Es ist für mich, einen europäischen König, eine große Ehre, den Karlspreis entgegenzunehmen, einen Preis, der zur Erinnerung an den ersten Monarchen geschaffen wurde, der von der Kaiserkrone Europas träumte.
Unter den hervorragenden Persönlichkeiten in dieser Auszeichnung, denen vor mir diese Ehre zuteil geworden ist und die damit auch den Karlspreis ehrten, befinden sich Alcide de Gasperi, Jean Monnet, Konrad Adenauer, Winston Churchill und Robert Schumann. Ihr ganzes Denken und ihre ganze Willenskraft wußten sie für ein gemeinsames Werk einzusetzen: der Schöpfung eines vereinigten Europas. Europa wird zur historischen Wirklichkeit auf Grund einer der weitreichendsten Entwicklungen im Mittelalter: der Teilung des Mittelmeerbeckens, Wiege und Kultur des Altertums, durch den Einbruch des Islams im siebenten und zu Anfang des achten Jahrhunderts. Das Mittelmeer ist nicht mehr das Maare Nostrum; es teilt sich in das Meer der Christen und das der Muselmanen. Das christliche Ufer sieht sich isoliert von einem Afrika, das die Ptolomäer, Philon oder der heilige Augustinus hellenisierten, romanisierten und christianisierten.
Und Europa wird zu seinem Hinterland.
Romanisch und germanisch zugleich wird sich Europa aus diesem Anfang, seiner Stunde der Geburt, entwickeln. Die von Invasionen zersplitterte Romania verbindet sich mit einer Germania, die sich mit ihr zum Träger einer gemeinsamen Geschichte vereint.
Jahrhundertelang ist die Wiedererstehung des Römischen Reiches unter deutlich germanischen und selbstverständlich christlichen Vorzeichen der politische Traum: das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Aber was in Wahrheit geschaffen wird, ist etwas anderes: Europa.
In dieser berühmten Stadt gibt der große Karl im Jahre 800 den Anstoß zur Grundsteinlegung der europäischen Gemeinschaft, die sich so oft zerstritten und bekämpft, aber doch immer wieder zueinandergefunden hat. "L'Europe n'est pas qu'une nation composée de plusieurs", sollte Montesquieu eines Tages sagen; und Blazac sprach von "La grande famille continentale, dont tous les efforts tendent à je ne sais quel mystère de civilisation"; während der Spanier Antonio de Capmany 1773 meinte: Toda la Europa es una escuela general de civilizacià²n".
Und es ist gerade hier, wo mir der Karlspreis verliehen wird, in dieser alten, zutiefst europäischen Stadt, die in fast allen unseren Sprachen ihren Namen hat: Aquigranum hieß sie auf lateinisch, eine Bezeichnung, die auf spanisch mit Aquisgrà n und auf italienisch mit Aquisgrana weiterlebt; für die Franzosen und Engländer ist sie Aix-la-Chapelle; aber Aachen für die Deutschen und Aken für die Holländer.
Für mich als König von Spanien ist es besonders bewegend, in Aachen geehrt zu werden, war es doch hier, wo mein Vorfahr und Vorgänger als Träger der spanischen Krone, Karl I., 1520 zum Kaiser gekrönt wurde, eine Würde, durch die er später auch als Karl V. in die Geschichte einging.
Aus tiefstem Dank für die Ehre, die mir durch die Verleihung des Preises erwiesen wird, der den Namen eines so fernen Gründers Europas trägt, sei es mir erlaubt, den Namen meines entfernten Großvaters mit diesem Preis in Verbindung zu bringen. Denn auch er gehört zu den Schöpfern dieser großen Völkergemeinschaft und trug in ganz außerordentlichem Maße dazu bei, den Einfluß Europas über die Weltmeere hinweg zu verbreiten und die Geschichte und Politik des Westens mitzugestalten. Es ist jener andere Karl, unter dessen Regierung der Mensch die Erdkugel im wahren Sinne des Wortes in Besitz nahm als Elcano sie zum ersten mal in der Geschichte umsegelte.
