Rede von Dr. Klaus von Dohnanyi, Staatsministers im Auswärtigen Amt

Rede von Dr. Klaus von Dohnanyi, Staatsministers im Auswärtigen Amt

Frau Präsident,
Herr Oberbürgermeister,
Herr Scheel,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,

im Namen der Bundesregierung begrüße ich sehr herzlich die Botschafter und Vertreter zahlreicher Nationen und alle ausländischen Gäste, die an dieser Verleihung des Karlspreises 1981 teilnehmen.

Ich überbringe Ihnen, Frau Präsident Veil, die persönlichen Glückwünsche und den Dank des Bundeskanzlers, des Bundesministers des Auswärtigen und der ganzen Bundesregierung.

Mit der Verleihung des Karlspreises 1981 wird in Ihnen, Frau Präsident Veil, eine Europäerin geehrt, die als verantwortliche Bürgerin Frankreichs in einer brillianten nationalen politischen Laufbahn stand, als sie sich für die oft undankbare und immer schwierige Aufgabe des Präsidenten des Europäischen Parlaments zur Verfügung stellte. Als Europäerin in diesem Amt haben Sie Kraft und Sachverstand, gelegentlich auch List, und immer persönlichen Charme aufgebracht, um die Stimme des Europäischen Parlaments in der Europäischen Gemeinschaft hörbar zu machen.

Die Bundesregierung möchte daher in der Preisverleihung an Sie, Frau Präsident Veil, auch eine ausdrückliche Ermunterung des Europäischen Parlaments und seiner Mitglieder sehen, sich bei der Erfüllung seiner Aufgabe nicht entmutigen zu lassen – ja sich auch im Konflikt mit dem Ministerrat nicht entmutigen zu lassen!

Schon nach den Römischen Verträgen von 1957 war die Direktwahl der Europäischen Versammlung vorgesehen. Es dauerte 22 Jahre, bis die Direktwahl 1979 durchgeführt wurde.

Alle Mitgliedstaaten erwarteten, daß eine durch die Direktwahl verstärkte politische Legitimation des Parlaments der europäischen Integration dienen werde.

Es ist, Frau Präsident, keine Schmälerung Ihrer Arbeit und der Arbeit unserer Kollegen im Europäischen Parlament, wenn wir heute feststellen müssen, daß diese Hoffnungen bisher nicht wirklich in Erfüllung gegangen sind. Insbesondere Parlament und Ministerrat haben bisher noch nicht zu der Form einer Zusammenarbeit gefunden, die dem Willen der Gründungsväter und den Erwartungen an die Direktwahl entsprechen würde. Aber enttäuschte Hoffnungen begleiten ja Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Die Hoffnung auf die Vereinigten Staaten von Europa, 1946 von Winston Churchill ausgesprochen, wurde zunächst auf die Montanunion Eisen und Stahl begrenzt, die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft scheiterte und führte schließlich zu dem sehr viel schmaleren Konsens einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.

Und dennoch, viel von dem, was nach 1945 wie ein ferner Traum aussah, ist inzwischen Wirklichkeit geworden.

Der politischen Generation nach 1945 stand nämlich nicht in erster Linie ein Europa vor Augen, das aussehen sollte wie die bisherigen Nationalstaaten, nur etwas größer. Die europäischen Wünsche der Generation nach 1945 richteten sich auf Verständigung der Völker und auf neue Freiheiten, die die Nationalstaaten versagt hatten und die Europa nun bringen sollte.

Als die Schlagbäume an den innereuropäischen Grenzen nach 1945 fielen, war dies Symbol für die Überwindung historischer Feindschaften und für das Recht der Europäer, nach eigener freier Entscheidung Wohnsitz, Arbeitsplatz, Aufenthalt in Europa zu suchen, Ohne Devisenbeschränkungen wollten sie reisen, ohne nationalistische Bevorzugungen lernen und studieren dürfen. Unternehmer und Landwirte wollten ihre Waren im größeren europäischen Markt ohne komplizierte Grenzabfertigung verkaufen können und damit Produktivität und Vielfalt des Angebotes vermehren. Im Austausch der Schulen und Ausbildungszentren, der Universitäten und Forschungseinrichtungen, der Museen und Theater sah man die europäische Identität. Nicht neue Fahnen wollte die europäische Generation nach 1945, sondern europäische Brüderlichkeit und neue Freiheiten.

