten von Frieden und Solidarität.
Außerdem sind die meisten europäischen Währungen miteinander verbunden und unterstützen sich gegenseitig aufgrund der Schaffung des Europäischen Währungssystems. Die Versammlung der Europäischen Gemeinschaften ist heute, wie sie es von Anfang an gewünscht hatten, ein direkt gewähltes Parlament, das über wirkliche haushaltspolitische Kompetenz verfügt.
Außerdem hat es eine Autorität und Legitimität erworben, die es ihm gestatten, einerseits eine demokratische Kontrolle über die anderen Institutionen der Gemeinschaft auszuüben und andererseits die Glaubwürdigkeit der europäischen Wirklichkeit zu verstärken. Was die europäische Außenpolitik anbelangt, so ist sie, wenn sie auch nicht einheitlich und zentralisiert geführt wird, doch Gegenstand regelmäßiger Konzertierungen sowohl zwischen den Außenministern als auch zwischen den Staats- bzw. Regierungsoberhäuptern der zehn Mitgliedstaaten, die versuchen, gemeinsame oder zumindest konzertierte Haltungen gegenüber den bedeutendsten Ereignissen der Weltpolitik einzunehmen.
Wer kann sagen, ob für sie diese Bilanz positiv oder negativ ausfällt? Jeder wird sich seinem Charakter und den Hoffnungen, die er von Anfang an in den Aufbau Europas gesetzt hatte, entsprechend äußern. Ich für meine Person - ich bin zweifellos ein Optimist - stelle fest, daß zwanzig Jahre eine zu geringe Zeitspanne sind, um den Lauf der Geschichte entscheidend zu verändern, und daß in diesen zwanzig Jahren entscheidende Schritte unternommen worden sind, um Länder, die sich bisher gegenseitig bekämpften, dazu zu bringen, miteinander zu leben. Der Frieden zwischen unseren Ländern ist so selbstverständlich geworden, daß die junge Generation sich nicht bewußt ist, was die Tatsache bedeutet, zum ersten Mal in unserer Geschichte mehr als dreißig Jahre lang zu leben, ohne daß das Blut eines einzigen Europäers in einem Konflikt zwischen unseren Staaten geflossen ist.
Was unsere Vorgänger in dieser Bilanz der Gegensätze, die die Gründerväter Europas sicher mehr überrascht als uns, die wir die neuere Entwicklung miterlebt haben, jedoch am meisten ängstigt - wir müssen dies ohne Scheu betonen - ist das unbestrittene und besorgniserregende Wiederaufleben der Nationalismen.
Angesichts der weltweiten Krise machen sich die Regierungen zum Sprecher der nationalen Aggressivitäten, anstatt zu versuchen, gemeinsam die Zukunft aufzubauen.
Nach dieser Beschwörung unserer Vorgänger wollen wir sie in ihre wohlverdiente Ruhe und ihren Frieden zurückkehren lassen und unsere Aufmerksamkeit auf die Probleme richten, für die wir selbst die Verantwortung tragen.
Die gegenwärtigen Bilanz kann uns in der Tat nicht zufriedenstellen, denn wenn ein Unternehmen wie der Aufbau Europas den Eindruck vermittelt, einen Stillstand erreicht zu haben, besteht die Gefahr, daß es zugrunde geht. Nun ist die nationale und internationale wirtschaftliche Lage derart schlecht, daß die Gefahr der Auferstehung der Dämonen des Isolationismus groß ist. Erliegen die Mitgliedstaaten dieser Versuchung, wären die Überlebenschancen Europas ernsthaft bedroht. Unter diesen Bedingungen ist es legitim, zu untersuchen, wie es Europa unter den gegenwärtigen Umständen gelingen könnte, neuen Auftrieb zu erlangen. Ich möchte gleich feststellen, daß meine Einstellung, wie die einiger meiner Vorgänger, rein pragmatisch ist, und ich werde mich an dieser Stelle nicht mit den berechtigten Hoffnungen befassen, die wir im Hinblick auf eine mehr oder weniger weit entfernte Zukunft äußern können, sondern mich darauf beschränken, Überlegungen über die gegenwärtig und in nächster Zukunft offenstehenden Möglichkeiten anzustellen.
