Majestät,
Sie entstammen einer langen Reihe von Herrschern, die über Kaiser Karl V., Ludwig XIV. bis zu Königin Viktoria im Laufe der Jahrhunderte in fast allen Ländern in diesem Europa regierten, dessen Einigung wir heute wollen. Zu Ihren Vorfahren gehört ohne Zweifel auch jener nahezu legendäre Kaiser Karl, der vor mehr als tausend Jahren von dieser majestätischen Pfalz aus über ein Reich herrschte, das von Barcelona bis zur dänischen Grenze und von Italien bis zur Nordsee reichte.
Aber nicht Ihre Ahnen werden heute mit dem Karlspreis geehrt, sondern Sie, Majestät, werden ausgezeichnet – ausgezeichnet als Mensch, als König, und mit dem König wird die große Nation geehrt, die Sie repräsentieren.
Sie sind der fünfundzwanzigste Träger des Karlspreises, der zum ersten Male 1950 verliehen wurde. Mehrere, unter Ihnen die Mehrzahl der Gründerväter der Europäischen Gemeinschaft, weilen nicht mehr unter uns. Ihre Ideen aber leben weiter! Vor allem eine Idee, die unsere Zeit geprägt hat, die Idee eines geeinten, eines weltoffenen, demokratischen und eines dynamischen Europas, eines Europas, in dem Brüderlichkeit den Brudermord abgelöst hat.
Im Namen dieses europäischen Gedankens und im Namen aller mit dem Karlspreis Ausgezeichneten habe ich die Ehre und die Freude, Majestät, Sie zu begrüßen und willkommen zu heißen.
Europa
Im März jährte sich zum fünfundzwanzigsten Male der Tag der Unterzeichnung des Römischen Vertrages, der nach den Worten Paul-Henri Spaaks "die größte freiwillige und zielbewußte Umwandlung in der europäischen Geschichte" bewirken sollte.
Das war eine wagemutige und bahnbrechende Initiative und das ist es heute noch, und wie damals spricht es heute noch die junge Generation an, weil sie in die Zukunft weist.
Wir haben bei diesem schwierigen Unternehmen Fehlschläge erlebt, Verzögerungen hinnehmen müssen. Aber wir sehen doch, wie in fünfundzwanzig Jahren eine neue Einheit entstand, die nicht auf Rasse oder Sprache, nicht einmal nur auf geographischer Nachbarschaft beruht, sondern auf der gleichen Auffassung des menschlichen Zusammenlebens und dem Bewußtsein eines nunmehr gleichen Schicksals.
Unser Einigungsprozeß gründet sich nicht auf Gewalt und Bedrohung wie so oft in der Geschichte, sondern auf Vernunft und dem Willen, eine Zukunft aufzubauen, die unserer Vergangenheit würdig ist: Eine Zusammenarbeit zwischen Menschen aus dem Norden und dem Süden, zwischen Politikern der Linken und der Rechten, zwischen Pragmatikern und Theoretikern, zwischen Älteren und Jüngeren ist damit entstanden, die alle den gleichen Willen und das gleiche Ziel haben.
Jahrelange gemeinschaftliche Anstrengungen führten erstmals seit der Industriellen Revolution zum freien Güterverkehr in ganz Westeuropa.
Eine beispiellose, sich gleichmäßig verteilende wirtschaftliche Expansion hat die Gemeinschaft in die Spitzengruppe der Industrieländer gebracht. Die Agrarpolitik hat den Bauern ein menschenwürdiges Einkommen gesichert.
Das Europäische Währungssystem sorgt für jenes Mindestmaß an Geldstabilität, die für die Entwicklung unseres Handels unbedingt nötig ist. Mit der Expansion ihres Außenhandels ist die Gemeinschaft erste Handelsmacht der Welt geworden: das müssen auch diejenigen anerkenne, die der Gemeinschaft zu Beginn mit Ironie oder gar Feindseligkeit begegneten.
Mit über 60 Ländern der Dritten Welt haben wir Abkommen geschlossen, deren Originalität und deren Wert allenthalben anerkannt werden.