Wer Europa heute an diesen Träumen mißt, kann nur mit Erstaunen feststellen, wieviele davon inzwischen Wirklichkeit geworden sind. Zunächst die Versöhnung der westeuropäischen Staaten mit dem Angreifer des Zweiten Weltkriegs, mit Deutschland. Die privilegierten Beziehungen zwischen Frankreich und der Bundesrepublik, wie Präsident Mitterand das deutsch-französische Verhältnis am vergangenen Sonntag charakterisierte, sind nach der langen, blutigen Geschichte der Nachbarn fast ein Wunder für sich selbst. Hier danke ich, Frau Präsident, Ihnen, der Französin, auch als Deutscher.

In der Europäischen Gemeinschaft können heute Bürger der zehn Mitgliedstaaten ihren Wohnsitz, ihre Ausbildung, ihre Arbeitsplätze weitgehend frei wählen. Städtepartnerschaften, aber auch der Austausch von Schülern, Studenten, von Ausstellungen, Konzerten und Theateraufführungen sind beachtlich angewachsen. Die europäische Wirtschaft hat sich in den ersten beiden Jahrzehnten der Wirtschaftsgemeinschaft für ganz Europa über alle Erwartungen hinaus entwickelt.

Der große Gemeinsame Markt hat den Handel belebt, und bei allem, was man zu gemeinsamer Agrarpolitik in Europa kritisch feststellen muß, konnte doch der gewaltige Rückgang der landwirtschaftlich Beschäftigten durch die gemeinsame Politik so bewältigt werden, daß es kaum politische Konflikte in diesem Bereich gegeben hat.

Die Versöhnung und die neuen Freiheiten, von denen man 1945 träumte, sind erreicht. Und doch müssen wir heute feststellen, daß die Europäische Gemeinschaft in eine Krise geraten ist. Ich bin sicher, dies liegt nicht am guten Willen aller Beteiligten.

Der Grund liegt vielmehr in einem tiefgreifenden Wandel der wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen die Gemeinschaft sich weiterentwickeln muß. Im großzügigen Wachstum sahen sich die Vertreter der Mitgliedstaaten bei europäischen Entscheidungen im Rat leichter in der Lage, Kompromissen zu Lasten nationaler Einzelinteressen zuzustimmen. Seitdem die wirtschaftlichen Probleme in Europa und in der Welt zunehmen, wir diese Kompromißfähigkeit der Mitgliedstaaten eingeengt. Es gibt am Ratstisch in Brüssel eine alte Erfahrung: Die innenpolitische Stärke eines Mitgliedstaates steht in einer unmittelbaren Beziehung zu seiner Fähigkeit, auch zu Lasten nationaler Einzelinteressen, europäische Kompromisse zu machen.

Da heute die Regierungen aller Mitgliedstaaten durch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten politischen Spielraum eingebüßt haben, ist zwangsläufig auch die Kompromißfähigkeit des Rates im Ganzen zurückgegangen.

Auf der anderen Seite sind neue Probleme aufgetreten, gewissermaßen als Kehrseite verlorener Kompromißfähigkeit. Mit zunehmenden wirtschaftlichen Problemen werden nämlich zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, zur Rettung oder Umstrukturierung eines Industriezweiges, zur Förderung des Wettbewerbs auf dem Binnenmarkt oder im Export, zwangsläufig die nationalen Regierungen auf den Plan gerufen.

