Festliche Versammlung!
Die Stadt Aachen und das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachenhat sie auf diesem Himmelfahrtstag des Jahres 1972 eingeladen, an der feierlichen Überreichung des Karlspreises an den britischen Parlamentsabgeordneten Roy Jenkins teilzunehmen. Wie so oftmals in den seit 1950 vergangenen Jahren findet die Zeremonie in diesem ehrwürdigen Raum statt, in dem einstmals die deutschen Könige nach ihrer Krönung im Dom sich mit den Großen des Reiches zur Einnahme des festlichen Mahles versammelten. Dieser Saal, der im Laufe der Jahrhunderte so viel europäische Geschichte gesehen, scheint mir der rechte Ort, um immer wieder den Ruf ertönen zu lassen nach eifrigem Bemühen um Fortsetzung und Vollendung des europäischen Einigungswerkes. Ihnen allen, die Sie heute unserer Einladung gefolgt sind, gilt mein aufrichtiger Willkommensgruß.
Als Ersten begrüße ich den diesjährigen Preisträger, den britischen Parlamentsabgeordneten The Rt. Hon. Roy Jenkins, dessen Anwesenheit uns ganz besonders beglückt. Neben ihm heißen wir die heute anwesenden Karlspreisträger früherer Jahre willkommen:
den Karlspreisträger 1950 Graf Richard Coudenhove-Kalergi
den Karlspreisträger 1951 Professor Hendrik Brugmans
den Karlspreisträger 1953 Jean Monnet
den Karlspreisträger 1960 Ehrenstaatsminister Dr. Josef Bech
den Karlspreisträger 1961 Professor Walter Hallstein
für den Karlspreisträger 1969 die Kommission der Europäischen Gemeinschaften,
deren damaligen Präsidenten Herrn Jean Rey
und den Karlspreisträger 1970 Herrn Conseiller d'Etat François Seydoux de Clausonne.
Ich begrüße die Herren Botschafter Großbritanniens, der Niederlande, Österreichs, Luxemburgs, Belgiens und Norwegens, sowie die Herren Vertreter der Botschafter Dänemarks und der Schweiz,
den Herrn Präsidenten der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Herrn Mansholt, und die damaligen Mitglieder der Kommission der europäischen Gemeinschaften, die Herren Bodson, von der Groeben, Dr. Hellwig und Levi-Sandri,
den Vertreter des Herr Präsidenten der Beratenden Versammlung des Europarates, Herrn Senator Leynen und dessen Generalsekretär, Herrn Dr. Toncic,
den Herrn Präsidenten des Europäischen Parlamentes, Herrn Bundestagsabgeordneten Behrendt,
in Vertretung des Herrn Präsidenten des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, dessen ehemaligen Präsidenten, Herrn Prof. Donner.
Wir freuen uns besonders über die Anwesenheit des Präsidenten des Deutschen Bundesrates, Herrn Ministerpräsidenten Kühn,
des Herrn Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, Prof. Carlo Schmid,
des Herrn Bundesministers v. Dohnanyi
und der Mitglieder der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, der Herren Minister Girgensohn, Posser und Wertz,
sowie der Staatssekretärin im Bundeskanzleramt Frau Dr. Focke,
des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Freiherr v. Braun
und der Herren Staatssekretäre Golz und Dr. Stakemeier von Nordrhein-Westfalen.
Ich begrüße sehr herzlich
den Ständigen Vertreter Großbritanniens bei den Europa-Gemeinschaften, Sir Arthur Michael Palliser,
den Ständigen Vertreter der Niederlande, Herrn Botschafter van der Meulen,
den Ständigen Vertreter der Bundesrepublik, Herrn Botschafter Sachs,
den Oberbefehlshaber der Streitkräfte Europa-Mitte, Herrn General Bennecke,
den Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Herrn Heinz Oskar Vetter,
die hier anwesenden Herren Generalkonsuln und Konsul,
den Herrn Präsidenten des Niederländischen Rates der Europäischen Bewegung, Herrn Molenaar, und der Europa-Union Deutschland, Freiherrn v. Oppenheim,
den stellv. Präsidenten des Deutschen Städtetages, Herrn Oberbürgermeister Mathieu.