Ich will hier keine euphorische Analyse anstellen. Wir wissen alle, daß eine tiefe Strukturkrise unseren Wohlstand bedroht, in der die Geißel der Inflation und der Arbeitslosigkeit uns bedrängt. In diesen schwierigen Zeiten fällt es schwer, das gemeinsame Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, in den gemeinsamen Anstrengungen nicht nachzulassen, und den Dynamismus am Leben zu erhalten, der für den europäischen Einigungsprozeß unentbehrlich ist. Allzu viele Mißerfolge und Verzögerungen entmutigen und die falsche Lockung des Protektionismus taucht wieder auf. Falsche Propheten kündigen das Ende der Gemeinschaft an.
Und doch lebt die Gemeinschaft weiter. Sie widerstand protektionistischen Neigungen und tut es weiter. Ihrer Berufung entsprechend gibt sie nicht auf. Sie sucht den Ausweg in einer neuen Industriepolitik, in einer neuen Energie- und Forschungspolitik. Nur dieser Weg – und nicht Verzettelung oder Abkapselung – führt in die Zukunft. Ohne Zweifel liegt die Kraft unserer Länder in ihren Traditionen und in ihrer Geschichte, aber allein politischer Ideenreichtum, technische Neuerung und Wagemut werden ihre Zukunft sichern.
Spanien hat das richtig verstanden.
Trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten und des Auf und Ab in den komplizierten Verhandlungen hat dieses Land sich zielbewußt entschlossen, der Europäischen Gemeinschaft beizutreten. Denn Spanien hat, über die jetzigen Probleme hinaus, die Tragweite unserer Zielsetzung und die Kraft unserer Ambitionen erkannt. Es geht um mehr als um wirtschaftliche Interessen, um die Zollunion, um die Solidarität im Handel und in Währungsfragen: Europa hat eine politische Berufung, hat eine Botschaft zu verkünden, und in der Weltpolitik eine Rolle zu spielen. Diese politische Dimension war stets ein wesentliches Element unseres Strebens nach dem Vereinten Europa. Im Lauf der Jahre kam diese Dimension immer wieder zum Vorschein und auch heute noch ist sie in immer neuen Betrachtungen und Initiativen sichtbar.
Zum erstenmal seit Jahrhunderten leben wir in einer Welt, in der die europäischen Länder weder die mächtigsten, noch die reichsten, noch die technisch fortschrittlichsten sind. Müssen wir nicht gerade in einer solch ernsten Lage einen großen gemeinschaftlichen Ehrgeiz entwickeln? Um dieser Ambition gerecht zu werden, streben die europäischen Länder nach einer breiteren europäischen Union; persönlich bin ich von Herzen glücklich darüber, daß ich zu dieser Union ein Steinchen habe beitragen können. In wenigen Tagen wird dem Rat der Gemeinschaft der Entwurf einer Europäischen Akte vorgelegt werden, in der das politische Ziel unseres Handelns unterstrichen wird.
Majestät, Sie, haben voll und ganz dieses Ziel begriffen. Vor einigen Jahren sagten Sie im Quirinal: "Europa ist mehr als ein Kontinent. Es ist vor allem eine Auffassung des Lebens, die auf humanistischen und christlichen Prinzipien gegründet ist und die nach Recht und Freiheit im Dienste des gemeinsamen Wohlergehens und der Menschenwürde strebt."
In der Tat, Majestät, das ist unser Europa! Spanien kann dazu einen Beitrag leisten, einen Beitrag, der vor allem aus einem Glauben an Europa und politischen Willen besteht.
Es dauert nicht mehr lange, bis wir Ihr Land in unserem Kreis begrüßen können.
Die Demokratie
In dieser Sicht unserer Zukunft fällt der Demokratie eine wesentliche Rolle zu.
Die Erklärung zur europäischen Identität, die die Regierungschefs der Gemeinschaft 1973 in Kopenhagen annahmen, ist eine feierliche Beteuerung dessen, was uns allen bewußt ist: daß nämlich die repräsentative Demokratie, der Rechtsstaat, die soziale Gerechtigkeit und die Menschenrechte fundamentale Bestandteile der europäischen Identität sind. Das sind die grundlegenden Inhalte der Botschaft, die wir verbreiten wollen.
Ihre erste Handlung als Staatsoberhaupt war es, diese Grundsätze in der Verfassung zu verankern. Die tiefgreifende Änderung, die Sie in Ihrem Land umsichtig und entschlossen durchgeführt haben, wurde von allen europäischen Demokraten begrüßt und bewundert.