Die Europäische Gemeinschaft selbst wurde nicht konzipiert als ein föderaler Gesamtstaat mit politischer Verantwortung für Vollbeschäftigung, Wettbewerbsfähigkeit und soziale Gerechtigkeit. Die Wirtschaftsgemeinschaft sollte in erster Linie den größeren Markt durch das Wegräumen staatlich gesetzter Handelshindernisse wie Zölle, Grenzabgaben, technische Handelshindernisse ermöglichen. Auch wenn es so nicht expressis verbis in den Römischen Verträgen steht, muß erkannt werden, daß die Gemeinschaft in ihrer politischen Konstruktion, abgesehen vom Bereich Landwirtschaft, für eine interventionistische Wirtschaftspolitik nicht geeignet ist.

Die Gemeinschaft ist nicht der Staat, nach dem gerufen werden kann. Der Arbeitslose ruft folglich nach dem Nationalstaat und nach der Regierung, die er gewählt hat, oder: Nach der Regierung, die ihrerseits in Brüssel als Mitglied des Ministerrats Entscheidungen zu treffen hat.

So müssen wir feststellen, daß im Gleichschritt mit der Zunahme der Wirtschaftsprobleme die Mitgliedstaaten in einen neuen Wettlauf von Subventionen und Protektionismus eingetreten sind und sich immer weniger europäisch kompromißfähig erweisen. Die Stahlkrise ist ein Musterbeispiel.

Ölkrise und weltwirtschaftlicher Strukturwandel stellen die Europäische Gemeinschaft heute vor eine große Herausforderung. Ihre Lösung verlangt eine neue Solidarität von den Mitgliedstaaten, wenn die Gemeinschaft bestehen soll. Wer den Wettlauf von Subventionen oder die ungerechte Verteilung von Agrarlasten und –erträgen weiterhin gewähren läßt, der darf sich nicht wundern, wenn die Europäische Gemeinschaft nicht nur zunehmenden Unwillen der Bevölkerung auslöst und das Vertrauen verliert, sondern sich schließlich auch zur Lösung ihrer Probleme außer Stande sehen wird.

Wir müssen dies offen aussprechen: Die Wirtschaftskrise, die nicht konjunktureller sondern struktureller Natur ist, die erst beginnt und deren zeitliches Ende nicht abzusehen ist, stellt eine tödliche Bedrohung der Europäischen Gemeinschaft dar.

Dem müssen wir begegnen. Und zwar gerade in einer Zeit, in der Europa auch sicherheitspolitisch sein Gewicht im Bündnis und in der Welt verstärkt zur Geltung bringen muß.

In dieser Herausforderung haben die Institutionen der Gemeinschaft unterschiedliche Aufgaben. Einrichtungen wie der Europäische Gerichtshof und der Europäische Rechnungshof müssen die gesamteuropäische Ordnung und die gesamteuropäischen Interessen sehen. Kein Richter am Europäischen Gerichtshof, kein Mitglied des Europäischen Rechnungshofes darf in Ausübung seiner Verantwortung sich seiner nationalen Herkunft auch nur einen Augenblick erinnern.

Ganz anders der Ministerrat. Hier nehmen die Mitgliedstaaten in einer politischen Verantwortung teil, zu der sie allein durch die politischen Konstellationen in ihrem Heimatland legitimiert wurden. Die Außenminister müssen im Ministerrat zwar das Interesse Europas im Auge haben, aber es wäre nicht nur eine Illusion, sondern auch ein konstitutionelles Mißverständnis zu glauben, daß die Außenminister während ihrer Beratungen vergessen dürfen, wer sie gewählt hat, wer sie in den Ministerrat entsandte und welche Wirkungen und Folgen bestimmte Entscheidungen jeweils für ihr eigenes Mitgliedsland haben. In erster Linie im Mitgliedstaat tragen die Regierungen politische Verantwortung.

Zwischen supranationalen Institutionen wie dem Gerichtshof und dem Rechnungshof einerseits und der stark föderalen Institution des Ministerrates andererseits stehen Kommission und Parlament. In diesen beiden Institutionen, in Parlament und Kommission, gibt es eine pragmatische Mischung aus nationalen Kenntnissen und Rücksichtnahmen auf der einen Seite und übergreifenden, europäischen Verantwortungen auf der anderen Seite.