An erster Stelle möchte ich betonen, daß in den vor einigen Jahren gehaltenen Ansprachen die Ausdrücke, mit denen die Lage Europas beschrieben wurde, genau so pessimistisch waren wie die, die wir heute verwenden. Nun sind jedoch in der Zwischenzeit bedeutende Maßnahmen ergriffen worden, und der Aufbau Europas ist, ohne daß wir uns dessen bewußt sind, wahrscheinlich, weil wir zu sehr darin verwickelt sind und die Entwicklungen von Tag zu Tag nicht wahrnehmen, in Wirklichkeit vorangeschritten. Zweifellos hat sich die europäische Wirklichkeit außerhalb der Gemeinschaft behauptet, während übrigens gleichzeitig die von Drittländern in Europa gesetzten Erwartungen gestiegen sind. Diese Feststellungen müssen uns dazu führen, uns nicht entmutigen zu lassen und weiterhin einen, wenn auch langsamen, so doch realen Aufwärtstrend zu verfolgen. Wir wollen also heute untersuchen, welches die größten Probleme sind, denen Europa gegenübersteht und versuchen, Mittel und Wege zu finden, sie zu lösen.
Meistens erwähnt man mit Erstaunen die durch die Haushaltskrise hervorgerufene Blockierung der Arbeit der Institutionen. In Wirklichkeit ist diese Krise, da wir uns nicht mehr in einer Periode des Aufschwungs befinden, die gleichsam automatische Konsequenz des bestehenden Systems: Beschränkung der Mittel, unabwendbare Steigerung der Ausgaben, schließlich Regeln zur Verteilung der Haushaltsmittel. Seitdem dieses System nicht mehr unter Bezugnahme auf die individuelle Entwicklung jedes dieser drei Parameter angepaßt wurde, wurde deutlich, daß der Erfolg der Gemeinsamen Agrarpolitik die Haushaltsmittel erschöpfen würde und die am wenigsten von der Gemeinsamen Agrarpolitik begünstigten Länder sich durch die Finanzordnung geschädigt fühlen würden. Kann man jedoch akzeptieren, daß dieses Problem als unlösbar erscheint und sogar die Existenz der Gemeinschaft bedroht, wenn man weiß, daß die Ausgaben der Gemeinschaft knapp 1 % des Bruttosozialprodukts der zehn Mitgliedstaaten betragen, und man den Gewinn, den sämtliche Länder aus der Gemeinschaft gezogen haben, insbesondere infolge der Einführung des freien Handelsverkehrs und der gemeinsamen Agrarpolitik, zu würdigen weiß? Diese Feststellung unterstreicht gleichzeitig die Bedeutung der Lösung des von mir erwähnten Problems und die Tatsache, daß ein Minimum an politischem Willen es gestatten würde, eine Lösung zu finden. Man muß sich jedoch der Tatsache bewußt sein, daß der Fortschritt nur um den Preis eines politischen Willens, der von jedem Opfer abverlangt, weitergehen kann.
Einige glauben, daß nur eine Reform der Institutionen diesen politischen Willen hervorrufen und die Bedingungen für die erforderliche Dynamik wieder beleben könnte. Ich frage mich, ob hier nicht die logische Reihenfolge der Faktoren auf den Kopf gestellt wird. Wenn die Institutionen im Sinne derjenigen, die ihre Hoffnungen in eine solche Reform der Verträge setzen, geändert werden könnten, wo würde dies bedeuten, daß in den Mitgliedstaaten der Politische Wille besteht, Lösungen für jedes Problem zu finden. Aus diesem Grund glaube ich, daß es besser wäre, anstatt sich von einer Änderung der Institutionen einen Aufschwung der europäischen Dynamik zu erwarten und um zu verhindern, daß die Zeit und die Streitigkeiten die Zukunft gefährden, bereits jetzt zu untersuchen, wie man im gegenwärtigen institutionellen Rahmen einen schwächer werdenden Willen beleben und die Arbeit des Systems verbessern könnte.