Ein besonders herzlicher Gruß gilt dem ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments und ehemaligen Minister Professor Fernand Dehousse,
dem Bürgermeister der Stadt Lüttich, Herrn Minister Destenay,
und dem Mayor der uns befreundeten Stadt Halifax, Mr. Smith,
sowie dem Regierungspräsidenten von Köln, Herrn. Dr. Heidecke.
Vor wenigen Tagen hat der erste Träger des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen, Graf Richard Coudenhove-Kalergi, feierlich in Wien das fünfzigjährige Bestehen der von ihm ins Leben gerufenen Paneuropa-Bewegung begangen. Sein Ruf nach der Einigung Europas war damals schon die Folge einer nüchternen Analyse dessen, was der 1. Weltkrieg den einst so mächtigen Ländern dieses Erdteils an Zukunftschancen gelassen hatte. Seine, des Grafen Coudenhove, von großer Weitsicht zeugenden Erkenntnisse haben zwar damals schon ihren Eindruck auf die Nachdenklichen nicht verfehlt und die Politik von Männern wie Aristide Briand und Gustav Stresemann deutete schon klar in die von ihm gewiesene Richtung, aber das Schicksal hat es gewollt, daß diese Männer beide vorzeitig aus dem Leben abberufen wurden, ohne ihrem Ziel wesentlich näher gekommen zu sein. Was hätte sonst die Weltgeschichte einen anderen Weg nehmen können, was hätte Europa an Blutopfern, an materieller und geistiger Einbuße erspart bleiben können! In dem 1924 erschienenen "Paneuropäischen Manifest" des Grafen Coudenhove heißt es:
"Europäer, Europäerinnen! Europas Schicksalsstunde schlägt! In europäischen Fabriken werden täglich Waffen geschmiedet, um europäische Männer zu zerreißen - in europäischen Laboratorien werden täglich Gifte gebraut, um europäische Frauen und Kinder zu vertilgen. Indessen spielt Europa in unbegreiflichem Leichtsinn mit seinem Schicksal; in unbegreiflicher Blindheit sieht es nicht, was ihm bevorsteht; in unbegreiflicher Untätigkeit läßt es sich willenlos der furchtbarsten Katastrophe entgegentreiben, die je einen Erdteil traf. Die einzige Rettung ist: Paneuropa; der Zusammenschluß aller demokratischen Staaten Kontinentaleuropas zu einer internationalen Gruppe, zu einem politischen und wirtschaftlichen Zweckverband."
Und dieses Manifest schließt mit den Worten:
"Immer und immer wieder soll die einfache Wahrheit wiederholt werden: ein zersplittertes Europa führt zum Krieg, Unterdrückung, Elend, ein einiges Europa zum Frieden, zum Wohlstand! Rettet Europa und Eure Kinder!"
Diese Worte bleiben unbeachtet ....
So haben wir durch das ganze Inferno des Zweiten Weltkrieges hindurch gemußt, um an dessen Ende nur mehr den totalen Ausverkauf an Macht und Einfluß konstatieren zu können. So hat dann Winston Churchill in seiner denkwürdigen Züricher Rede nur das ausgesprochen, was für jeden Einsichtigen inzwischen selbstverständlich geworden war. Robert Schuman, Paul Henri Spaak, Alcide de Gasperi und Konrad Adenauer haben sich mit der ganzen Kraft ihrer Persönlichkeit darum gemüht, die inzwischen allgemein verbreitete Erkenntnis in praktische Politik umzumünzen. Auf den Beginn, bestehend aus der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die schon im Jahre 1950 ins Leben trat, folgten die Römischen Verträge und jene beharrliche und zähe Arbeit, die von der Brüsseler Kommission geleistet wurde, um die Europäische Magna Charta mit Leben zu erfüllen.
