Nur den Allerwenigsten ist es gegeben, Dauerhaftes, Historisches zu leisten. Präsident Robert Schuman gehört zu dieser kleinen Gruppe von bevorzugten Menschenkindern.
Vor acht Jahren und wenigen Tagen hat er den Startschuß dafür gegeben, was wir heute ?Kerneuropa? nennen. Er tat es in seinem eigenen Stile, im Stile der westlichen, freiheitlichen Demokratie. Wenn eine Initiative von solch entscheidender Wichtigkeit in einem, wie auch immer etikettierten totalitären Staate ergriffen worden wäre - was hätten wir da nicht alles erlebt! Die grandiose Propagandamaschine hätte es uns mit ihrem Trommelfeuer eingepaukt, daß ?Le monde va changer de base?, daß eine neue Ära angebrochen sei. Die ganzen Massen wären ?spontan? mobilisiert worden und am Abend, bei sich zu Hause, würde mancher arme Teufel sich gefragt haben, gegen wen sich dieser Schachzug jetzt wieder gerichtet haben möchte.
Schuman machte es anders. Er hat eine bescheidene Pressekonferenz einberufen, an deren Ende nur die besten Journalisten, die klügsten und phantasiereichsten, verstanden, wie sehr hier ?first page news? geboten worden war.
Wir stehen jetzt im ?l'An VIII de l'Europe?, wie es unser heutiger Preisträger vor einigen Tagen in einem Zeitungsartikel ausgedrückt hat. Es lohnt sich darum, die Frage zu stellen: ?Wo befinden wir uns augenblicklich, und wohin steuern wir von hier aus?? Anders gesagt: ?Wie ist das Wetter und was sind die Voraussichten??
Eines steht fest: Das Klima in Europa ist seit den Zeiten des Haager Kongresses viel sachlicher geworden. Beklage das, wer es beklagen will - für uns ist diese Versachlichung ein wesentlicher Fortschritt. Wer sich die Verträge von Euratom und vom Gemeinsamen Markt ansieht, dem kann vielleicht in diesem Dickicht der Vereinbarungen zunächst die Übersicht verloren gehen, aber er wird nicht leugnen können: Hier wird mit den realen Problemen unserer Zeit gerungen. Er wird auch manches finden, das mit anderen Paragraphen in Widerspruch steht, denn die gefundenen Kompromisse sind nicht immer logisch, so daß alles davon abhängt, wie sie angewendet werden. Aber der Föderalist der ersten Stunde wird doch ein Gefühl der Freude empfinden, da wir jetzt mit Europa doch so weit sind, daß man in die Einzelheiten des Integrationsmechanismus hineingehen kann. Die Idee ist zur konkreten Politik geworden, und die Politik zur Tagespraxis.
Sollte das bedeuten, daß wir uns heute nicht mehr um Ideale, Gesinnung und politischen Willen zu kümmern hätten? Sind wir so weit, daß die Einigung unseres Weltteils jetzt nur noch eine Frage des reinen technischen Ablaufs geworden wäre? - Eine solche Konzeption ist ebenso verfehlt wie die andere, die dem angeblichen ?Europa der Technokraten? ein noch fiktiveres ?Europa durch den direkten, revolutionären Volkswillen? entgegenstellen will. Denn so sehr wir die neueste Entwicklung als verheißungsvoll begrüßen, so sehr sind wir zu gleicher Zeit davon überzeugt, daß noch immer der Schlüssel des Erfolgs in der Entschlußkraft der Europäer liegt - nicht nur in ihrer fachmännischen Kompetenz.
Wir sprachen soeben vom ?Dickicht? der wirtschaftlichen Integration. Sicher besteht die Gefahr, daß wir, in der Fülle der Teilprobleme, die große historische Linie aus dem Auge verlieren, daß wir vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen.
