Herr Oberbürgermeister der Stadt Aachen,
Meine Damen und Herren,
es gehört zum Zeremoniell dieser Preisverleihung, daß bei dieser Gelegenheit ein ehemaliger Preisträger eine Ansprache hält. Die Europäische Kommission, der ich angehöre, hat 1969 den Karlspreis der Stadt Aachen empfangen, und ich hoffe, es genügt, daß ein Vierzehntel Preisträger zu Ihnen spricht, oder daß Sie es würdigen, daß ich im Namen der ganzen Kommission das Wort führe.
Es ist mir eine besondere Freude, daß dies anläßlich der Preisverteilung für Roy Jenkins geschehen kann, jenen britischen Politiker, der sich wie kein anderer für Europa und insbesondere für den Beitritt Englands zur Gemeinschaft eingesetzt hat. Der es getan hat und auch heute noch tut – mit dem vollen Einsatz seiner Person und dabei seine tiefe Überzeugung zum Ausdruck bringt, daß internationale Zusammenarbeit eine absolute Notwendigkeit ist und kurzlebigem politischem Gewinn vorgeht, und der überzeugt ist, daß der Sozialismus zu einer neuen Form der internationalen Zusammenarbeit führen muß und daraus für sein politisches Handeln hier und heute die Konsequenzen zieht.
Der dabei auf Kritik stieß. Aber der auch zeigt, daß es Augenblicke in der europäischen Entwicklung gibt, die ein sorgfältiges Abwägen des Für und Wider zu mutigem Handeln erfordern. Unsere Gesellschaft ist in eine Zeit raschester Veränderungen eingetreten, die uns in Zukunft noch manches an schöpferischer Phantasie abverlangen werden, und hier sieht er deutlich, daß es nicht nur auf das Mitdenken, sondern auch auf das Mithandeln ankommt, um auf die Entwicklung Einfluß zu nehmen. Der Sozialismus muß dynamisch sein, wenn er nicht die Gesellschaft ganz aus dem Griff verlieren will.
Hierzu gehört Phantasie, einständiges Sich-Besinnen auf die wirklichen Werte, die Grundlagen des Sozialismus, um daraus den Mut zum Handeln zu schöpfen.
Das Handeln der sozialistischen Gemeinschaft von heute ist erklärbar aus seiner tiefen Überzeugung, daß der Sozialismus sich nur international entwickeln kann, und er dient damit der besten Tradition der Labour Party. Beispielsweise die Tradition eines Arthur Henderson, der sich in den dreißiger Jahren als Außenminister für die europäische Abrüstungskonferenz eingesetzt hat. Dieser hat bis zuletzt versucht, mit Deutschland zu einer Einigung zu gelangen und Deutschland im Völkerbund zu halten.
Und wir brauchen nur einen Blick auf die großen Fragen der Zukunft zu werden, um zu sehen, wie dringend nötig es ist, aus der Zerrissenheit und Schwäche der Vergangenheit ein starkes, fest organisiertes Europa zu entwickeln.
Es ist fünf Minuten vor Zwölf für uns auf der weltpolitischen Uhr, und wir müssen erkennen, daß wir den Einsatz aller demokratischen Länder in Europa brauchen, um die Rolle zu spielen, die die Welt von uns verlangt. Denn dieses Europa ist nicht gegen etwas gerichtet, sondern ein Kraftbündel, das sich zusammen mit anderen für eine bessere Menschheit einsetzen will, für eine Welt, in der es einen Beitrag liefern kann zum Wohlergehen der Menschen. Dabei ist Europa aus dem Stadium des common-market herausgewachsen, ein Wort, dem in England fälschlicherweise immer noch großer Wert beigemessen wird. Europa bereitet sich nun auf eine neue Entwicklung vor, die über die Wirtschafts- und Währungsunion zu einer politischen Gemeinschaft führen soll. Mit neuen Aufgaben, neuen Befugnissen, neuen Institutionen und mehr Demokratie.
