Nach ersten zaghaften Schritten in den 50er Jahren hat die Europäische Union in den vergangenen Jahrzehnten eine große Wegstrecke zurückgelegt: Aus der Sechser-Gemeinschaft für Kohle und Stahl ist die Union der Fünfzehn geworden, und der Beitritt von zehn weiteren Staaten steht unmittelbar bevor. Aus der vormaligen Wirtschaftsgemeinschaft ist eine Handels- und Weltwirtschaftsmacht und der kaufkräftigste Binnenmarkt der Welt hervorgegangen. Und weit über die Grenzen der einstigen Zollunion hinaus zahlen heute mehr als 300 Millionen Menschen in ein und derselben Währung. Je wichtiger aber die Europapolitik für das Leben der Bürgerinnen und Bürger geworden ist, desto schwieriger ist es für sie, klare Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zu erkennen – was nicht selten mit einem Mangel an öffentlicher Akzeptanz einhergeht. Spätestens der Gipfel von Nizza und der schon vielfach beschriebene Post-Nizza-Prozess haben deutlich gemacht, dass Qualitätsveränderungen in der Europapolitik anstehen.
Die konkrete Ausgestaltung der Wirtschafts- und Währungs- und schließlich der Politischen Union, die Aufnahme weiterer Staaten in die Gemeinschaft, die Reform des politischen Systems im Rahmen einer künftigen europäischen Verfassung und die Erneuerung der internationalen Rolle der EU läuten eine neue Dimension des Integrationsprozesses ein. In dieser entscheidenden Phase europäischer Zukunftsgestaltung hat – von der Öffentlichkeit teilweise nur unzureichend wahrgenommen – die Institution der Gemeinschaft die Führungsfunktion eingenommen, die als einziges EU-Organ seit nunmehr rund 25 Jahren ihre Legitimation aus der direkten Wahl durch die Bevölkerung zieht: das Europäische Parlament.
Es war das Europäische Parlament, das einen Zeitrahmen für den Abschluss der ersten Erweiterungsrunde vorgegeben und insbesondere darauf bestanden hat, dass dieser rechtzeitig erfolgen soll, damit die neuen Mitgliedsstaaten an den nächsten Parlamentswahlen im Juni 2004 teilnehmen können. Und es war das Europäische Parlament, das im Oktober 2000, noch vor dem Abschluss des Vertrags von Nizza, einen Bericht über die Konstitutionalisierung der Europäischen Verträge annahm und die Einsetzung eines Konvents zur Zukunft Europas forderte.
War 2003 das Jahr der Vorbereitung der Erweiterung und weiteren Vertiefung der Union, so wird 2004 das Jahr des Europäischen Parlaments sein; eines Parlaments, in dem die Erweiterung der Gemeinschaft implementiert und gelebt werden muss und auf dem nun die Hoffnungen auf eine weitere Vertiefung der Integration ruhen; eines Parlaments, das für die demokratische Identität des Vereinten Europas und die Überwindung nationaler Egoismen steht; und eines Parlaments, das durch seine Mitglieder und die Beobachter aus den Beitrittsländern der Union der 25 schon heute ein Gesicht gibt – von Portugal bis nach Lettland und von Finnland bis nach Zypern.
In Würdigung der richtungsweisenden Rolle, die das Europäische Parlament in einer prägenden Phase europäischer Zukunftsgestaltung eingenommen hat, und in Anerkennung seiner herausragenden persönlichen Verdienste, die er sich um die nun unmittelbar bevorstehende Erweiterung der Union erworben hat, ehrt das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahre 2004 den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Pat Cox.
Patrick (Pat) Cox wurde am 28. November 1952 in Dublin, wo sein Vater als Uhrmacher arbeitete, geboren, wuchs indes später in Limerick auf und besuchte dort die St. Munchins CBS und die Ard Scoil Ris. Sein Studium der Ökonomie in Limerick schloss er 1974 mit dem Bachelor of Arts ab. Neben einer Tätigkeit als Lehrbeauftragter für Wirtschaftswissenschaften am Institut für Öffentliche Verwaltung in Dublin graduierte er 1976 zum Master of Arts und übernahm bis 1982 einen Lehrauftrag an seiner Heimat-Universität Limerick. Dort gehörte er zu den Gründern des ersten irischen Nicht-Graduierten-Programms für Europäische Studien.
Zwischen 1982 und 1986 gewann er landesweite Bekanntheit durch eine Tätigkeit als Fernsehmoderator populärer tagespolitischer Sendungen wie „Today Tonight“ bei der Fernsehanstalt RTÉ in Dublin, bevor er als Generalsekretär der von ihm mit gegründeten Partei „Progressive Democrats“ in die Politik wechselte.