Sie haben damals erklärt: "Die Krone will Bezugspunkt und Klammer, sie will sichtbares Symbol des Pluralismus sein und höchster Garant des demokratischen Zusammenlebens unter Achtung von Recht und Gesetz als Ausdruck der Volkssouveränität."
Die Aufgabe einer parlamentarischen Monarchie könnte nicht besser definiert werden.
Aber Sie haben sich nicht mit Begriffsbestimmungen begnügt. Im Februar des vergangenen Jahres hat man eine lange Nacht hindurch fürchten müssen, die Hoffnung könnte zunichte gemacht werden, die der spanische Erneuerungsprozeß in ganz Europa geweckt hatte.
Sie haben die Stimme erhoben, um in der wahrscheinlich kürzesten Rede Ihrer Herrschaft nur vier Sätze zu sagen, von denen ich einen zitieren möchte: "Die Krone, Symbol des Bestandes und der Einheit des Vaterlandes, wird auf keinen Fall Handlungen und Verhaltensweisen dulden, die mit Gewalt den Demokratisierungsprozeß abzubrechen trachten, für den sich das spanische Volk durch die Annahme der Verfassung entschieden hat."
Ich erwähne diese Episode nicht, um alte Wunden aufzureißen, von denen jeder weiß, daß Sie es vorziehen würden, sie gänzlich geheilt zu sehen, sondern weil in jener Nacht nicht allein Spanien auf das Wort seines Königs wartete, ganz Europa richtete damals seien Blick auf Madrid, und ich bin davon überzeugt, für Millionen von Europäern sprechen zu können, wenn ich den Mann würdige, der dank seiner Geistesgegenwart, seines entschlossenen Handelns und seiner tiefen demokratischen Überzeugung ein Stück unseres gemeinsamen Erbes rettete.
Rechtsstaat, Volksvertretung und Freiheit sind Bestandteile des Bauwerks Europa. Dieses Europa entstand aus den Trümmern eines Systems, das diese Werte leugnete, und trotz der Bedrohung durch ein anderes System, für das auch heute noch diese Werte nicht gelten.
Winston Churchill – auch er Träger des Karlspreises – hat eine Wahrheit auf seine scherzhafte Weise ausgedrückt, als er sagte, die Demokratie sei das schlechteste politische System – mit Ausnahme aller anderen.
So zahlreich sind in unserer heutigen Welt diejenigen gar nicht, die die pluralistische Demokratie verteidigen und in die Tat umsetzen. Auch in dieser Hinsicht ist die Anwesenheit Spaniens an unserer Seite von großem Wert.
Europa in der Welt
Wir können dieses vereinigte, demokratische, blühende Europa nicht schaffen, ohne die übrige Welt im Auge zu behalten;
Zum ersten Mal in der Geschichte sind Politik, Wirtschaft und Information nur noch im Weltmaßstab zu begreifen und zu gestalten; von dieser Interdependenz führt kein Weg mehr zurück. Unsere Zukunft hängt zu einem großen Teil davon ab, ob die Menschen sich dieser gegenseitigen Abhängigkeit bewußt werden und aus diesem Zwang die Konsequenzen für ihr politisches Handeln, die Wirtschaftsordnung und den Umgang miteinander ziehen. Ein Blick auf das Weltgeschehen genügt, um zu erkenne, daß wir alle – als Einzelner und als Gesellschaft – in dieser Beziehung noch viel zu lernen haben. Aber auch hier gibt das Verhalten der Europäischen Gemeinschaft Anlaß zu Hoffnung. Die Gemeinschaft entstand aus dem entschiedenen Willen, den nationalen Egoismus und die Irrtümer der Vergangenheit zu überwinden.
Eine solche Weitsicht und auf Neuerung gerichtete Willenskraft braucht heute die ganze Welt. In den fünfziger Jahren haben die westeuropäischen Länder das Ruder der Geschichte, die allzu lange von blutigen Kriegen gekennzeichnet war, in eine neue, bessere Richtung umdrehen können. Mit dem gleichen Scharfsinn und dem gleichen Reformeifer müssen sie heute an die schwerwiegenden Probleme herangehen, die die Stabilität in der Welt in ernste Gefahr bringen. Auch auf Weltebene muß der Lauf der Geschichte zum Besseren verändert werden.
