Sehr geehrte Frau Präsident,
Meine Damen und Herren,
Wir kennen im Deutschen das Sprichwort: "Aller guten Dinge sind drei".
Es ist mir eine Ehre und Freude zugleich, nach 1973 und 1977 heute zum dritten Mal vor diesem Auditorium zu sprechen.
Dieses dritte Mal ist ein besonders "gut Ding", denn es gibt mir vor allem die Gelegenheit, Ihnen, Frau Präsident, persönlich zunächst sehr herzlich zur Verleihung des internationalen Karlspreises zu gratulieren.
Es ist ein "gut Ding", denn Sie erhalten einen Titel verbrieft, den ich hier vor acht Jahren bei der Verleihung an Professor Salvador de Madariaga als den schönsten Ehrentitel bezeichnete, den es seit dem Kriege in den einstigen Ländern Karls des Großen gibt: Es ist der eines "Großen Europäers".
Und es ist der guten Dinge drei, daß mit Ihnen die Liste der vierundzwanzig Preisträger einen neuen Glanz erhält: Ich möchte sagen, endlich eine Frau.
Einen zaghaften Versuch, den weiblichen Artikel in die Liste der Preisträger einzuführen, machte die Jury erstmals 1969, als sie den Titel an die Kommission der Europäischen Gemeinschaft verlieh. Aber an das weibliche Geschlecht mochte da niemand denken, schließlich wurde die Auszeichnung auch einem männlichen Vertreter der Kommission übergeben.
Nun, ich weiß – und wir haben ja die Begründung für die Auszeichnung soeben gehört -, daß das Geschlecht auch dieses Jahr keine Rolle spielte. Ein glücklicher Zufall also? Glücklich gewiß! Aber Zufall?
Die Stadt Aachen verleiht sei 1950 den Internationalen Karlspreis. Seine Existenz verdankt er Aachener Bürgern, die vor dreißig Jahren schon praktizierten, was wir heute gerne allgemein verwirklicht sähen: europäisches Denken und europäisches Handeln. Eine frühe Bürgerinitiative also! Die Initiative in einer Stadt,
-die im Laufe der Geschichte Europa mehrfach als Wechselbad erlebt hat;
-die Mittelpunkt des fränkischen Reiches unter Karl dem Großen war, aber erleben mußte, wie das Reich wieder zerfiel;
-die vierhundert Jahre Krönungsstätte des mittelalterlichen Reiches war;
-eine Stadt, deren Name sich mit drei europäischen Friedensverhandlungen verbindet:
1668 im Devolutionskrieg zwischen Spanien und Frankreich
1748 im österreichischen Erbfolgekrieg,
1818, als die Nachkriegspolitik gegenüber dem besiegten Frankreich Napoleons beraten wurde. In dem Protokoll von damals hieß es, daß das freie, gleichberechtigte Frankreich wieder die Stellung einnehmen sollte, "die ihm im System von Europa gebührt". Es ist das Wort des damaligen französischen Ministerpräsidenten Herzog von Richelieu überliefert, der vor der Unterzeichnung an Ludwig XVIII berichtet hatte: "Ich beginne zu glauben, daß es möglich sein wird, um Europa ein föderalistisches Band zu knüpfen, zu dem auch Frankreich gehören wird ..."
Über 150 Jahre hat die Geschichte gebraucht, um der Verwirklichung des Gedankens eines föderativen Europa wieder näherzukommen. Aachener Bürger, Bürger dieser Stadt im Dreiländereck, waren mit dabei, als es nach dem Krieg darum ging, die Idee eines vereinten Europa zu propagieren. Sie haben Freunde gesucht, und seitdem werden die Mitstreiter mit dem Karlspreis ausgezeichnet, die sich in besonderer Weise für die gegenseitige Verständigung und die europäische Zusammenarbeit eingesetzt haben.
Die Jury hat dieses Jahr dem Präsidenten des ersten direkt gewählten Europäischen Parlaments, Frau Simone Veil, zugesprochen. Das ist kein Zufall. Es ist die Würdigung einer besonderen Leistung, wie sie in der verlesenen Begründung ausgedrückt wurde. Ich hätte mir dieses Jahr keine bessere Entscheidung der Jury denken können.