Ich weiß sehr wohl, daß den Persönlichkeiten, die nacheinander mit der Aufgabe beauftragt wurden, Vorschläge zur Verbesserung der Arbeit der Institutionen vorzulegen, trotz der Bescheidenheit und dem Wirklichkeitssinn dieser Vorschläge noch keine Beachtung geschenkt wurde. Leider muß festgestellt werden, daß der Bericht der Weisen einfach in Vergessenheit geraten ist, genauso wie der Bericht von Herrn Tindemans.
Trotzdem lassen einige Hinweise den Gedanken zu, daß die Situation noch nicht hoffnungslos ist. An erster Stelle hat es die Arbeit des Europäischen Parlaments der Öffentlichkeit ermöglicht, sich der Zwangslage bewußt zu werden, in die das gemeinschaftliche Leben zu geraten drohte, und weiterhin die Regierungen und die Kommission gezwungen, zu handeln. Das am 30. Mai an die Kommission erteilte Mandat ist der Ausdruck dieses Willens.
Außerdem sind sich die Mitgliedstaaten, vertreten durch ihre Regierungschefs, der Notwendigkeit für Europa bewußt geworden, eine besser koordinierte Außenpolitik zu führen. Die Gründe für diese Erkenntnis sind vielfältig. An erster Stelle kann niemand leugnen, daß in der heutigen Welt keine gemeinschaftliche Wirtschaftspolitik möglich wäre, die nicht durch ein Minimum an Übereinstimmung bei der Führung der Außenpolitik unterstützt und fortgesetzt wird. An zweiter Stelle hat die Zurückhaltung der Vereinigten Staaten auf der internationalen politischen Szene im Laufe dieser letzten Jahre die Europäer gezwungen, selbst auf die Versuche der Sowjetunion, diese Schwäche auszunutzen und Erfolge zu erzielen, zu reagieren. Und schließlich ruft die Verschlechterung der Beziehungen zwischen den beiden Blöcken bei den Drittländern Befürchtungen hervor, die sie dazu bringen, sich Europa zuzuwenden und es aufzufordern, die Rolle zu spielen, zu der seine wirtschaftliche und kulturelle Macht es von Natur aus berechtigen.
Dies sind die Gründe, die die meisten Staats- bzw.. Regierungschefs der Länder der Gemeinschaft dazu geführt haben, ohne daß sie deshalb gleich die Idee einer gemeinschaftlichen Haltung im Bereich der internationalen Politik übernehmen, doch das Bedürfnis zu empfinden, die Beziehungen, die es ihnen erlauben, eine konzertierte Außenpolitik zu führen, enger zu gestalten. Hieraus entstand die politische Zusammenarbeit. Sie hat sich positiv entwickelt, selbst wenn die erzielten Ergebnisse oft gegenüber den gewaltigen Einsätzen, die auf dem Spiel stehen, bescheiden erscheinen mögen.
Es stimmt aber, daß allein die Veröffentlichung beruhigender Kommuniqués am Schluß von Gipfeltreffen, die sich mit internationalen Ereignissen zuweilen erst Monate oder Wochen nach dem Geschehen befasse, nicht mehr den Herausforderungen der gefährlichen Welt, in der wir leben, angemessen zu sein scheint. Die politische Zusammenarbeit scheint sich tatsächlich eher als eine Bekundung von Positionen zu manifestieren, die sich darauf beschränken, den vergangenen Ereignissen Rechnung zu tragen, als eine Strategie, die im Voraus die Haltungen definiert, die gegenüber den Ereignissen der Weltpolitik eingenommen werden müssen. Wie kann man unter diesen Bedingungen annehmen, daß die nationalen Politiken sich wirklich in diese Verfahren integrieren können? Wie kann man vor allem annehmen, daß diese Situation es uns gestattet, die für die Aufrechterhaltung unserer Unabhängigkeit und unserer Freiheiten erforderliche Rolle zu spielen und der Aufgabe zu entsprechen, die Europa heute zufällt?
Diesen offensichtlichen Mängeln stehen Vorschläge gewisser Länder oder Persönlichkeiten gegenüber, die danach streben, die politische Zusammenarbeit auf kohärentere Art und Weise zu organisieren. Die Projekte zur Bildung einer politischen Union, oder zur Schaffung eines ständigen Generalsekretariats, die anscheinend vor kurzem in Venlo zur Sprache gebracht wurden, stellen die ersten Vorschläge dar, zu denen sich die Mitgliedstaaten in den kommenden Monaten sicherlich zu äußern haben werden. Der Gedanke einer politischen Organisation Europas wird immer aktueller.
