Wenn Sie, Heiliger Vater, Flüchtlinge im Vatikan aufnehmen, dann machen Sie uns frischen und neuen Mut. Denn Sie leben vor, dass Solidarität und Nächstenliebe keine Lippenbekenntnisse sein dürfen, sondern Werte, die uns immer wieder zur Haltung auffordern und zum Handeln verpflichten.
Deshalb trauen Sie auch uns, den Erben der Aufklärung, viel mehr zu als wir uns selber zutrauen – und das zu Recht. Denn Europa, das ist mehr als nur Institutionen, als Prozesse, als Kriterien, als Prozentsätze, Europa ist mehr als eine gehobene Freihandelszone, mehr als eine Zweckgemeinschaft – eine Zweckgemeinschaft, wo man an dem einen Tag Vollzeiteuropäer ist, weil man alles kriegt, und am anderen Tag Teilzeiteuropäer sein möchte, weil man etwas abgeben muss. Europa – das ist für mich die Vereinigung der besten Kräfte, die in den Europäern stecken.
Europa – das ist der Student, der dank des Erasmus-Programms in einem anderen Land studieren kann, sich manchmal sogar verlieben kann. Man hat mir neulich gesagt, ob das stimmt, weiß ich nicht: eine Million Menschen haben dank des Erasmus-Programms geheiratet. Das sind auch Ehen, die halten im Übrigen. Europa, das ist der Unternehmer, der überall in Europa seine Talente entfalten kann. Europa, das ist der Arbeitnehmer, der sich frei auf dem europäischen Arbeitsmarkt bewegen kann und bewegen muss und weiterhin bewegen wird.
Dieses Zusammenwirken der Menschen über Grenzen hinweg verbindet uns immer enger, Tag für Tag, und schafft eine kontinentale Atmosphäre, die unsere Verträge und unsere Vereinbarungen überstrahlt. Genau diese Fähigkeit – gemeinsam zu arbeiten, Teilung zu überwinden, Brücken zu bauen – werten Sie, Heiliger Vater, als eine besondere Stärke der Europäer. Und wir nehmen diese, Ihre Worte zu Herzen, denn wir können noch besser werden, als wir es sind – wir können eigentlich nur noch besser werden, als wir es sind.
Schon als Kind habe ich gelernt, dass der kontinentale Friede ein hohes Gut ist. Mein Vater wurde überzeugter Europäer – in der russischen Gefangenschaft, an den Frontabschnitten, überall in Europa –, er wurde überzeugter Europäer, weil er durch Nicht-Europa in den Krieg hineingezwungen wurde. Und ich stehe als sein Erbe bereit, genau dieses Bekenntnis und diese Erfahrung weiter zu tragen.
Europa, das ist die bewusste Entscheidung für das Gegenteil dessen, was die Generation unserer Eltern erleben musste. Europa, das ist das gelebte Bekenntnis zur Würde des Menschen, zum Miteinander, zu sozialem Frieden. Was für eine Errungenschaft das ist, vergessen wir manchmal im Alltag – und deshalb schätze ich es sehr, Heiliger Vater, dass Sie uns ins Gewissen reden und uns daran erinnern, dass wir unsere Verantwortung und unser gewaltiges Potential besser ausschöpfen müssen – für soziale Gerechtigkeit, für den Ausgleich zwischen den Menschen und den Völkern, für Flüchtlinge, vor denen wir keine Angst haben sollten. In der Tat ist diese europäische Kraft des Gemeinsamen in Zeiten innerer und äußerer Bedrohungen besonders wichtig.
Heiliger Vater, in Sarajevo rufen Sie die Jugend auf, die Augen nicht vor den Schwierigkeiten zu verschließen, in der Enzyklika Laudato Si’ schreiben Sie, es sei unmöglich, „den Aufbau einer besseren Zukunft anzustreben, ohne an die Umweltkrise und an die Leiden der Ausgeschlossenen zu denken“, und den Terrorangriffen von Brüssel setzen Sie eine Geste der Brüderlichkeit entgegen, indem Sie Migranten unterschiedlicher Konfessionen die Füße waschen. Mal für Mal erinnern Sie uns daran, dass es die Bestimmung des europäischen Aufbauwerks ist und bleibt, ein Werk des Friedens für Europa selbst und auch darüber hinaus zu sein. Das Elend dieser Welt kann uns nicht unberührt lassen. Das Elend dieser Welt geht auch uns etwas an. Eine stabilere Welt setzt ein stärkeres Europa voraus.
Das war nie einfach und wird nie einfach sein. Die Lösung kann jedoch nicht sein, dass wir uns in unserer kleinen Komfortzone verschanzen. Nehmen wir uns ein Vorbild am Mut unserer Vorgänger – dem Mut, sich Problemen zu stellen, um sie zu überwinden, dem Mut, Geschichte nicht zu erleiden, sondern Geschichte zu gestalten, deren Architekten, Handwerker und Bauleute zu sein. Audaces fortuna juvat. Das schulden wir den jungen Menschen in Europa.
Ich weiß um die Großzügigkeit der Jugend und um ihre Willenskraft. Wir müssen allen jungen Menschen zuhören, die nie den Krieg erlebt haben, die aber heute Zeugen und häufig Opfer des zerstörerischen Hasses gegen das Fremde sind. Sie müssen „Nein“ sagen zu Intoleranz, Rassismus, Ablehnung des Fremden. Sie müssen „Ja“ sagen zu unserer Art des Zusammenlebens, unserer demokratischen, freien, bunten Gesellschaft, zu unserer Demokratie, die sich in einem Europa entfaltet, das sozialer werden muss. In diesen Tagen feiern wir den 125. Jahrestag der Rerum Novarum. „Ja“ zu einem Europa mit mehr Solidarität und Respekt für die Schwächsten. Die anderen Kontinente, Heiliger Vater, beobachten uns und begreifen oft nicht unsere Zweifel, unser Zögern, unsere Unsicherheit. Sie verstehen nicht, dass Menschen in Europa das Fundament unserer europäischen Einigung infrage stellen. Die anderen Kontinente verstehen nicht die Welle von schädlichem und stumpfem Populismus, der Europa auseinanderzubringen und zu zerstören droht – dieses mit so viel Geduld, Schritt für Schritt, Überzeugung für Überzeugung, in Jahrzehnten aufgebaute Europa. Europa und seine Einigung liegen Ihnen, Heiliger Vater, sehr am Herzen, das weiß ich. Ermutigen Sie uns weiterhin, unsere Ideen, Talente, Energien mit neuer Kraft zu bündeln, um aus Europa – wieder – ein nachahmenswertes Modell zu machen. Oh ja, um den Aufbau Europas zu vervollkommnen, braucht es Geduld und Entschlossenheit – die Geduld und Entschlossenheit, die für große Ziele und weite Strecken erforderlich sind.
Heiliger Vater, ich als alter Europäer – alt, aber nicht aus der Mode gekommen, entschieden modern mit Blick in die Zukunft –, inspiriert von Ihren Worten und Taten, beglückwünsche Sie von ganzem Herzen und voller Hoffnung zu Ihrer Auszeichnung mit dem Karlspreis 2016.
Muchas gracias, grazie mille, bedankt, obrigado.