Versuchen wir heute, erneut Bilanz zu ziehen, wie dies schon bei früheren Karlspreisverleihungen geschehen, so drängt sich zunächst eine außerordentlich erfreuliche Feststellung auf: Wir haben allen Grund zur Freude darüber, daß die Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien, Dänemark, Irland und Norwegen endlich zu einem guten Ende geführt werden konnten. Die entsprechenden vertraglichen Vereinbarungen wurden inzwischen durch die Vertreter dieser Länder in Brüssel unterzeichnet und wir können davon ausgehen, daß nun in Kürze die bisheran aus sechs Staaten bestehende Gemeinschaft auf zehn Staaten erweitert wird, was bedeutet, daß diese Gemeinschaft die größte Wirtschaftsmacht der Welt darstellt.
Wir haben s. Zt., als im Jahre 1963 die von dem damaligen Europa-Minister Edward Heath geführten Verhandlungen zum Scheitern kamen, diesen in Anerkennung seiner konstruktiven Leistungen für die Einigung Europas mit dem Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen ausgezeichnet. Er hat seitdem das Ziel nicht aus den Augen verloren und alle überzeugten Europäer sind mit ihm einig in der Freude darüber, daß es nun der von ihm geführten Regierung gelungen ist, das Ziel zu erreichen. Ihm dazu am heutigen Tage den Dank und die Anerkennung des Direktoriums der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachenauszusprechen, ist mir ein ganz besonderes Bedürfnis.
Meine Damen und Herren, die Geschichte schreitet unaufhaltsam weiter fort. Uns, die wir zutiefst überzeugt sind von der Notwendigkeit der Fortführung des Einigungswerkes, stellt sich nun die Frage: wo stehen wir heute, wie kann und wie muß es weitergehen? Vergleichen wir den großen Elan, der uns in den fünfziger und in den sechziger Jahren unaufhaltsam weiterführte mit der gegenwärtigen Situation, so gibt es wohl keinen unter uns, der nicht ein beklemmendes Gefühl empfände. Es kommt hinzu, daß eine Gemeinschaft von zehn Staaten zweifellos mehr innere Reibungsverluste haben wird, als dies bei sechs Staaten der Fall war. Das sollte uns aber keinesfalls entmutigen. Wir haben das im Voraus sehr wohl gewußt und waren uns klar darüber, daß wir Mittel und Wege finden müssen, um mit diesen Schwierigkeiten fertig zu werden. Was uns heute fehlt, das ist ein größeres Maß an Supranationalität, was uns fehlt, das ist ein entschlossenes Hinsteuern auf das politisch geeinigte Europa. Was nützt uns die statistische Feststellung, daß diese Gemeinschaft die größte Wirtschaftsmacht der Welt darstellt, wenn die Wirtschaftspolitik dieser zehn Staaten an zehn verschiedenen Stellen gemacht wird? So bleiben wir den festgefügten großen Blöcken gegenüber hoffnungslos unterlegen. Auf der anderen Seite aber erhebt sich die Frage: sind wir fähig, eine gemeinsame Wirtschaftspolitik zu machen, solange wir alle von verschiedenen Voraussetzungen ausgehen? Nach wie vor haben wir doch festzustellen, daß die wirtschaftliche und steuerliche Gesetzgebung, das Wettbewerbsrecht in allen beteiligten Ländern unterschiedlich geregelt ist. Und alle Parlamente sind fleißig damit beschäftigt, fortlaufend neue Gesetze zu verabschieden, die den Weg zur Vereinheitlichung zusätzlich erschweren. Wir hören so viele Bekenntnisse von Mitgliedern gesetzgebender Körperschaften zur Einheit Europas; die gleichen Frauen und Männer lassen sich aber von niemandem in dem fleißigen Bemühen übertreffen, die Angleichung zu erschweren. Zumindest seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge im Jahre 1957 haben wir doch alle die Verpflichtung zum Angleichung der wirtschaftlichen und steuerlichen Gesetzgebung übernommen und kennen diese und trotzdem handeln wir nicht danach, nein, wir bauen fortlaufend noch neue Hindernisse auf. Nur äußerst selten hört man bei neuen Gesetzgebungsvorhaben den Einwand des einen oder anderen Parlamentariers, der auf das von mir Gesagte abzielt, aber selbst wenn er vorgebracht wird, ist die große Mehrheit nicht bereit, ihm Rechnung zu tragen. Ich frage mich dabei, ob diese Einstellung unserer Parlamente nicht vielleicht auch in einem gewissen Zusammenhang zu sehen ist mit der Tatsache, daß die Mitglieder des