Aber dann denke ich an unsere beiden Karlspreisträger vom vorigen Jahre und heute. Weder Spaak noch Schuman sind Wirtschaftsexperten und doch waren sie es, die den entscheidenden Antrieb gegeben haben bei der Verwirklichung unserer ökonomischen Einheit. Sie wußten, daß eine Frage nicht nur in abstracto schwierig ist, sondern daß sie erst in vollem Umfang schwierig wird, ja, vielleicht sogar unlösbar, wenn die schöpferische Entschlossenheit nachgibt.
Als Robert Schuman über Stahl und Kohle sprach, meinte er ?Endgültige Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland? und als Spaak sich auseinanderzusetzen hatte mit der Frage, ?ob Tomatensaft in Büchsen ein industrielles oder ein landwirtschaftliches Produkt sei?, da machte er sich eigentlich nur Sorgen über die Zukunft der Freiheit.
Soviel zum heutigen Klima. Jetzt die Perspektiven:
Diese werden sich ergeben oder nicht ergeben, inwieweit es uns gelingen oder nicht gelingen wird, die Integration auch in den Bereich des politisch-institutionellen hineinzuleiten. Denn Wirtschaft und öffentliche Verantwortung sind jetzt untrennbar verbunden. Wir leben nicht mehr im Neunzehnten Jahrhundert, und es handelt sich um viel mehr als um eine rein negative Beseitigung von Zollgrenzen. Es handelt sich um echte Gesellschaftsgestaltung im europäischen Raum. Darum kommen wir nicht mehr ohne europäische Obrigkeit aus. Die Europäischen Kommissionen von Euratom und Wirtschaftsgemeinschaft stellen dazu einen ersten Entwurf dar.
Selbstverständlich soll eine solche europäische Obrigkeit demokratisch kontrolliert werden, und auch hier liegt schon ein Kern vor, mehr als ein Kern sogar: Das Europäische Parlament, das vor kurzem die Weisheit hatte, sich Robert Schuman zum Präsidenten zu wählen. Hier findet die Dynamik der Demokratie ihre Chance. Um diese Chance aber voll auszunützen, ist mehr nötig als nur eine von den nationalen Parlamenten ernannte Versammlung. Direkt aus den Völkern soll sie gewählt werden, damit sie sich, voll legitimiert, ihren Aufgaben widmen kann.
Wie soll sich Kerneuropa zu den übrigen freien Ländern westlich des Eisernen Vorhangs verhalten? Wie soll sich die Dekolonisierung vollziehen, daß kein Bruch entsteht, der für alle Beteiligten verhängnisvoll wäre? Wie gestalten wir eine Trust- und Kartellpolitik, die zugleich demokratisch akzeptabel und wirtschaftlich effizient ist? Wie verhält sich unsere kontinentale Integration zur Atlantischen Allianz? Und nicht zuletzt: Wie können wir die Nöte lindern, unter denen unsere europäischen Brüdervölker im kommunistischen Imperium zu leiden haben?
Das alles sind Perspektiven grandiosen Ausmaßes, Perspektiven einer echten Erneuerung unseres politischen Lebens. Aber das ist nicht alles. Über das Ökonomische hinaus erblicken wir ein Feld, das vorläufig noch brach liegt: Die europäische Weltpolitik, wie wir sie in der Zukunft führen müssen unseren amerikanischen Verbündeten, den bolschewistischen Gegnern und der ?unentschiedenen? Welt gegenüber.
Auch an diese Fragen müssen wir gemeinsam heran, denn solange Europa keine eigene Weltpolitik hat, ist es nicht nur von andern abhängig, sondern es liefert auch nicht den Beitrag, zu dem es berufen ist.
Weltpolitik - vergessen wir einen Augenblick das veraltete Wort ?Außenpolitik? - werden wir als Europäer gemeinsam - oder gar nicht mehr führen. Hier liegt vielleicht unsere ernsteste Herausforderung, denn hier wird von unseren Völkern verlangt, den entscheidenden Sprung in das Reich der Europäischen Souveränität zu machen. In das Reich, wo Europa mit einem Gehirne denken und mit voller Kraft handeln kann, wo das Atlantische Bündnis endlich zu einer echten Gemeinschaft wächst, weil die Europäer ihre Streitigkeiten vergessen und ihr Minderwertigkeitsgefühl verloren haben und wo die friedliche Befreiung Osteuropas zur Realpolitik werden kann.