Viele sind zweifellos schon jetzt von dem mangelnden Ehrgeiz dieser Vorhaben enttäuscht und fürchten vielleicht, daß die Planung und später die Verwirklichung einer Europäischen Union in Form eines Paktes zwischen Regierungen das weiterreichende Ziel einer wirklichen Föderation endgültig zur Illusion werden läßt.
Das Parlament selbst wird bereits im Juli mit einer Aussprache über diese institutionellen Probleme beginnen, die zur Klärung der künftigen Aussichten beitragen wird. Es ist natürlich noch zu früh, um Aussagen über die Haltung des Parlaments zu machen, doch seien wir realistisch, es sieht nicht so aus, als sei eines der Mitgliedsländer bereits jetzt bereit, den Weg eines supranationalen Föderalismus zu beschreiten. Jedenfalls ist festzustellen, daß mehrere Mitgliedstaaten diese Vorstellung entschieden ablehnen. Folgen wir also weiter dem Weg der Gründerväter und tun wir das Mögliche. Bemühen wir uns energisch um die Herbeiführung einer politischen Union, die gegenüber der derzeitigen Situation bereits einen gewissen Fortschritt darstellen würde.
Damit diese Bemühungen Ergebnisse zeitigen, ist es jedoch erforderlich, daß gleichzeitig die bestehenden Gemeinschaftsinstitutionen wirklich die Rolle spielen, die ihnen zukommt und die in der Praxis allmählich an Bedeutung eingebüßt hat. Was dies betrifft, so wird das Parlament gewiß Änderungsanträge zur Verbesserung des Ineinandergreifens der Beziehungen zwischen den Institutionen vorlegen, doch bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt könnte effizienter gearbeitet werden, wenn sich alle in höherem Maße durch den Geist der Verträge leiten ließen.
Was den Rat anbelangt, so ist es unerläßlich, daß er nicht nur gewillt ist, Entscheidungen zu treffen, sondern dies auch tun kann.
Daher ist es notwendig, daß die im Rat zusammentretenden Minister mit einem Mandat ausgestattet sind, das so umfassend ist, daß sie ihrer Verantwortung gerecht werden können. Des weiteren müßte eine Regel gefunden werden, die es ermöglicht, in Zukunft die Fälle, in denen Einstimmigkeit verlangt wird, zu begrenzen. Es ist unvertretbar und widerspricht im übrigen dem Geist des Kompromisses von Luxemburg, daß bei zahlreichen Entscheidungen, die bei weitem kein wirkliches "Hauptinteresse" eines Mitgliedstaats darstellen, die Einstimmigkeit gefordert wird. Viele Möglichkeiten, um wieder zu einem geeigneten und wirksamen Verfahren zurückzufinden, können ins Auge gefaßt werden. All dies ist nicht zuletzt eine Sache des Willens. Festzuhalten ist jedoch, daß die Gemeinschaft, wenn sie die jetzigen Zustände nicht ändert, der Gefahr einer zunehmenden Lähmung ausgesetzt ist.
Die Kommission ihrerseits muß weiterhin als das Initiativorgan fungieren, das allein den Fortschritt der Gemeinschaft ermöglichen kann. Ihre Aufgabe ist es, Vorschläge zu unterbreiten und Neuerungen durchzuführen, um den Aufbau einer Gemeinschaft mit immer engeren Bindungen, in deren Rahmen die gemeinsamen politischen Programme und Strategien eine stärkere Konvergenz der Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten ermöglichen. Wenn die Kommission energisch versucht, diesem Auftrag gerecht zu werden, so muß sie ohne jeden Zweifel damit rechnen, daß sie in vielen Fällen von den Mitgliedstaaten nicht unterstützt, ja sogar heftig kritisiert wird. Doch nur die Gemeinschaftsaktion, für deren Durchführung sie verantwortlich ist, wird die Überwindung der internen Meinungsverschiedenheiten ermöglichen - gestärkt durch die Unterstützung des Parlaments wird sie mit dieser Handlungsweise Vorstellung fördern, die zwar nicht sofort durchgeführte werden könne, aber der Vorbereitung der Zukunft dienen.