europäischen Parlamentes nicht aus direkten Wahlen hervorgehen, sondern von den nationalen gesetzgebenden Körperschaften nominiert werden. Die Fraktionen benennen ihre Kandidaten und diese werden ohne Ansehen der Person dann entsandt. Ist eine Wahlperiode abgelaufen, dann geht die gleiche Prozedur von neuem vor sich, ganz im Gegensatz zum normalen Direktwahlverfahren, bei dem der Wähler vor einer Wiederwahl Rechenschaft fordert. Gäbe es das auch beim europäischen Parlament, dann würde möglicherweise dem einen oder anderen Abgeordneten sehr viel klarer werden, daß die nationalen Parlamente verpflichtet sind, in ihrer internen Gesetzgebungsarbeit das Ziel der Angleichung immer vor Augen zu haben und diese nicht tun sollten, was die Vereinheitlichung zusätzlich erschwert. Ich sehe außerdem auch einen großen Nachteil der heutigen Beschickung des europäischen Parlaments in dem Faktum, daß der breiten Öffentlichkeit heute fast gänzlich unbekannt ist, wer für sie verantwortlich diese Aufgaben wahrnimmt. Damit entfällt gleichzeitig so gut wie ganz die Einwirkung breiter Wählerschichten auf die Arbeit dieses Parlaments. Die im Dezember 1969 in Den Haag stattgehabte Gipfelkonferenz hat den Weg frei gemacht für die erneute Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien, Dänemark, Irland und Norwegen und in den darauffolgenden Jahren haben alle engagierten Europäer wie gebannt nach Brüssel und in die Hauptstädte der beitragswilligen Länder geschaut, jede Phase der Verhandlungen miterlebt und schließlich mit Befriedigung von ihrem positiven Abschluß Kenntnis genommen. Es darf uns vielleicht auch nicht wundern, daß in dieser Zeit alle Kräfte und Energien der Beteiligten so stark auf die Erreichung dieses äußerst wichtigen Zieles konzentriert waren, daß der weitere Ausbau der Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft darüber zu kurz gekommen ist. Schon im Jahre 1968 sagte Jean Monnet: "Wir, die sechs Länder, die schon Mitglieder sind, werden am 1. Juli dieses Jahres einen großen Binnenmarkt ohne Zölle und mengenmäßige Beschränkungen und mit einer gemeinsamen Organisation für die Landwirtschaft verwirklicht haben. Aber wir werden keinen wirklichen gemeinsamen Markt geschaffen haben, solange wir nicht die wirtschaftliche Union unserer Länder verwirklicht haben, solange wir nicht nur die Zollgrenzen beseitigt, sondern auch das Kapital, die Interessen unserer Länder in wirklich europäischen Gesellschaften vereinigt haben - solange wir nicht die wissenschaftliche Forschung und die technische Entwicklung nicht mehr in nationalstaatlicher Form, sondern in europäischer Form wirksam organisiert haben." Vier Jahre sind seit diesem Ausspruch vergangen und die von Jean Monnet aufgestellte Forderung ist heute ebenso unerfüllt, wie sie damals war. Die Brüsseler Kommission droht sich auf die Bewältigung technischer Einzelheiten zu beschränken und den schöpferischen Impuls, der einmal von ihr ausgegangen ist, einzubüßen. Ist es nicht im Augenblick so, daß wir uns zwar eifrig bemühen, die vertraglich festgesetzten und an bestimmte Termine gebundenen Tatbestände zu schaffen, daß aber darüber hinaus so gut wie nichts passiert. War es nicht früher so, daß der Ministerrat ständig von der Kommission unter Beschlußzwang gestellt wurde und erleben wir nicht heute, daß der Ministerrat hauptsächlich dann zu Marathonsitzungen zusammentritt, wenn sich eine ausweglos erscheinende Situation präsentiert. Der Zwang zur Einstimmigkeit, der nach den Verträgen schon lange überwunden sein sollte, wirkt sich nach wie vor als unendliche Kräfte absorbierendes und verzögerndes Moment aus. In jedem demokratischen Staat gilt es als vollkommen selbstverständlich, daß letzten Endes die Mehrheit entscheidet, weil sonst ja jede Staatsführung lahmgelegt würde. In der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hingegen glauben wir uns eine solche Lahmlegung leisten zu können. Dabei müssen wir klar erkenne, daß ein solches System in einer Gemeinschaft von sechs Staaten zwar schon sehr hinderlich war, in einer solchen von zehn Staaten aber möglicherweise jeden Fortschritt ausschließt.
