Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Jürgen Linden

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Jürgen Linden

Eure Heiligkeit,
Eminenzen, Exzellenzen,
verehrte Festversammlung,

die Stadt Aachen ist durch ihre jahrhundertelange Situation an der Grenze, durch ihre Geschichte und durch ihre heutige Lage im Herzen Europas dem Zusammenwachsen unseres Kontinents, der Überwindung der Grenzen und der Freundschaft der europäischen Völker besonders verpflichtet.

Seit mehr als fünf Jahrzehnten wird in unserer Stadt der Internationale Karlspreis an Persönlichkeiten und Einrichtungen vergeben, die in überdurchschnittlicher Weise die Einigungsbestrebungen der europäischen Völker fördern und das Bemühen um ein Zusammenleben in Frieden, Freiheit und Demokratie tatkräftig unterstützen.

Heute ist der Aufbruch zu einem vollkommenen Zusammenschluss Europas keine Utopie mehr. Am 01. Mai diesen Jahres geht die Europäische Union durch eine umfassende Erweiterung ihrer Mitgliedsstaaten der Vollendung entgegen.

Allerdings: Europa ist für viele Menschen auch komplizierter geworden. Antworten auf existenzielle Lebensfragen, z. B. der äußeren und der sozialen Sicherheit, dem Schutz vor Terrorismus und Gewalt bleiben unklar. Auch die Fragen nach dem Funktionieren der Institutionen und der demokratischen Beteiligung am weiteren Entwicklungsprozess sind noch unbeantwortet.
Die großen politischen Herausforderungen - Eingliederung der neuen Mitgliedsstaaten und innere Reform durch den Verfassungsvertrag - verlangen deshalb jetzt neuen politischen Mut und Weitsicht.

In diesem ernsten Augenblick schätzt sich das Direktorium zur Verleihung des Internationalen Karlspreises glücklich, zum ersten Mal in seiner Geschichte einen Außerordentlichen Internationalen Karlspreis verleihen zu dürfen, der Dank für außergewöhnliches Engagement an eine außergewöhnliche Persönlichkeit ist, der aber auch die überzeugenden Visionen eines überzeugenden Visionärs stärken möchte.


Heiliger Vater, wir danken Ihnen, dass Sie uns die Ehre erweisen, diese Auszeichnung anzunehmen. Gerne übermitteln wir Ihnen die herzlichen Grüße und Sympathien der Menschen aus Aachen und dem deutsch-niederländisch-belgischen Dreiländereck.

Mit großer Freude und Dankbarkeit erfüllt uns bei diesem Festakt die Anwesenheit früherer Karlspreisträger:

- des ehemaligen belgischen Ministerpräsidenten, Herrn Leo Tindemans,
- des vormaligen Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Walter Scheel,
- des ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlamentes, Herrn Emilio Colombo,
- des Gründers der Communauté von Taizé, Frère Roger
- und des früheren polnischen Aussenministers, Herrn Bronislaw Geremek.

Herzlich grüßen wir den designierten Karlspreisträger 2004, den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Herrn Pat Cox.


Wir begrüßen neben den diplomatischen Vertretern aus vielen Ländern und den Vertretern des Heiligen Stuhls, die Bundesministerin für Gesundheit, Frau Ulla Schmidt.
Herzlich willkommen heißen wir auch den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, Herrn Peer Steinbrück.
Darüber hinaus grüßen wir viele weitere namhafte Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kirche und öffentlichem Leben, unsere Fernsehzuschauer und Radiohörer.

Hochverehrter Heiliger Vater,
Sie haben zeit Ihres Wirkens die Einheit Europas gefördert und vor den Menschen ein lebendiges und wahrhaftiges Bekenntnis zu Europa abgelegt.
In herausgehobener Weise leben Sie uns die europäischen Werte vor, insbesondere den Respekt vor der Würde und der Freiheit des Menschen, die Gleichheit, die Solidarität und die Mitmenschlichkeit.
Überzeugend treten Sie ein für die Unantastbarkeit der Menschenrechte und vor allem für die Unzerbrechlichkeit des Friedens. Achtung vor dem Leben, Achtung vor der Schöpfung sind Ihre unverrückbaren Botschaften für unsere Lebensgestaltung.


Das von Ihnen verkörperte Wertefundament eröffnet uns Europäern jenseits der politischen und wirtschaftlichen Bedingungen eine gemeinsame Grundlage für unser Zusammenleben. Seit Ihrer Ansprache 1982 in Santiago de Compostela bis hin zu Ihrem jüngsten Apostolischen Schreiben "Ecclesia in Europa" mahnen Sie die Gemeinschaft, nach ihrer wahren Identität zu suchen: "Kehre du selbst um. Sei du selbst. Entdecke wieder deine Wurzeln".