Die Kommission hat mehr zu gewinnen als zu verlieren, wenn sie sich mutig und neuerungswillig zeigt. Sie muß den Vorwurf der falschen Zurückhaltung mehr fürchten als die Kritik an ihrem mutigen Handeln.
Was nun wiederum das Parlament anbelangt, so darf man die seit den allgemeinen direkten Wahlen eingetretene Erneuerung nicht aus den Augen verlieren. Denn auch wenn seine Befugnisse in keiner Weise verändert wurden, erhielt es durch die allgemeinen Direktwahlen eine neue Legitimierung, die eine neue Definition seines Auftrages erforderlich macht.
Im Hinblick darauf sehen wir uns durch die seit zwei Jahren verfolgte Praxis zu der Feststellung veranlaßt, daß im derzeitigen institutionellen Rahmen der Darstellung der Angelegenheiten, zu denen das Parlament konsultiert wird zu technischer Natur ist, als daß die öffentliche Meinung wirklich mobilisiert werden könnte. Im übrigen ist zu bemerken, daß der Rat und die Kommission, trotz der offenkundigen Aufmerksamkeit des Parlaments für die Weiterbehandlung der Dokumente durch diese beiden Institutionen ihre Haltung in diesem Bereich nicht wirklich verändert haben. Die einzige Sorge des Rates ist es nur zu häufig, die Stellungnahmen rechtzeitig zu erhalten, und das Parlament muß darauf natürlich reagieren. Es ist nicht eindeutig klar, daß die so eingeholten Stellungnahmen immer auch wirklich geprüft, geschweige denn berücksichtigt werden. Man kann sich eine empirische oder institutionelle Entwicklung in diesem Bereich wünschen. Ich glaube jedoch nicht, daß sie, selbst wenn sie erfolgen würde, den politischen Einfluß des Parlaments spürbar verändern würde, es sein denn, es würden institutionelle Veränderungen einer Größenordnung vorgenommen, die für bestimmt Mitgliedstaaten derzeit anscheinend nicht in Betracht gezogen wird. Dennoch wäre die formelle oder stillschweigende Anerkennung eines Initiativrechts des Parlaments, sowie eine Erweiterung der Interventionsmöglichkeiten des Parlaments beim Abschluß internationaler Verträge bedeutsam.
Wie dem auch sein, im Rahmen des Haushaltsverfahrens sowohl für 1980 als auch für 1981 hat das Parlament gezeigt, daß es in der Lage ist, die Aktionen der Gemeinschaft ohne Überschreitung der Grenzen seiner Befugnisse zu beeinflussen und damit die ihm zukommende politische Rolle zu verwirklichen. Es ist zwar nicht wünschenswert, daß die Haushaltsdebatte jedes Jahr Gegenstand von Kompetenzstreitigkeiten zwischen Rat und Parlament wird, doch es ist auf jeden Fall wesentlich, daß das Parlament von dem einzigen Verfahren Gebrauch macht, das ihm wirklich die Möglichkeit gibt, der verfolgten Politik seinen Stempel aufzudrücken. Um ein Wiederaufleben der kürzlichen Streitigkeiten zu vermeiden, wäre es also durchaus zu begrüßen, wenn die in den Verträgen vorgesehene Konzertierung ohne Hintergedanken durchgeführt würde. Vielleicht sollte auch eine klarere Formulierung der Texte in Betracht gezogen werden, so daß sich Unterschiede oder Zweideutigkeiten in der Auslegung vermeiden lassen.