Nun stehen wir alle in Erwartung der für den Herbst dieses Jahres in Aussicht genommenen Gipfelkonferenz und erhoffen von dieser grünes Licht für gewisse weitere Fortschritte, und wir alle werden sicherlich sehr froh sein, wenn diese Erwartungen zumindest teilweise in Erfüllung gehen, aber das Verfahren als solches scheint mir doch wenig erstrebens- und fortsetzungswert. Von der Notwendigkeit dieser Gipfelkonferenz wird seit Monaten gesprochen und es wird voraussichtlich noch ein halbes Jahr in Land gehen, ehe sie stattfindet - nichts wie verlorene Zeit. Früher hat es solcher Konferenzen nicht bedurft. Walter Hallstein hat mit Recht gesagt: " Es gibt ein oberstes Gesetz in der Politik. Das ist das Gesetz des Handelns. Wir dürfen das Gesetz des Handelns nicht aus der Hand geben, indem wir uns in die Defensive begeben. Geduld ist eine Tugend im politischen Leben, aber nur selten ist sie - und dann auch nur auf Zeit - ausreichend."
Ich weiß mich einig mit der weit überwiegenden Zahl der Bürger des freien nach Einheit drängenden Europas, wenn ich mich zum Sprecher der Ungeduld mache und möchte aus dieser Stadt, die lange genug Zeuge all des aus dem Zwiespalt entstehenden Leides gewesen, alle Verantwortlichen aufrufen: Lassen wir keine Zeit mehr vergehen, ohne mit allen Kräften dahin zu wirken, daß dieses Europa sich weiter entwickele zu einer wirklichen Wirtschafts- und Währungsunion und darauf aufbauend zu einer politischen Einheit. Gerade in diesem Augenblick kommt es darauf an, in der nun größer gewordenen Gemeinschaft miteinander Tritt zu fassen und ohne Zögern zuzugehen auf die europäische Föderation. Dazu bedürfen wir überzeugter Männer, politischer Führungspersönlichkeiten, die bereit und in der Lage sind, den Weg frei zu machen, alle Hindernisse zu beseitigen und sich durch niemanden und nichts daran hindern lassen, das gesteckte Ziel zu erreichen. Wir sind der festen Überzeugung, daß unser diesjähriger Preisträger ein solcher Mann ist. Wir sollten uns aber auch in Dankbarkeit daran erinnern, daß vor ihm schon zwei seiner Landsleute mit dem Karlspreis ausgezeichnet wurden: im Jahre 1956 Sir Winston Churchill, der durch seine schon in die Geschichte eingegangene Züricher Rede die Völker Europas zur Einigung aufgerufen hat, und Edward Heath, dessen ebenso zähe wie zielstrebige Arbeit ich soeben schon gewürdigt habe. Nun geht es heute um Roy Jenkins.