Die Länder Europas sind Teile eines Ganzen, das wichtiger ist als jedes einzelne für sich allein, und die Substanz, die allen gemein ist, entstammt dem gleichen Nährboden.
Trotz Zersplitterung, Privatinteressen, Rivalitäten und Machtkämpfen haben die europäischen Elemente dennoch als Faktoren der Einheit und Annäherung gewirkt: das christliche Erbe, die Erinnerung an Rom und seine Einheit, seine Weltsprache als Kultur- und Liturgieträger, das römische Recht und der Sinn für Autorität jenseits von Gewalt, der Drang nach individueller Freiheit und persönlicher Loyalität als germanische r Beitrag aus dem Mittelalter.
Auf der Basis dieser Prinzipien hat sich Europa jahrhundertelang mit dem Islam auseinandergesetzt, manchmal auf friedfertige Art und zuweilen im Kampf. Es vereinigte in sich nicht nur die jüdische Tradition des Christentums, sondern auch die Präsenz stimulierender jüdischer Kräfte, die manchmal als fruchtbar Bejahung fanden oder auch abgelehnt wurden.
Zu diesem latinisierten Europa findet sich nun jenes andere, das griechisch und byzantinische, welches hauptsächlich bei den slawischen Völkern zu suchen ist und welches sich auf Grund theologischer oder politischer Spaltung so oft vom restlichen Teil losgesagt hat, aber dennoch von allen echten Europäern als integraler Bestandteil angesehen wird.
Im Laufe der europäischen Geschichte sind die Monarchien ein Faktor der Einigung gewesen. Sie sind nicht nur der Auflösung der Kleinstmächte Herr geworden, sondern haben auch persönliche Verbindungen unter den von ihren Königen vertretenen Völkern hergestellt. Und durch die Heirat von Mitgliedern regierender Familien wurden Bande zwischen Ländern geknüpft, die voneinander auf Grund der Sprache, der Rasse und der Gebräuche getrennt waren; sie halfen, die Verschiedenheiten zu überbrücken; und sie verstärkten das Bewußtsein, eine Einheit zu sein und einer gemeinsamen Realität anzugehören.
Die Monarchien Europas sind die Schöpfer von "Ces grands corps que sont les nations", wie es Descartes ausdrückte, der fortschrittliche Denker des modernen Europa; und wenn man es genau betrachtet, so haben sie dem zerstörerischen und unbürgerlichen Geist des Nationalismus gebremst und eingegrenzt.
Die spanische Nation entstand aus deinem System aufeinanderfolgender fruchtvoller Zusammenschlüsse von mittelalterlichen Königreichen, Prinzipaten oder Grafschaften, wo schließlich alle spanischen Könige zur gleichen Familie gehörten, so daß es sehr bald keine fremdländischen Beziehungen unter ihnen gab. Das ist auch die Erklärung für die bewundernswerte, doch selten hervorgehobene Tatsache, daß die christlichen Königreiche im mittelalterlichen Spanien unverhältnismäßig seltener gegeneinander kämpften als die Teile der restlichen heutigen Nationen Europas.
Das große spanische Unternehmen, die Reconquista, gab den Christen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und bewirkte, daß sich ihre Energie auf kriegerischem Gebiet fast ausschließlich der Zurückgewinnung des "verlorenen Spaniens", wie es damals hieß, zuwandte.
Das erklärt, warum Spanien als moderne Nation zu einem so frühen Zeitpunkt entstand, fast ein halbes Jahrhundert vor der Krönung Karls V. in Aachen. Als das geschah, konnte Spanien schon auf eine lange Geschichte der Nation zurückblicken, die eine zweite politische und historische Erneuerung einschloß: eine Supernation aus einer Völkergemeinschaft, also gerade das, was die Menschheit heute sucht, um ihre ernsten Probleme zu bewältigen und die größten Gefahren abzuwenden.
Die spanische Monarchie wurde bald zur "hispanischen Monarchie", die verschiedene Länder beider Hemisphären unter derselben Krone umschloß: es war die erste wirkliche Errungenschaft der westlichen Welt.