Paul Valéry hat einmal gesagt, nicht die Rasse, die Sprache oder die Tradition bestimme den europäischen Menschen, sondern sein Streben und seine Willenskraft.
Wir haben anderen Völkern den Stempel unserer Hoffnungen und unseres Machtwillens aufgedrückt – mit allen positiven und allen negativen Folgen. Deshalb tragen wir heute historische Verantwortung, die wir mit unserer übrigen Geschichte auf uns nehmen müssen, ohne die Tragweite zu übertreiben oder zu verharmlosen. Aber gerade das bietet und Möglichkeiten des Handelns in machen Fällen aus einer psychologischen Verwandtschaft heraus, die aus der Geschichte stammt oder aufgrund gemeinsamer Herkunft oder gleicher Sprache. Deshalb finden unsere Aktionen in vielen Ländern der Dritten Welt ein besonderes Echo.
Wenn der Europäer in einigen Kontinenten seine Spuren hinterließ, so hat der Spanier einen besonders geprägt. Die "Hispanidad", begründet in einer gemeinsamen Sprache und Kultur, also in der besonderen Art, die Wirklichkeit zu empfinden und wiederzugeben, hat Spanien eine amerikanische Dimension und seiner Sprache Weltgeltung verschafft.
Nach unserer Überzeugung kann Spanien mit diesen historisch gewachsenen Bindungen, die heute noch intensiv gepflegt werden, dazu beitragen, daß sich die Europäische Gemeinschaft der Welt zuwendet und sich nicht auf sich selbst zurückzieht.
Die politische, wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung Lateinamerikas wächst ständig. Spanien ist dazu berufen, dort unsere Ziele verständlich zu machen und eine Brücke zu schlagen zwischen den beiden Kontinenten, die allen Grund haben, in gutem Einvernehmen zu leben.
Leider ist ein Mitgliedstaat der Gemeinschaft noch immer in einem bedauerlichen dramatischen Konflikt mit einer großen spanischsprechenden Nation verwickelt. In dieser Situation empfinden es die übrigen Mitglieder der Gemeinschaft und auch ich selbst als einen beklagenswerten Mangel, daß Ihr Land der Gemeinschaft noch nicht angehört.
Der Glaube an die Einigung Europas hat Persönlichkeiten zusammengeführt, die aus der Geschichte gelernt hatten und über Weitsicht und ausgeprägtes moralisches und politisches Verantwortungsbewußtsein verfügten. Es waren Menschen unterschiedlichen Alters, Herkunft, Überzeugung, Sprache und Nationalität. Sie bilden scheinbar eine heterogene Gruppe, aber im Grunde beruht ihre tatsächliche Zusammengehörigkeit auf einer gemeinsamen Zukunftsvision, und dem entschlossenen Willen, mit aller Kraft den alten Traum von der Einheit zu verwirklichen, den wohl Karl der Große schon geträumt hat. Ich bin sicher, daß sie in die Geschichte eingehen werden als Menschen, die Mut, Vorstellungskraft und Erfolg hatten.
In dieser Stunde, da Sie, Majestät, den Karlspreis in Empfang nehmen, werden Sie feierlich in diesen Kreis aufgenommen. Optimismus und Überzeugung sind nötig, Ihren Optimismus kennen wir. Alle, die Ihnen begegneten, haben diesen Optimismus erlebt; sie wissen, wie viel Vertrauen aus ihm in schwierigen Augenblicken erwächst. Auch Ihre Überzeugung ist uns bekannt. Sie kommt zum Ausdruck in der Zielstrebigkeit, mit der Sie Spanien auf den neuen Weg geführt haben, trotz aller Fußangeln und Fallen. Entschlossenheit kommt auch zum Ausdruck in der Entscheidung für Europa, die die ganze spanische Nation mit Nachdruck getroffen hat.
Darum ist es ganz natürlich, daß Sie diesem Kreis beitreten, in dem ich Sie willkommen heiße. Ich freue mich über die Festigung der gemeinsamen Zukunft unserer Völker und wünsche Ihnen, Majestät, von Herzen Glück auf Ihrem Weg.