Der als Sohn eines Bergarbeiterführers und Unterhausabgeordneten am 1l. November 1920 geborene Roy Harris Jenkins brachte sein Studium der Philosophie, Politik und Volkswirtschaft an der Universität Oxford im Jahre 1941 zu einem glanzvollen Abschluß, um während der folgenden Jahre im Kriegsdienst zu stehen. Im April 1948 wurde er erstmals ins Parlament gewählt und hat diesem dann ohne Unterbrechung bis zum heutigen Tage angehört. In den Jahren 1955 und 1956 vertrat er sein Land in der Beratenden Versammlung des Europarates und in der Versammlung der Westeuropäischen Union. Er betätigte sich in mehreren europäischen Organisationen, war stellvertretender Vorsitzender der Kampfgruppe für den Gemeinsamen Markt und ist Präsident des Rates der Europäischen Bewegung des Vereinigten Königreichs. Seit 1965 der Regierung angehörend, bekleidete er seit November 1967 das Amt des Schatzkanzlers. Seit dem Regierungswechsel im Jahre 1970 gehörte Jenkins dem Schattenkabinett an und war stellvertretender Vorsitzender der Labour-Party, Positionen, die er erst vor wenigen Wochen aufgegeben hat.
Mr. Jenkins hat sich seine Stellung nicht leicht gemacht. Ein Studium seiner öffentlichen Reden und seiner Aufsätze macht dies sehr klar. Er hat das Problem Europa, so wie es seine Pflicht als Abgeordneter war, zunächst unter genauer Abwägung der damit für sein Land verbundenen Vor- und Nachteile angesehen und dabei auch die Mentalität seiner Landsleute in sein Kalkül einbezogen; dazu schreibt er sehr nüchtern: "Ein Engagement in Europa muß psychologisch für die öffentliche Meinung sehr beunruhigend sein. Es geht an die Wurzel unserer gesamten Vorstellung von uns als Nation." Aber er hat sich auch mit besonderer Sorgfalt an die Prüfung der für sein Land mit dem Beitritt zur europäischen Gemeinschaft verbundenen wirtschaftlichen Fragen beschäftigt, um schließlich die Problematik wie folgt zu definieren: "In jedem Falle geht die Frage, die wir uns alle zu stellen haben dahin, ob wir wirklich glauben, daß wir in der Welt von heute und noch mehr in der zukünftigen auf uns selbst gestellt leben können, oder ob wir glauben, daß wir unsere Kraft und unseren Einfluß auf Entscheidungen, die uns unmittelbar angehen, ganz erheblich vergrößern können, indem wir bei ihrem Zustandekommen behilflich sind." Und so beurteilt er auch die Zukunftsaussichten seines eigenen Landes wie folgt: "Wenn wir Briten es versäumen, von den uns gebotenen Möglichkeiten Gebrauch zu machen, dann werden wir zumindest in den uns bevorstehenden Jahrzehnten einen sehr viel bescheideneren Weg gehen müssen, als dies sonst der Fall sein könnte." Er meint auch, daß der Beitritt seines Landes für das übrige Europa von Nutzen sein könnte: "Wenn Europas künftige Wirtschaft eine starke technologische Grundlage haben soll, so kann dies mit voller britischer Mitwirkung sehr viel eher erreicht werden, als ohne diese." Jenkins zeigte einen sehr klaren Blick für die heutigen Machtkonstellationen, wenn er sagt: "Vorzugeben eine Macht auszuüben, die in Wirklichkeit nicht mehr da ist, bedeutet die eigene Freiheit einzuschränken und nicht sie zu erhalten." Und daraus zieht er den Schluß: "Für jede mittelmäßige Macht bedeutet heute die Bereitschaft, nationale Souveränitäten zusammenzuschließen, eine Grundvoraussetzung für Einfluß und - in einem paradoxen und dennoch realistischen Sinne - nationale Freiheit."