So entstand eine Gemeinschaft hispanischer Völker, die über politische Bindungen hinaus als Sprach-, Kultur-, Traditions- und Sitteneinheit fortdauert. Dadurch wurde Spanisch zu einer Weltsprache, in der dreihundert Millionen Menschen verschiedenster Länder und Rassen schöpferisch zusammenwirken; eine Sprache, die Ihnen eine geistige Heimat bietet und in der sie eine eigene tausendjährige Literatur und gemeinsame Geschichte finden. Wäre es sonst verständlich, daß Karl V., die Würde König von Spanien zu sein über alles andere stellte, selbst der Kaiserwürde, die er hier erhielt?
Seit sechs Jahren habe ich die Ehre und Verantwortung, jenen Titel Karls I. zu tragen. Ich fühle mich der Treue zu dieser Tradition verpflichtet. Ich habe geglaubt, daß es meine Pflicht als König von Spanien war, die Einheit, Freiheit und Einigkeit aller Spanier wieder herzustellen.
Im 20. Jahrhundert kann dies nur auf demokratische Weise geschehen, und ich habe mich darum bemüht, den Vorgang der Verfassungsgebung für Spanien voranzubringen, damit unserem öffentlichen Legen eine rechtliche Grundlage gegeben und mein Platz im Dienst meines Vaterlandes festgelegt werden konnte.
Mit Genugtuung darf ich sagen, daß in kürzester Zeit, ohne Bruch oder Zwietracht, ohne Ausschließung oder Vergeltung eine Ordnung geschaffen wurde, die die Freiheit, das Zusammenleben und den Dialog sowie die legitime Autorität und die Bejahung des Pluralismus begründeten und die es erlaubt, weiter den Weg der Gerechtigkeit zu verfolgen.
Heute bin ich stolz darauf, König von Spanien zu sein: die Ehre, der erste Diener meines Landes zu sein, wiegt die Arbeit, die Sorgen oder Risiken auf, die dieses Amt mit sich bringen.
Ohne den Frieden in Frage zu stellen, den Spanien über alles zu schätzen weiß, nachdem es am eigenen Leib die Qualen der Zwietracht und des Krieges erfahren hat, hat es der Verlockung, in seinen Strukturen zu erstarren, nicht nachgegeben und ist nun auf dem Weg zu großen Unternehmungen wie der Entwicklung seiner historischen Persönlichkeit, dem Erhalt seiner schöpferischen Wesensunterschiede, größerer Freiheit, dem Streben nach mehr Gerechtigkeit, der Verbreitung einer Kultur, die in so hohem Maße zur Gestaltung Europas und der ganzen westlichen Welt beigetragen hat. Solches kann Spanien nur als europäische Nation vollbringen. Das aber ist es immer gewesen; seit seinem Bestehen ist es von der Substanz her europäisch. Es ist gesagt worden, daß die anderen europäischen Länder nun eben europäisch sind und nichts anderes sein können, aber daß Spanien, in das die Muselmanen zu Anfang des 8. Jahrhunderts einfielen, europäisch ist, weil es aller Vernunft zum Trotz, so sein wollte und dabei seine lateinische wie christliche Wesensart nicht verlor wie andere Völker unter den gleichen Voraussetzungen. Spanien hat an allen Unternehmungen Europas teilgenommen und es ist fest dazu entschlossen, es auch in Zukunft zu tun.
Und wir dürfen nicht vergessen, daß es darum geht, zusammen ein vereinigtes Europa aufzubauen, das über die Einigkeit, jener von alters her bestehenden Einigkeit Europas, hinausgeht.