Obwohl bereits 1989 erstmals in das Europäische Parlament gewählt, blieb die irische Politik zunächst sein Schwerpunkt. So fungierte er noch zu Beginn der 90er Jahre als finanzpolitischer Sprecher der Progressive Democrats im Repräsentantenhaus. Von seiner Partei später entzweit, gelang Cox als unabhängigem Kandidaten 1994 die Wiederwahl ins Europäische Parlament. Die liberale Fraktion, der er sich schon 1989 angeschlossen hatte, wählte ihn daraufhin zum stellvertretenden Vorsitzenden – eine Funktion, in der er maßgeblichen Einfluss auf Strategie und Politik der Liberalen nehmen konnte. Noch ein Jahr vor den Parlamentsneuwahlen bestimmte ihn seine Fraktion 1998 zum Vorsitzenden. Als die EUKommission unter Vorsitz des Luxemburgers Jacques Santer wenig später wegen des Fehlverhaltens zweier ihrer Mitglieder deutlich an Vertrauen verlor, spielte das Europäische Parlament und hier insbesondere die liberale Fraktion eine bis dahin ungewohnt forcierte Rolle. Vor allem Pat Cox betonte namens der Liberalen immer wieder die individuelle Verantwortung der Kommissionsmitglieder gegenüber dem Europäischen Parlament. Die öffentlich und parlamentarisch ungewöhnlich scharf geführte Debatte führte schließlich im März 1999 – erstmalig in der Geschichte der EU – zum Rücktritt der gesamten Kommission.
Bei den Wahlen im Juni 1999 gelang es Cox, als abermals unabhängiger Kandidat seinen Sitz im Parlament zu verteidigen. Die mit 51 Abgeordneten drittstärkste Fraktion der Liberalen und Demokratischen Partei Europas bestätigte ihn daraufhin auch in seinem Amt als deren Vorsitzender. Am 15. Januar 2002 schließlich wurde der verheiratete Vater von sechs Kindern zum Präsidenten des Europäischen Parlaments gewählt, dem gegenüber er für seine Amtszeit klare Prioritäten definierte:
- Die Erweiterung der Europäischen Union.
- Die Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments sowie eine bessere und reifere
Zusammenarbeit mit den anderen Institutionen, um ein für die europäischen Bürger transparenteres Gesetzgebungsverfahren zu schaffen. Das demokratische Element, das durch das Europäische Parlament repräsentiert wird, soll klaren Einfluss über bürokratische Verfahren erlangen.
- Der substanzielle Beitrag des Europäischen Parlaments zum Konvent.
Ein unübersehbares Zeichen, dass sich die Völkervertretung als treibende Kraft des Erweiterungsprozesses versteht, setzte Pat Cox in den ersten Monaten seiner Präsidentschaft mit einem noch nie da gewesenen Ereignis. So lud er zur Plenardebatte über die Erweiterung im November 2002 erstmals 147 Mitglieder der nationalen Parlamente aus den zehn unmittelbaren Bewerberländern sowie Gäste aus Bulgarien und Rumänien ein und beschrieb eindrucksvoll das Selbstverständnis der Europaabgeordneten:
„Als Parlamentarierinnen und Parlamentarier sind wir gefordert, eine Führungsrolle zu übernehmen, um in den Mitgliedsstaaten wie auch in den Beitrittsländern die Zustimmung der Öffentlichkeit zu gewinnen. Keine öffentliche Werbe- oder Informationskampagne kann eine echte Politik ersetzen, die sich auf Überzeugung und Vernunft gründet. Nun ist die Zeit gekommen, dass die Politikerinnen und Politiker die Erweiterungsagenda von den Fachleuten übernehmen, die den Weg bereitet haben. Als Parlamentarierinnen und Parlamentarier sind wir diejenigen, die direkten Kontakt zu unseren Wahlkreisen haben. Wir kennen die Hoffnungen und Ängste unserer Bürgerinnen und Bürger. Wir müssen die Erweiterungsagenda in die Hand nehmen und sie unseren Bürgerinnen und Bürgern vermitteln. Wir müssen auch Visionen mitbringen und unsere Führungsrolle wahrnehmen. Wir sind die unerlässliche demokratische Schnittstelle zwischen unseren Wahlkreisen, unseren Regionen, unseren Ländern und dem Europagedanken.“
Zur vorbereitenden Begleitung der anstehenden Erweiterungsrunde absolvierte Cox, diesem selbst formulierten Anspruch folgend, bereits in den ersten Monaten seiner Amtszeit Arbeitsreisen in sämtliche unmittelbaren Kandidaten-Staaten. Seine Besuche dienten vor allem dazu, der politischen Führung, aber auch der Bevölkerung in den Beitrittsländern die volle Unterstützung des Europäischen Parlaments in der schwierigen Phase der Vorbereitung ihrer Referenden und auch gegenüber manch westlichem „Bedenkenträger“ zuzusagen.