Mit diesem Europa geht es nun nach Jahren der Frustration wieder aufwärts. Dank einer Initiative der Labour-Regierung (gerade zur rechten Zeit), die an dieser Entwicklung teilnehmen, Mitverantwortung für unsere Aufgabe in der Welt tragen wollte, ließ allein schon das Versprechen, Mitverantwortung zu tragen, einen neuen Clan entstehen.
Wenn wir uns im Augenblick auf eine Konferenz der verantwortlichen Staatsmänner der zehn Länder vorbereiten, so geschieht es in der Überzeugung, daß wir der Welt mehr werden bieten müssen als bisher. Daß die Kraft, auf die wir uns stützen, einfach die Pflicht in sich birgt, uns in den Dienst der Hilfe für die Schwachen zu stellen, und in den Dienst einen dauerhaften Friedens. Vor welchen Aufgaben steht Europa?
Europa wird seine politische Identität klären müssen – das wird auf der bereits erwähnten Gipfelkonferenz zu geschehen haben. Dort wird Europa seine politischen Ziele klar formulieren müssen:
-Ziele im Hinblick auf die Völker Europas
-Ziele im Hinblick auf die Welt.
Die Zollunion wird in dem kommenden Jahrzehnt zu einer Wirtschafts- und Währungsunion heranwachsen müssen. Aber um dahin zu gelangen, werden wir Neuland in der Gemeinschaftsverantwortung betreten müssen. Dazu muß die gemeinsame Sozialpolitik ausgebaut werden. Es muß eine Industriepolitik entwickelt werden, was ein gemeinsames Vorgehen in dem Bereich der naturwissenschaftlich-technischen Forschung erfordert.
Wir werden allgemein gegen die Strukturunterschiede angehen müssen, welche die Grundlage der Unterschiede in unserer Wirtschaftspolitik bilden. Ich glaube nicht, daß wir von Prioritäten sprechen können, ich glaube nicht, daß wir beispielsweise sagen können, daß wir erst einen gemeinsamen Standpunkt gegenüber der Außenwelt finden müssen, zum Beispiel im monetären Bereich. Sicher ist so etwas wichtig, aber um dahin zu gelangen, müssen wir dafür sorgen, daß sich eine echte Gemeinsamkeit entwickelt unter den zehn Ländern der Gemeinschaft, in der jeder seine Verantwortung übernehmen kann.
Dazu muß Europa mehr, viel mehr, werden als ein Jagdgrund für multinationale Großunternehmen, so daß jeder Bürger dort seinen Platz findet und Anteil nimmt, und dabei ist, zu einem Europa der Arbeiter beizutragen, die mehr wollen als in einem Unternehmen arbeiten, die Eigenverantwortung für das Wohl und Wehe auch in Unternehmen wollen. Wir werden dafür sorgen müssen, daß die Forderung nach ?Demokratie im Unternehmen? mehr ist als ein leeres Schlagwort.
In einer Wirtschaftsunion wird sich eine Solidarität für die wirtschaftlich Schwachen bilden müssen, und das bedeutet Entwicklung einer Regionalpolitik. Die laissez-faire-Politik hat bewiesen, daß die Wirtschaft dort am stärksten wächst, wo schon bisher der größte Wohlstand war.
Und dann wird das schnellere Wachstum so genutzt werden müssen, daß mehr als Qualität dem Leben zugute kommt: Wir sind mit dem ungezügelten Wachstum auf dem besten Wege, die elementarsten Lebenswerte zu ersticken. Unser natürliches Gleichgewicht droht schnell zerstört zu werden. Saubere Luft, sauberes Wasser und Ruhe, auch in der Natur, gehören zu den elementarsten Lebensbedürfnissen, und große Investitionen werden nötig sein, um den Schaden, den wir angerichtet haben, wiedergutzumachen und unsere Gesellschaft zu einem dauerhaften Gleichgewicht zu führen. Dies bedeutet Umlenkung des Wachstums auf andere Ziele, aber es steht auch fest, daß dies auf nationaler Basis nicht mehr geschehen kann, sondern sich nur durch eine gemeinsame Kraftanstrengung erreichen läßt.