Sie, Frau Präsident, haben anläßlich der Verleihung des Doctor honoris causa der Bar Ilan-Universität gesagt: "Le Parlement Européen symbolise pour moi la paix et la réconciliation ... dans l'existance de notre institution" se voit "la volonté des européens de faire obstacle à tout prix aux guerres et aux totalitarismes propres à engendrer le renouvellement de la tragédie que nous avons connue".
Das Europäische Parlament ist für Sie Symbol des Friedens und der Versöhnung.
Sie selbst sind für uns dieses Symbol des Friedens und der Versöhnung. Sie haben an sich selbst erfahren müssen, wie Verirrung, Haß und Größenwahn Menschenwürde in Blut ertränken läßt. Als Sie im Oktober 1979 im Andenken an Ihre ermordeten Eltern und den Bruder die Gedenkstätte Bergen-Belsen besuchten, sagten Sie: "Nicht das deutsche Volk, sondern ein verbrecherisches, totalitäres Regime trägt die Schuld für die hier begangenen Greuel der Vergangenheit. Tragen wir alle Sorge, daß nie wieder ein solches Regime, unter welcher Form auch immer, zur Herrschaft gelangt."
Sie haben verziehen. Sie kämpfen für das höchste Gut des Menschen, seine Würde. Wir verneigen uns vor dieser Größe.
Wir haben im Nachkriegsdeutschland die Aussöhnung mit unserem französischen Nachbarn als das wichtigste politische Ziel verstanden. Waren nicht innerhalb von sieben Jahrzehnten in Europa drei Kriege geführt worden, in denen sich Franzosen und Deutsche verfeindet gegenüberstanden? Die Bestrebungen um Versöhnung nach dem ersten Weltkrieg durch Briand und Stresemann waren nicht von dauerhaftem Erfolg gekrönt. Ein neuer Anfang mußte nach 1945 gemacht werden. Schuman und Adenauer wußten, daß nur in der Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland Europa die Form finden kann, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Nur gemeinsam in gegenseitigem Vertrauen und nur auf der Basis absoluter Gleichberechtigung kann Europa seinen inneren Frieden finden.
"Der Friede braucht, um erfolgreich zu sein, ein tägliches Vertrauen" – so hatte es Aristide Briand formuliert. Die heutige Gemeinschaft der Zehn – bald der Zwölf – gibt uns dieses Vertrauen. Den Frieden zu sichern, ist nicht nur das stärkste Motiv der Europäischen Gemeinschaft, sondern auch ihr größter Erfolg. Wer in diesem Jahr das 36. Lebensjahr vollendet, hat nicht mehr erleben müssen, was Krieg heißt. Die Anwendung der Waffen gegeneinander im westeuropäischen Raum ist heute undenkbar geworden.
Robert Schuman überschrieb in seiner Schrift "Für Europa" einen Abschnitt mit den Worten: "Ohne Deutschland und ohne Frankreich könnte Europa nicht bestehen". Noch pointierter sagt es ein junger französischer Professor der Ecole Polytechnique in Paris heute. Ich zitiere Thierry de Montbrial: "Das deutsch-französische Verhältnis ist für Europa lebenswichtig, das französisch-britische und das deutsch-britische Verhältnis sind nur wichtig".
Gewiß, ohne die Aussöhnung Frankreichs mit der Bundesrepublik Deutschland, ohne die deutsch-französischen Freundschaftsbeziehungen wäre eine Integration Europas, ob im politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen oder kulturellen Bereich wohl kaum vorstellbar gewesen.
Auch ein weiteres Zusammenwachsen Europas in Richtung auf die politische Union ist für die Zukunft ohne die deutsch-französische Zusammenarbeit illusorisch.
Allerdings bliebe dieses Ziel auch ohne Chance, wenn nicht gleichzeitig eine gute Zusammenarbeit mit den anderen Ländern der Europäischen Gemeinschaft bestehen würde. Hüten wir uns also davor, den kleineren Ländern für die Frage der Einigung Europas eine geringere Bedeutung zuzumessen.
Meine Damen und Herren, ich hätte heute gerne mit einer Vollzugsmeldung an meine Rede von vor vier Jahren angeknüpft, als ich im Hinblick auf die Direktwahl sagte: "Hier bietet sich die Chance, daß die Idee Europa in den europäischen Völkern wieder lebendig wird. Aber die Direktwahl muß Konsequenzen haben, denn sonst besteht die Gefahr, daß sie die Bürger unserer Länder enttäuscht oder – noch schlimmer – langweilt".