Mit einer groß angelegten Kampagne für ein irisches Ja zum Vertrag von Nizza wandte sich der Parlamentspräsident mit dem Gewicht seines Amtes auch an seine eigenen Landsleute. Als einziger irischer Politiker fuhr er mit einem eigens gemieteten Wahlkampfbus mehrere Wochen lang durch sein Land, um die Bürger vor Supermärkten, in Gaststätten und auf den Straßen direkt anzusprechen. Nachdem das irische Volk beim zweiten Referendum im Oktober 2002 den Weg für die Erweiterung mit überwältigender Mehrheit frei gemacht hatte, verlautbarte der Präsident denn auch nicht ohne Stolz: „Dieses Ergebnis beweist, dass das einzige Volk in der EU, das konsultiert wurde, nach einer geraumen Zeit des Nachdenkens ein Zeichen, wie es eindeutiger nicht sein könnte, gesetzt hat, dass das Rendezvous Europas mit der Geschichte nicht weiter verzögert oder aufgeschoben werden darf.“
Den politischen Willen, die Beitrittsländer möglichst rasch und möglichst umfassend an den Politiken der Union zu beteiligen, zeigte das von Cox präsidierte Europäische Parlament nachfolgend auch in seiner praktischen Arbeit. So nehmen die Beobachter aus den nationalen Parlamenten der zehn künftigen Mitgliedsstaaten bereits seit Unterzeichnung der Beitrittsverträge im April 2003 an den Arbeiten des Europäischen Parlaments, seines Plenums und seiner Ausschüsse teil.
Transparenz, Bürgernähe und pragmatische Politik zeichnen den liberalen Iren aus; und dieselben Attribute fordert der Parlamentspräsident auch bei den anderen Organen und Institutionen der Union ein. Als der Europäische Rat in Thessaloniki den Verfassungsentwurf des Konvents entgegennahm, appellierte er denn auch mit eindringlichen Worten:
„Es kommt darauf an, dass rechtzeitig vor den nächsten Europawahlen eine Einigung zum Vertrag erzielt wird. Unsere Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch darauf, zu erfahren, worüber sie abstimmen, und zu wissen, welche Rolle dieses Parlament in einem erweiterten Europa haben soll.“ [...] „Wie auch immer der Vertrag selbst letzten Endes aussehen mag, die Begeisterung für das Projekt Europa wird nur dann neu entflammen, wenn Europa sich mit den Belangen unserer Bürgerinnen und Bürger auseinandersetzt und den Herausforderungen gewachsen ist. Unsere Wähler stehen Fragen nach Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit und Subsidiarität mit fröhlicher Gleichgültigkeit gegenüber; sie wollen, dass in den Bereichen Arbeit, Sicherheit und Frieden etwas passiert. Sie interessieren sich weniger dafür, wie wir den Input organisieren, als vielmehr dafür, wie es mit unserer Output-Leistung aussieht.“
In einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde Cox kürzlich noch deutlicher. Unter dem Hinweis, die Wähler ermüde es, wieder und wieder über Vertragsänderungen abzustimmen, forderte er unmissverständlich, in den nächsten Jahren konkrete politische Vorhaben in den Vordergrund der europäischen Politik zu stellen: „Wir sollten für einige Zeit einen Schlussstrich unter die endlosen Selbstbetrachtungen der EU ziehen und uns Aufgaben wie der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Wirtschaft zuwenden.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. November 2003)
Wenn im kommenden Jahr 2004 zehn neue Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft beitreten werden, dann ist dies in ganz entscheidendem Maße auch ein Verdienst des Europäischen Parlaments, dem es nun obliegt, Erweiterung und Vertiefung zu gestalten, zu leben und den Bürgerinnen und Bürgern Europas noch näher zu bringen. Mit Pat Cox ehrt das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahre 2004 den obersten Repräsentanten der Institution, die mit der Legitimation des einzig direkt gewählten EU-Organs dem demokratischen Element der Union Gestalt gibt, die dem Prozess der Erweiterung in entscheidender Weise Qualität und Dynamik verliehen hat und auf der nun die Hoffnungen für eine weitere Vertiefung des Einigungsprozesses ruhen.