Dieser kleine Ausschnitt aus den Überlegungen, die das Fundament der europäischen Überzeugung unseres Preisträgers bilden, läßt ihn uns als einen ebenso verantwortungsbewußten wie weitblickenden Politiker erscheinen. Von hier hat sein über viele Jahre währender aktiver Einsatz für die Teilnahme Großbritanniens an der Europäischen Gemeinschaft seine Kraft geschöpft. Für ihn sind die Hemmnisse, denen sein Land begegnete, als es, endlich zum Beitritt entschlossen, einen solchen Antrag stellte und über die Bedingungen verhandelte, eine tiefe Enttäuschung gewesen. Dann kam der Moment, in dem die Tore sich öffneten und die Einigung abzusehen war, und das in einem Augenblick, in dem die eigene Partei aus der Regierungsverantwortung ausgeschieden war. Deshalb erhob er schon im September 1970 vor seinen Parteifreunden mahnend seine Stimme: "Zunächst hoffe ich, daß es nicht in Frage kommt, daß wir als Opposition eine andere Haltung annehmen, als wir als Regierung getan haben." Und weiterhin: "Schwer akzeptable scheint mir die Haltung dessen, der sagt: unter einer Labour-Regierung hätte ich den Beitritt unter den Bedingungen wohl befürwortet; aber diesen Bedingungen widerspreche ich, weil die Regierung gewechselt hat."
"Es ist jetzt oder nie; ich möchte zwar wünschen, es wäre unter unserer Regierung, aber es ist nun einmal nicht und ich würde es für ein Versagen halten, wenn wir zulassen würden, daß hierdurch unsere Stellungnahme beeinflußt würde." Das sind klare und deutliche Worte, die den Weg aufzeigen, den er selbst zu gehen entschlossen war. Er ist sich treu geblieben. Die Prüfung der von der britischen Regierung ausgehandelten Bedingungen überzeugte ihn davon, daß diese für sein Land annehmbar seien und damit stand sein Standpunkt fest. Als die Grundsatzabstimmung im britischen Unterhaus anstand, zerbrachen alle Bemühungen um die Herstellung einer einheitlichen ablehnenden Haltung seiner Partei an seiner festen Entschlossenheit. 68 seiner Parteifreunde stimmten mit ihm am 28. Oktober 1971 für den Beitritt, 20 weitere enthielten sich der Stimme und so fiel die Entscheidung für den Beitritt mit einer eindrucksvollen Mehrheit. Damit hat er ein in unserer Zeit seltenes Beispiel von Überzeugungstreue und Zivilcourage gegeben, das in die Geschichte eingehen wird. Diese hervorragende Haltung in einer für unser aller Zukunft bedeutsamen Entscheidung ist für das Direktorium für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu AachenVeranlassung gewesen, Ihnen, Mister Jenkins, einstimmig den Karlspreis 1972 zuzuerkennen.
Mr. Jenkins, you are after Sir Winston Churchill and Edward Heath the third representative of the British people to be awarded the Charlemagne Prize. You have been found worthy of it because of your outstanding courage, of being faithful to your conviction, specially on the vote in parliament of October 28, 1971. But you shall also wear this medal because we are convinced that in future you will likewise cooperate creatively in the promotion of an economically and politically united Europe.
Dies ist das dritte Mal, daß ein britischer Staatsbürger auf diesem Podium steht, um den Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen entgegenzunehmen. Als es im letzten Viertel des vergangenen Jahres um die Zustimmung des britischen Parlaments zu den von der Regierung ausgehandelten Bedingungen ging, haben Sie sich an die schon ein Jahr früher in Blackpool gesprochenen Worte gehalten: "I hope there will be no question of our taking a different attitude in opposition from the one we have taken in Government." Sie haben zu Ihrer Überzeugung mutig gestanden und damit Ihrerseits ein Beispiel gegeben, ein Beispiel verantwortungsbewußter Haltung gegenüber Ihrem Lande und gegenüber Europa und der gemeinsamen Zukunft. In Anerkennung dieser Tatsachen hat Ihnen das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachenden Karlspreis 1972 einstimmig zugesprochen. Dies geschah insbesondere auch in dem festen Vertrauen darauf, daß Sie auch in Zukunft zu den Männern gehören werden, die ihren ganzen Einfluß dahin ausüben, die Freiheit Europas und die Wohlfahrt seiner Völker zu sichern durch die gemeinsame Gestaltung seiner Zukunft.