Mit der Direktwahl im Jahre 1979 war in der Tat ein Stimmungshoch erreicht worden, aber die praktische Europapolitik konnte es nicht halten. Die gewünschten Konsequenzen sind nicht sichtbar geworden – weder, was die Fähigkeit angeht, in der Außenpolitik geschlossener zu handeln, noch was die Weiterentwicklung z. B. der wirtschaftlichen Zusammenarbeit angeht.
Die letzte Gipfelkonferenz der Regierungschefs in Maastricht war alles andere als ein Ruhmesblatt europäischer Einigungspolitik. Niemand hat verstanden, wie Kabeljau und das damit verbundene Feilschen um kurzfristige nationale Vorteile zum Haupttagesordnungspunkt gemacht werden konnten. Angesichts der weltpolitischen Spannungen, insbesondere der unsicheren Lage in Polen, hätten die Bürger politische Führung erwarten können; sie wurde nicht sichtbar. So ist es nicht verwunderlich, wenn Meinungsbefragungen erkennen lassen, daß sich die europäischen Bürger in einem bemerkenswerten Zwiespalt befinden: einerseits wollen sie mit überwältigender Mehrheit eine politische Einigung Europas, andererseits sind sie mit der heutigen Form der Europapolitik nicht einverstanden. Sie vermissen das europäische Denken und Handeln. Sie vermissen Kompromißbereitschaft und Kompromißfähigkeit, gerade wenn es gilt, schwierige Fragen bei unterschiedlichen nationalen Interessen zu lösen. Kurz: Sie wünschen sich mehr europäische Gemeinsamkeit.
Wie notwendig aber eine gemeinsame Politik der Mitgliedsländer ist, verdeutlichen schon wenige Zahlen:
-Mehr als 60 Prozent des Energiebedarfs muß die Gemeinschaft durch Einfuhren decken.
-Mit 40 Prozent des gesamten Welthandels ist sie der größte Handelspartner der Welt.
-Ihr Anteil an den Weltagrarimporten liegt bei über 40 Prozent.
-Die Länder des Mittelmeerraumes gehören der Gemeinschaft an oder sind mit ihr assoziiert.
-Mit 60 Staaten Afrikas, der Karibik und des pazifischen Raumes ist die EG vertraglich verbunden.
Die Gemeinschaft ist also so stark wie keine andere Ländergruppe in die Weltwirtschaft integriert. Das dichte Netz der Außenwirtschaftsbeziehungen ist nicht zuletzt wegen der eigenen mangelhaften Rohstoffsituation unerläßlich, aber es läßt auch die Verwundbarkeit erkennen. Die Gemeinschaft braucht den funktionsfähigen Welthandel, und sie muß neben der Rohstoff- und Energieversorgung mit Schwierigkeiten fertig werden, wie den defizitären Handelsbilanzen und der spürbarer gewordenen Wettbewerbssituation auf den Weltmärkten. Darüber hinaus sehen sich mehr oder weniger alle EG-Länder Problemen bei der Kernenergie oder dem Umweltschutz gegenüber, sie haben Arbeitslosigkeit und Inflation.
Wir stehen aber nicht nur vor Herausforderungen wirtschaftlicher und sozialer Natur, die Herausforderungen sind auch von machtpolitischer, sicherheitspolitischer und ideologischer Art. Solchen Herausforderungen kann das mit den Vereinigten Staaten von Amerika verbündete Europa nur mit einem selbst entwickelten und von allen Mitgliedsländern gemeinsam getragenen strategischen Konzept begegnen.
Jede macht- und sicherheitspolitische Spannung zwischen Ost und West wirkt sich auf die Länder der Europäischen Gemeinschaft besonders unangenehm aus. Die Gemeinschaft muß daher aus eigenem Interesse ihren Beitrag leisten für
-eine Politik der Friedenssicherung durch das Gleichgewicht der Kräfte in Europa und Zusammenarbeit,
-eine Politik, die die eigene Verteidigungsfähigkeit erhält und durch Entspannungsbereitschaft die Sicherheit in Europa festigt,
-eine Politik, die nach Möglichkeiten sucht, den aus ideologischen Interessensgegensätzen resultierenden Konfliktstoff zu entschärfen,
-eine Politik, die von den gemeinsamen Idealen und Werten, dem gemeinsamen wirtschaftlichen und politischen System der europäischen und nordamerikanischen Demokratien und deren Allianz als dem Grundpfeiler ihrer Sicherheit ausgeht.