Auch bei diesem Unterfangen ist Spanien vorangeschritten. Zwei der bedeutendsten Denker des heutigen Spaniens, José Ortega y Gasset und Salvador de Madariaga - der auch mit dem Karlspreis ausgezeichnet wurde - sind intelligente und begeisterte Verteidiger der europäischen Vereinigung gewesen. In jenem berühmten Buch mit dem Titel "Der Aufstand der Massen" wurde schon 1930 die Vereinigung Europas als einzige Lösung der Probleme Europas vorgeschlagen, eine Supernation, die es zu errichten galt, nämlich die Vereinigten Staaten von Europa. Und dieser Impuls ist in meinem Land nicht verlorengegangen. Aber es gibt noch etwas, woran ich erinnere möchte: Spanien, eine in Europa verwurzelte Nation, ist nicht nur europäisch, es ist transeuropäisch und von seiner Entstehung her als moderne Nation ausgelegt: es ist eine hispanische Nation, eines der Mitglieder - wenngleich das älteste, das ursprünglichste - einer Gemeinschaft unabhängiger hispanischer Nationen.
Vermindert sich dadurch sein europäisches Wesen? Im Gegenteil, es wird gestärkt; denn Europa ist transeuropäisch, war immer so beschaffen, über sich hinauszugehen, auf andere Völker auszustrahlen und sich ihnen zu erschließen.
Ein in sich verschlossenes, egoistisches, auf andere herabsehendes Europa wäre mit Sicherheit weniger europäisch.
Dadurch, daß es seinem hispanischen Charakter treu bleibt und den Kontakt mit den spanisch sprechenden Völkern auf der anderen Seite des Atlantiks konstant aufrechterhält, sogar mit jenen Gemeinschaften, die diese Sprache auf den anderen Kontinenten beleben, setzt Spanien seine europäische Wesensart nicht herab, sondern bejaht und verwirklicht sie auf schöpferische Weise.
Spanien, und auch sein König, verstehen ihre historischen Pflichten heute so: den Frieden und das Zusammenleben innerhalb des Landes zu erhalten und dazu beizutragen, dasselbe auf der ganzen Welt zu verwirklichen. Größere Freiheit für Menschen, die sozialen Gruppen, die autonomen Gemeinschaften und, über unsere Grenzen hinaus, für die verschiedenen Länder, die unter keinem Vorwand verletzt, unterdrückt oder überfallen werden dürfen.
Verstärkung der Einheit, aber nicht auf abstrakte Weise und nicht durch Vereinheitlichung, sondern durch ein Zusammenfügen aller Teile, aus denen diese reichhaltige, komplexe und mannigfaltige Welt nun einmal besteht.
Wachstum des Wohlstandes durch vernünftige internationale Zusammenarbeit, wobei der Mißbrauch von Bodenschätzen als Waffe zur Erpressung, Unterdrückung oder Ausbeutung unmöglich gemacht wird. Fortschritte, bis zur Grenze der jeweils gegebenen Realität, im Sinne der Gerechtigkeit, einer wachsenden Teilhabe an den Gütern, die die Menschheit besitzt.
Dies wäre zur Stunde das historische Programm Spaniens in groben Zügen.
Man könnte alles mit einem einzigen Wort zusammenfassen: Freundschaft: Zum ersten Mal seit langer Zeit glauben wir, daß die Spanier sich ohne Einschränkungen als Freunde fühlen können. Auf internationaler Ebene möchte Spanien auf der ganzen Welt nur Freunde und Verbündete sehen.
Spanien hegt keinen Groll, keine Rachegefühle und keinen Neid, sein Ehrgeiz ist einzig und allein, sich durch das tatkräftige Bemühen der Frauen und Männer dieses Landes zu vervollkommnen. Es ist willens, würde- und wirkungsvoll an den großen sich ergänzenden und zu unserer Zeit wechselseitig notwendigen Aufgaben mitzuschaffen und teilzunehmen: die Aufgaben, die uns die westliche Welt, Europa und die hispanische Welt stellen.
Und von diesen großen Einheiten aus, hin zur Annäherung an das ideal einer Welt, in der alle Menschen, ohne ihren eigenen Charakter aufgeben zu müssen und ihre Individualität zu verlieren, brüderlich zusammenleben, in Frieden.
Wenn ich hierzu etwas während meiner Regierungszeit beitrage, denke ich, daß ich am Ende den Karlspreis verdient haben könnte. Da er mir schon heute vorweggenommen wird, möchte ich noch einmal meinen bescheidenen Dank aussprechen.