Bei all dem werden wir unsere Verantwortung in der Welt tragen müssen. Wir können die sogenannte Führungsrolle in der Welt nicht den Vereinigten Staaten überlassen, sondern müssen selbst unseren Teil übernehmen. Das zwingt uns zu einer engen Zusammenarbeit, und die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft kann und darf nicht gegen einen anderen gerichtet sein, sondern muß die Grundlage bilden, auf der wir gemeinsam mit anderen unsere Aufgaben übernehmen können. Und das gilt auch gegenüber Osteuropa. Die Gemeinschaft darf nie ein Block sein. Sie darf nie Front machen, gegen wen auch immer.
Vielmehr soll die Stärkung unserer Gemeinschaft sie zu einer engeren Zusammenarbeit mit dem Osten befähigen. Ich frage mich zum Beispiel, ob eine Ostpolitik in Deutschland möglich gewesen wäre, wenn es keine Europäische Gemeinschaft gegeben hätte. Und ich bin davon überzeugt, daß auf der bevorstehenden Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa die heutige Gemeinschaft und vor allem ihre künftige Weiterentwicklung ein positives Element sein werden.
Und schließlich unsere gemeinsamen Aufgaben gegenüber der sogenannten dritten Welt, den Entwicklungsländern. Im Augenblick tagt in Santiago de Chile die dritte Welthandelskonferenz der Vereinten Nationen. Diese Konferenz wird keine Beschlüsse fassen können, die unmittelbare Ergebnisse haben, aber ich halte sie für nicht mißglückt, wenn sie zumindest der Welt deutlich macht, wie weit wir noch vom Ziel entfernt sind. Daß uns das furchtbare Wirtschaftswachstum erstickt, liegt daran, daß wir nicht in der Lage sind, die Wohlstandskluft in der Welt zu überbrücken oder auch nur zu verkleinern, hierin sehe ich das größte Fiasko unseres Gesellschaftssystems. Glaubt man wirklich, es könne künftig eine stabile Welt geben, eine Welt des Friedens ohne den Unterbau einer echten Solidarität, in der die elementarsten Lebensbedürfnisse des Menschen garantiert werden? Ich hoffe und erwarte, daß auch die hier eingangs erwähnte Gipfelkonferenz zu einem politischen Engagement führen wird. Nie wird es uns gelingen, unsere Ziele zu erreichen, wenn nicht Schritt für Schritt unsere Organe mit neuen Befugnissen ausgestattet werden. Und das bedeutet auch, daß die parlamentarische Kontrolle ausgebaut wird und sich zu einem Organ der konkurrierenden Gesetzgebung entwickelt. Auch hier wird sich die Gipfelkonferenz festlegen müssen. And to my friend Roy Jenkins I would say: ...
Aus dem hier Gesagten folgt, daß wir nicht nur wegen des Beitritts neuer Länder eine Verstärkung bedürfen, sondern weil die uns gestellten Aufgaben dies erfordern und daß unsere Gemeinschaft scheitern würde, wenn ich nicht alle europäischen demokratischen Länder beitreten.
Und als Sozialist ist es mir vergönnt zu sagen, wie fesselnd es ist zu sehen, daß auf diese Weise auch vieles von dem, was wir im Sozialismus als internationale Solidarität gefordert haben, eine Chance bekommt, verwirklicht zu werden.
Und ich möchte dann auch zum Ausdruck bringen, wie stolz ich bin, Dich, Roy Jenkins, hier geehrt zu sehen. In dem heutigen Kampf kannst Du Dich von dem erhebenden Gefühlt tragen lassen, das von der echten sozialistischen Solidarität ausgeht. Du kannst sicher sein, daß die Sozialisten auf dem Kontinent Dich unterstützen, jene, die mit aller Kraft daran mitarbeiten, um Europa zu dem zu machen, was es sein muß, einer Gemeinschaft auf der Grundlage der Solidarität. Und ich weiß mich als Sprecher aller, die hier für Europa einstehen, wenn ich Dir dafür meinen Dank ausspreche.