Die westliche Allianz hat uns in Europa über 35 Jahre vor Krieg bewahrt. Sie ist für uns lebenswichtig; an dieser elementaren Grundlage unseres Seins kann es keine Abstriche geben. Die Kraft des Verteidigungsbündnisses ist abhängig von unserer aktiven, schöpferischen und zu Opfern bereiten Mitgliedschaft.
Gerade im freien Teil Europas müssen wir die Kräfteverhältnisse realistisch einschätzen. Wir sind nicht nur Verbündete des westlichen Lagers, wir sind auch Nachbarn Osteuropas, des sogenannten "sozialistischen Lagers". Das klingt banal, aber es unterstreicht, warum wir an der Frage des militärischen Gleichgewichts besonders interessiert sein müssen.
Wir erleben zur Zeit in der Öffentlichkeit – und das nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland – eine breite Diskussion über en NATO-Doppelbeschluß. Diese Diskussion ist wichtig und notwendig. Sicherheitspolitik ist für uns zugleich Friedenspolitik, ja, sie muß es sein, denn jeder Krieg würde zerstören, was wir schützen wollen.
Ob wir von der sicherheitspolitischen oder der wirtschaftspolitischen Seite ausgehen, es macht für die Schlußfolgerung keinen Unterschied: Da die Europäische Gemeinschaft in die weltpolitischen Zusammenhänge so eng eingebunden ist, muß sie in allen Fragen als Einheit auftreten, wenn sie außenpolitisch handlungsfähig sein will. Gelingt es ihr im Innenverhältnis nicht, nationale Interessen den gesamteuropäischen Interessen nachzuordnen, werden auch schon vorhandene außenpolitische Gemeinsamkeiten im Handumdrehen an Wert verlieren.
Damit die Gemeinschaft als Ganzes bereit und fähig ist, ihre Rolle der Verantwortung in der Welt zu spielen – so, wie europäisch Denkende es wünschen, und so, wie Entwicklungsländer zum Beispiel es erwarten – ist eine vertiefte Bewußtseinsbildung über die Rolle der Europäer in der Welt in der bereiten Öffentlichkeit und gerade bei der europäischen Jugend unerläßlich.
Die Glaubwürdigkeit europäischen Handelns, so haben Sie, Frau Präsident, es beim Kongreß der Europaunion Deutschland in München ausgedrückt, ist die wichtigste Voraussetzung dafür, daß Europa Verantwortung auch tragen kann. Ich habe deshalb vorhin mit Bedauern festgestellt, daß die Direktwahl auf die innere Struktur der Gemeinschaft bisher ohne sichtbare Konsequenzen geblieben ist.
Mit dem Anstoß von Außenminister Hans-Dietrich Genscher zum Jahresanfang ist das Gespräch über die europäische Union neu in Gang gekommen. Das stimmt mich hoffnungsvoll.
Sein Vorschlag, einen rechtlichen Rahmen für die Europäische Union zu schaffen, in den die bestehenden europäischen Institutionen: Europäisches Parlament, Europäischer Rat, europäische politische Zusammenarbeit eingebracht werden, hat breite und positive Reaktionen erfahren. Als Ziel einer Europäischen Union hat er dabei genannt, eine gemeinsame Außenpolitik, den Ausbau der Gemeinschaftspolitiken entsprechend der Beiträge von Paris und Rom und die Harmonisierung der Gesetzgebung. Hinzugefügt hat er zwei Gebiete, die noch nicht zum europäischen Besitzstand gehören: die Abstimmung im Bereich der Sicherheitspolitik und die engere Zusammenarbeit im kulturellen Bereich.
Dieser Anstoß, wie auch eine Reihe anderer Vorschläge, fordert in der Tat eine verbesserte institutionelle Regelung in der Gemeinschaft.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch ein Wort zum Europäische Parlament sagen. Es hat seit der Direktwahl im Bewußtsein des Bürgers einen höheren Stellenwert erhalten. Er hat das Gefühl, näher dran zu sein, die Identifizierung mit Europa fällt ihm leichter. Der Wähler hat das Mandat an die Abgeordneten als einen Auftrag verstanden, die politische Einigung Europas voranzutreiben.