Darüber hinaus möchte ich nicht versäumen, gleichzeitig nachdrücklich darauf hinzuweisen, welch bedeutende Rolle das Parlament meiner Ansicht nach in Anbetracht der Entwicklung der politischen Zusammenarbeit im Bereich der internationalen Politik zu spielen hat. Es erscheint mir von wesentlicher Bedeutung, dies in dem Augenblick hervorzuheben, in dem von mancher Seite die Verwirklichung einer echten Union in Betracht gezogen wird. Ich weiß wohl, daß eine solche Union intergouvernementaler und nicht gemeinschaftlicher Natur wäre, was nach Ansicht gewisser Kreise zu einer Reduzierung der Rolle des Europäischen Parlaments in diesem Bereich führen könnte. Ich meinerseits, und ich versichere Ihnen, daß ich keine Vorliebe für Paradoxes hege, vertrete die Ansicht, daß das Europäische Parlament, gerade weil die politische Zusammenarbeit intergouvernementaler Natur ist, seinen Einfluß in diesem Bereich geltend machen kann und muß. Orientiert man sich an der klassischen institutionellen Debatte Bundesstaat - Staatenbund, so wird von einigen behauptet, daß der Platz der Versammlung am Rande einer Zusammenarbeit, die sich dem Gemeinschaftsleben weitgehend entzieht, nicht auszumachen sei.
Der besondere Charakter der Gemeinschaftsinstitutionen gestattet es jedoch, an neuartige Verfahren zu denken, die es dem Parlament ermöglichen würden, ein reales demokratisches Gegengewicht zu bilden und seine Kontrolle auf anderem Wege als durch Zensur auszuüben. Dies bringt mich zu der Überzeugung, daß es ganz im Interesse der Gemeinschaft liegt, daß das Parlament in der politischen Zusammenarbeit ein demokratisches Gegengewicht darstellt. Dies würde jedoch keinesfalls eine Einschränkung der Rechte der nationalen Parlamente mit sich bringen, die natürlich weiterhin das wichtigste Kontrollinstrument der von jeder Regierung verfolgen Politik wären, doch dies steht in keinerlei Widerspruch dazu, daß das Europäische Parlament die Möglichkeit haben muß, auf Gemeinschaftsebene die Meinungen der europäischen Bürger zu der Politik, die von den Mitgliedstaaten gemeinsam verfolgt wird, zum Ausdruck zu bringen.
Die Erfahrung der beiden vergangen Jahre zeigt im übrigen, daß diese Haltung des Parlaments, die innerhalb der Fraktionen der Versammlung zustande kommt, den Realitäten zwangsläufig unter einem gemeinschaftlichen Gesichtspunkt Rechnung trägt und nicht nur eine Aneinanderreihung nationaler Ansichten bedeutet. Es wäre meiner Ansicht nach sehr wichtig, daß die Regierungen selbst, wie die nationalen Parlamente, das politische Gewicht zur Kenntnis nehmen, welches das Europäische Parlament auf diese Weise der von der Gesamtheit der Mitgliedstaaten verfolgten Politik geben kann; die Mitgliedstaaten können auf diese Weise in ihren Beziehungen zu Drittländern den Inhalt ihrer gemeinsamen Positionen voll wirksam werden lassen. Wenn Europa in den Augen der Außenwelt wirklich existieren will, so kann es vom Europäischen Parlament die unersetzliche Glaubwürdigkeit und Unterstützung einer demokratischen, die Gesamtheit der europäischen Bürger vertretenden Versammlung erhalten.
Bereits jetzt hat das Europäische Parlament - obwohl sich seine Mitglieder dessen nicht immer voll bewußt sind und obwohl die Regierungen daraus nicht den ganzen an sich möglichen Nutzen gezogen haben - weitgehend zur Verstärkung der Vorstellung von Europa als Realität beigetragen.
Wenn ich an das Echo denke, das die Debatten des Europäischen Parlaments künftig in der Welt haben werden, kann ich den Stellenwert, den wir den Aussprachen über die Wahrung der Menschenrechte eingeräumt haben, nicht unerwähnt lassen. Die Bedeutung dieser aussprachen ruft häufig erstaunen, zuweilen sogar Unwillen hervor, und ich habe mich selbst eine Zeitlang gefragt, ob unsere Intervention in diesem Bereich begründet und angebracht ist. Die Antwort erscheint mir einfach: Wir haben in diesem Fall eine offenkundige Lücke gefüllt. Da die Wahrung der Menschenrechte von vielen gefordert wird, und da in vielen Ländern dagegen verstoßen wird, ist es erforderlich, daß jemand für sie eintritt und sie verteidigt.