Wer die Macht Ihres Wortes ernst nimmt, weiß zudem: Europa hat gerade mit diesen Werten auch einen Beitrag in der Welt zu leisten.
Das Erbe der ethischen Werte und religiösen Erfahrungen, der Austausch der geistigen Traditionen und Errungenschaften, die Vielfalt der europäischen Kultur und ein gemeinsames Streben nach Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit sind für Sie die ausschlaggebenden Ziele der europäischen Integration.

Ihr Appell zur Aufnahme des Gottesbezuges in der Verfassung knüpft an die christlich-jüdischen Traditionen unserer Herkunft und wurzelt in der Überzeugung, dass Europa ohne die Frieden und Aussöhnung stiftende Rolle der Kirchen an Gestaltungskraft verliert. Die profanen Lebensinhalte allein können den Menschen keine Orientierung bieten.


Europa erlebt Sie, Heiligkeit, als einen der großen geistigen Führer, als vitalen und konstruktiven Mittelpunkt im europäischen Entwicklungsprozess, als Leitstern vor allem für viele junge Menschen bei der Suche nach ihrem Lebensweg.

Die Vollendung der europäischen Einheit, die durch den Fall des Eisernen Vorhanges erst möglich wurde, ist maßgeblich von Ihnen beeinflusst worden. Mit Ihrer ersten Reise nach Polen 1979, haben Sie das Selbstbewußtsein der Menschen in Mittel- und Osteuropa nachhaltig gestärkt. In der beginnenden Aufbruchstimmung um die Gewerkschaft Solidarnosc erklärten Sie die katholische Soziallehre zum dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Die freie Gewerkschaft hat den Umbruch in Polen eingeleitet, dem in einer Kettenreaktion die übrigen Ostblockstaaten folgten.
"Europa muß mit beiden Lungenhälften atmen", haben Sie vielfach erklärt - und so uns Europäer immer wieder ermutigt, nach der Einheit zu streben und die dauerhafte Chance für Verständigung, Freiheit und Humanität zu nutzen.

Die vatikanische Ostpolitik, die Teilnahme an der multilateralen Entspannungspolitik und dem KSZE-Prozess, viele Gespräche mit verantwortlichen Politikern, die Reden vor europäischen Einrichtungen, vor allem aber Ihre persönliche Solidarität mit den Unterdrückten und Entrechteten, haben entscheidend dazu beigetragen, den Kalten Krieg zu beenden und den Einigungsprozess zu beschleunigen.

Dafür, Heiliger Vater, danken wir Ihnen sehr.

Durch Ihre besondere Fähigkeit, Menschen unterschiedlicher Herkunft, Auffassung und verschiedenen Glaubens zusammenzubringen, haben Sie die Suche nach Gemeinsamkeiten in Europa vertieft und uns Mut und Kraft für den neuen Weg gegeben.

Das interreligiöse Gespräch mit den christlichen Kirchen sowie mit den Juden und Muslimen haben Sie zur Grundlage und Voraussetzung für den inneren Frieden in Europa gemacht - einen Frieden nicht nur zwischen den Völkern und Ethnien, sondern auch in der bunt gemischten, sich wandelnden Gesellschaft unserer Städte.
Ihr bewegender Besuch an der Klagemauer zu Jerusalem, Ihr Gedenken in Yad Vashem, Ihr Gebet in der Omaijaden-Moschee zu Damaskus sind Ausdruck ihrer Überzeugung, dass Dialog und Versöhnung das Fundament für eine bessere Welt sind.

Eure Heiligkeit,

Das Direktorium zur Verleihung des Internationalen Karlspreises würdigt Ihre Leistung als herausragenden und vorbildlichen Beitrag zur Einheit Europas und seiner Rolle in der Welt. Sie verkörpern wie keine andere Persönlichkeit die europäischen Werte von Gleichheit und Brüderlichkeit. Ihr Eintreten für die Unantastbarkeit des Friedens und für Versöhnung sind Vorbild und Verpflichtung für uns alle.

Heiliger Vater,
wir danken Ihnen für die Annahme des Außerordentlichen Internationalen Karlspreises zu Aachen.

Foto Seine Heiligkeit Papst Johannes Paul II

Seine Heiligkeit Papst Johannes Paul II.