Die Gemeinschaft muß den zentrifugalen Gefahren mit einer neuen Politik der Solidarität und Integration entgegentreten. Und die Gemeinschaft wird diese Politik nur durchsetzen können, wenn wir Kommission und Parlament als eine Brücke zwischen nationalen Interessen und europäischer Aufgabe nutzen.

Die Europäische Gemeinschaft braucht einen neuen politischen Impuls, um die Kräfte zu sammeln, die wir gegen die Gefahr nationalistischer Tendenzen ins Feld führen müssen.

In dieser Situation dürfen wir nicht der Versuchung erliegen, neue Formeln schon für konkrete Lösungen zu halten. Die Neubelebung der institutionellen Träume der Nachkriegszeit, Forderungen wie die Vereinigten Staaten von Europa zum Beispiel, sind keine Hilfe. Europas Probleme sind konkret. Gute Gerüche aus der Ideenküche sind auch in Europa kein Ersatz für eine solide Mahlzeit.

Deswegen muß im Vordergrund der Gemeinschaftspolitik die Lösung der konkreten Probleme stehen. Ohne Reform der Agrarpolitik und ohne Korrektur ihres unbeabsichtigten, aber tiefgreifenden Transfers von Finanzmitteln in der Gemeinschaft, wird es in Europa keine Fortschritte mehr geben.

Hierfür müssen wir der Kommission Entscheidungsspielraum im Rahmen ihrer vertraglichen Zuständigkeiten geben. Wir müssen den Dialog mit dem Parlament auf die Elemente von Integration und Solidarität konzentrieren. Sonst wird es keine Fortschritte mehr geben.

Hierfür müssen wir der Kommission Entscheidungsspielraum im Rahmen ihrer vertraglichen Zuständigkeiten geben. Wir müssen den Dialog mit dem Parlament auf die Elemente von Integration und Solidarität konzentrieren. Sonst wird es keine Fortschritte geben. Schließlich wird es ohne eine Besinnung des Rates auf die Möglichkeit – ich sage die Möglichkeit, nicht das Dogma – von Mehrheitsentscheidungen und ohne Stärkung der Kontinuität der Arbeit durch ein starkes Generalsekretariat bei weiterhin wechselnder Ratspräsidentschaft keine Fortschritte geben.

Auf diesem Hintergrund – und nicht als neues europäisches Parfüm – hat die Bundesregierung Fortschritte zur Europäischen Union vorgeschlagen, die sowohl die Wirtschaftsgemeinschaft als auch die politische Zusammenarbeit in pragmatischer Weise zusammen und nach vorne führen sollen.

Die Bundesregierung ist bereit, in der vor uns liegenden Zeit eine Konzentration der Kräfte auf die europäische Politik vorzunehmen, und zwar aus wirtschaftlichen, außenpolitischen und sicherheitspolitischen Gründen. Wir erbitten von unseren europäischen Partnern dies gleichermaßen.

Die Bundesregierung wird die Europäische Kommission bei der ihr übertragenen Aufgabe zur Wiederherstellung eines gerechten Finanzgleichgewichts in der Gemeinschaft nachdrücklich unterstützen. Die Bundesregierung Deutschland will nicht Finanzerträge aus der Gemeinschaft herauswirtschaften. Wir werden auch in Zukunft finanzielle Beiträge zur Entwicklung der bisher noch benachteiligten Mitgliedstaaten der Gemeinschaft leisten. Aber wir wollen auch, daß wir uns in unseren Leistungen von anderen Mitgliedstaaten, die unserem Wohlstand in etwa gleichkommen, nicht wesentlich unterscheiden.

Bei der politischen Bewältigung dieser Aufgabe wird das Europäische Parlament eine große Rolle zu spielen haben.

Lassen Sie mich, Frau Präsident, Ihnen in diesem Sinne noch einmal danken für Ihren Beitrag zur europäischen Sache.

Nehmen Sie bitte von hier auch den Dank mit, den die Bundesregierung, aber sicher auch alle hier Versammelten, durch Sie dem Europäischen Parlament für seine wichtige und entsagungsvolle Arbeit schulden.