Da die internationalen Organisationen diese Rolle, die ihnen eigentlich zukäme, aufgrund der bereits im voraus festgelegten Mehrheiten nicht spielen können, da die Regierungen der demokratischen Nationen gegenüber Ländern, zu denen sie gezwungenermaßen eine gewisse Art von Beziehungen unterhalten, keine allzu eindeutigen Positionen beziehen können, ist dieser Protest an Amnesty International, SOS Médecins, an verschiedene Ausschüssse zur Wahrung der Menschenrechte sowie an Nobelpreisträger oder andere Persönlichkeiten gerichtet. Sie alle haben inzwischen die Gewohnheit, sich an das Europäische Parlament zu wenden, das keinem Zwang unterliegt und, gestärkt aufgrund seiner Legitimierung durch allgemeine, direkte Wahlen bereit ist, sie anzuhören und seinerseits die Verteidigung der daniederliegenden Freiheiten zu übernehmen. Daher wird die diesbezügliche Handlungsweise unserer Institution nicht nur als notwendige symbolische Geste betrachtet, sondern es wird ihr eine reale praktische Wirksamkeit zugeschrieben. Es ist daher natürlich, daß das Parlament zum Resonanzboden der anderenorts unterdrückten schon lange anhaltenden Klage der Opfer aller totalitären Systeme geworden ist. Dies gereicht unserer Versammlung zur Ehre und ihre Stimme kann, was dies betrifft, niemals zu laut ertönen.
Zu Beginn meiner Rede habe ich in Gedanken die Gründerväter wiedererweckt, um sie über das heutige Europa urteilen zu lassen. Zwar war dies reine Fiktion, doch ganz gewiß werden wir dem wirklichen Urteil der Geschichte so wenig entgehen wie sei.
Im Mai des Jahres 2000 werden diejenigen hier versammelt sein, die beim Aufbau Europas unsere Nachfolge angetreten haben. Vielleicht werden in diesem Raum zum Überreichung des Karlspreises auch einige der heute Anwesenden vertreten sein. Obwohl die Zeitspanne, die uns vom Jahr 2000 trennt, kürzer ist als er Zeitraum, der seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge vergangen ist, wird sich bis dahin viel ereignet haben, was den Lauf der Dinge beeinflußt, doch wir werden nach unserem Handeln im gegenwärtigen Rahmen beurteilt werden. Werden wir ein Bild von zehn Staaten hinterlassen, die zwar eine Insel des Friedens und Wohlstands nach jahrhundertelangen Kriegen bilden, aber zögern, zwei jungen Demokratien, die sich gerade vom Totalitarismus befreit haben, die Tür nach Europa ein wenig zu öffnen? Das Bild eines privilegierten Europa, das zusieht, wie die dritte und vierte Welt im Elend versinken? Das Bild einer Gemeinschaft, die mitten in einer schweren Wirtschaftskrise zuläßt, daß die japanischen Roboter Millionen europäischer Arbeiter von ihren Arbeitsplätzen vertreiben und sie zu Arbeitslosen machen? Das Bild eines Europa, das die Sorge für seine Verteidigung in immer stärkerem Maße den Vereinigten Staaten überläßt, während die Sowjetunion im Bewußtsein ihrer Kräfte in aller Stille ihre Hegemonie-Strategie verfolgt, ohne sich zu einer Antwort herabzulassen, wenn sich in der ganzen Welt Stimmen erheben, die die Freilassung eines Mannes fordern, dessen einziger Fehler darin bestand, daß er sein Land verlassen wollte?
Wird dieses verwirrte Bild von uns zurückbleiben? Oder wird man uns später in günstigerem Licht sehen, als solidarisches und großzügiges Europa, das von Tag zu Tag sowohl seine Egoismen als auch seine unmittelbaren Interessen zu überwinden weiß und es fertig bringt, sich nicht hinter überholte doktrinäre Ansichten zurückzuziehen, sondern das Risiko neuer, den Bedürfnissen der Staaten sowie den Hoffnungen der Bürger entsprechende Formen zu erdenken?
Nur zum Preis der Anstrengung, die erforderlich ist, um dieses letztere und leuchtende Bild Europas zu hinterlassen, können wir unseren Wohlstand und unsere Unabhängigkeit aufrechterhalten. Und für diesen Preis können die Europäer für die übrigen Bewohner unseres Planeten weiterhin ein Hoffnung erweckendes Beispiel sein.