Aber wenn die Mitwirkungsmöglichkeiten der Parlamentarier bei der Formulierung europäischer Politik so mangelhaft bleiben, wie sie heute sind, welches Interesse werden dann die Wähler bei der nächsten Europawahl noch haben? Das Europäische Parlament würde gut daran tun – unabhängig von seinen Zuständigkeiten – die politischen Fragen Europas zu behandeln, die den Bürgern auf den Nägeln brennen.
Europaparlamentarier haben in diesen Tagen ein echtes Vorschlags- und Initiativrecht im Rahmen des Konzertierungsverfahrens zwischen Parlament, Kommission und Ministerrat gefordert. Es geht ihnen darum, daß die Kommission erstens bereit ist, Entschließungen des Europäischen Parlaments in Verordnungsvorschläge umzuwandeln und dem Ministerrat vorzulegen, und daß sie zweitens bereit ist, eigene Vorschläge, die das Parlament verwirft, beim Ministerrat wieder zurückzuziehen.
In der Tat könnte das direkt gewählte Europäische Parlament so stärkeren Anteil an der Gestaltung europäischer Politik nehmen. Wäre die nicht ein Schritt in Richtung auf eine weitere Demokratisierung in Europa, auf die Europäische Union hin, den der Wähler verstehen und begrüßen würde?
Meine Damen und Herren, eine Europäische Union, die diesen Namen verdient, ist undenkbar ohne eine europäische Verfassung. Welchen Sinn aber hätte eine solche Verfassung, wenn in ihr nicht die Frage nach der europäischen Regierung eindeutig beantwortet wäre? Die Europäische Bewegung spricht deshalb ganz klar von der Notwendigkeit einer solchen Regierung. (Es kommt dabei nicht auf den Ausdruck "Regierung" an, sondern gemeint ist ein politisches Entscheidungs- und Handlungszentrum.) Umgekehrt wäre eine europäische Regierung ohne verfassungsmäßige Grundlage mit demokratischer Kontrolle durch das Europäische Parlament untragbar.
Mit anderen Worten, die Forderungen nach einer europäischen Verfassung und nach einer europäischen Regierung sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Meine Damen und Herren, ich weiß, daß es Stimmen gibt - in Frankreich wohl noch mehr als in Deutschland -, die die Forderung nach einer europäischen Regierung beziehungsweise Verfassung heute noch für unrealistisch halten. Ich möchte in diesem Zusammenhang mit den Worten des französischen Bildhauers Auguste Rodin antworten, der in seiner Schrift "Das Testament" sagte:
"Zaudert niemals auszudrücken, was Ihr fühlt, selbst wenn Ihr Euch im Widerspruch zu den geltenden Ideen befindet. Vielleicht werdet Ihr zunächst nicht verstanden werde. Aber Eure Vereinzelung wird nicht lange währen. Freunde werden bald zu Euch kommen."
In Ihnen, Frau Präsident, haben wir einen Freund, einen Mitstreiter "für ein demokratisches Europa" so wie es die Inschrift der Medaille sagt, die Ihnen überreicht wurde.
"Die Namen der bisherigen Träger des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen personifizieren den Aufbruch, den Fortgang, den Erfolg und den Arbeitstag Europas. In Zukunft symbolisiert auf der Liste Ihr Name, Frau Präsident, auch die Arbeit und die Verantwortung des Europäischen Parlaments."
Nicht erst im Hinblick auf die nächste Direktwahl im Jahre 1984 wäre es zu begrüßen, wenn die Bürger unserer Länder an dieser Arbeit stärkeren Anteil nehmen könnten und auch nähmen. Sie sagten einmal, daß ... "bei den derzeitigen vertraglich fixierten Befugnissen des Europäischen Parlaments es darauf ankommt, das Vertrauen der Wähler zu gewinnen." Und Sie fügten hinzu, daß dazu "am besten gut vorbereitete Orientierungsdebatten über die großen Probleme unserer Zeit, die grenzüberschreitend auf dieselbe Weise die Völker der Gemeinschaft betreffen, verhelfen."
Ich teile in dieser Frage Ihre Meinung ganz. Europa kann nur so gut sein, wie es von seinen Bürgern gestaltet und mitgetragen wird. Nur dann auch haben wir ein demokratisches Europa. Ein Europa, das sich von folgenden Worten Goethes leiten lassen könnte:
"Und keine Zeit und keine Macht
zerstückelt
geprägte Form, die lebend sich
entwickelt."
Ich danke Ihnen.