Verlangt wird: Der Sprung in das Reich der föderativen Demokratie, wo es nicht mehr um ?diese Franzosen mit ihren Kolonien?, nicht mehr um ?diese Deutschen mit ihren Sorgen um den Osten? geht, sondern wo Algerien und Schwarz Afrika, die Wiedervereinigung und Deutsche Ostgrenze gemeinsame Aufgaben darstellen.
Der Weg zu einer solchen geradezu revolutionären Lösung muß, wie ich es sehe, kühn, aber auch vorsichtig beschritten werden. Kein Mensch möge sich darüber wundern. Denn die Einigung Europas ist nun einmal eine totale Umwälzung, die sich aber vollziehen muß in einer äußerst komplizierten Gesellschaft, wo wir uns keine Risiken leisten können, um so weniger als die Feinde der Freiheit jede Unsicherheit, jeden Schock, jede Schwierigkeit gegen uns ausnützen.
Für Europa gilt ganz besonders das altrömische Sprichwort: ?suaviter in modo, firtiter in re?, ?entschieden in der Zielsetzung, beherrscht in der Verwirklichung?. Ein politisches Statut für Europa, ja!, damit wir das Instrument in den Händen haben, die moderne Welt auch politisch mitzugestalten. Aber nähern wir uns unseren Idealen ebenso undramatisch wie es auch Robert Schuman getan hat, als er seinen Plan vorschlug.
Bedienen wir uns dessen, was da ist: des Europäischen Parlaments. Warum könnte es nicht in kurzer Frist direkt gewählt werden? Und warum sollte es sich dann nicht dazu aufmachen, Europas Grundgesetz zu schreiben? War es übrigens nicht Robert Schuman selbst, der im September 1952 mit den anderen Außenministern die Initiative ergriff, dem Montanparlament einen ähnlichen Auftrag zu erteilen? Was damals möglich war, sollte morgen wieder möglich werden!
Ich möchte aber nicht mit diesen verhältnismäßig doch etwas ?technischen? Ausführungen schließen, so begeisternd die Perspektiven übrigens auch sein mögen. Ich möchte noch einige persönliche Worte über unseren heutigen Preisträger sagen.
Ich habe ihn bei manchen Gelegenheit getroffen. In Massenversammlungen, wo er sprach, so bescheiden und vorsichtig, aber doch so entschieden und überzeugend, wie es eben ist. Es wurde in unserer Zeit so viel geschrien, daß der moderne Mensch zuhört, wenn ein weiser, tatkräftiger Idealist ruhig das Wort ergreift. Darum wurde es immer sehr still unter den Tausenden, wenn Schuman sprach.
Ich traf ihn auch in kleinen Sitzungen, und wenn einmal die Debatte sich zu verlaufen drohte, wendete man sich an ihn: ?Herr Präsident, was halten Sie davon?? Man konnte dann immer gewiß sein, daß eine klare, kluge Antwort kam, die allen Recht zu tun versuchte. Denn der echte Demokrat findet seine Freude daran, zuzuhören und die anderen zu verstehen.
Aber am liebsten waren mir doch die Stunden, die wir in persönlichem Gespräch zusammen verbrachten. Da bemerkte man, wie dieser Politiker nicht nur ein Staatsmann ist, sondern auch ein Mann, der seine Kräfte aus der Fülle und Tiefe des universalen Geistesleben schöpft - denn hier wird sogar das Wort ?Europa? zu klein. Verwurzelt in seiner Heimat ist er ein Lotharingischer Europäer. Aber mehr noch: Er ist ein Menschenfreund, ein Mitmensch - ein Mensch.