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Das gemeinsame geistige Erbe Europas, die auf unseren christlich-jüdischen Wurzeln basierenden Werte, die durch die reichen Einflüsse der griechischen und römischen Kultur, durch die karolingische Renaissance, die Aufklärung und die Normen der Demokratien ergänzt wurden, die Achtung vor der Einzigartigkeit des Menschen, seiner Würde und seinen unveräußerlichen Rechten, sind gewachsene Grundlagen der europäischen Verständigung, an deren Anfang vor allem eines stand: der sehnliche Wunsch nach Frieden.
Auf den Trümmern zweier Weltkriege haben die Europäer in den vergangenen sieben Jahrzehnten ein Gebiet der Achtung von Menschenwürde und Freiheitsrechten, von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geschaffen. Ein System der Toleranz und des Respekts vor dem anderen; ein System, dessen entscheidender Referenzpunkt die Menschenrechte sind.
Welche Grenzen sprengende Kraft der Wunsch nach dem Ende von Unterdrückung und nach der Achtung der Menschenrechte besitzt, haben wir in der Geschichte der europäischen Einigung bereits vielfach erlebt. Und es ist keineswegs Zufall, dass Griechenland den Europäischen Gemeinschaften nach der Überwindung der Militärdiktatur, Spanien nach dem Franquismus und Portugal nach der „Nelkenrevolution“ beitraten, dass die Staaten Mittelosteuropas ihre Zukunft nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und seiner totalitären Regimes von Beginn an unter dem Dach der Europäischen Union gesehen haben. Denn sie strebten nicht zuvörderst in ein Europa der wirtschaftlichen Prosperität, sondern vielmehr in ein Europa gemeinsamer Werte.
Indes ist unübersehbar, dass die Europäische Union in den zurückliegenden sieben Jahren Schwächen, Krisen und Rückschläge erlebt hat, die heute viele Errungenschaften des Integrationsprozesses in den Hintergrund drängen und die vor allem eines zur Folge haben: einen dramatischen Vertrauensverlust. In dieser Zeit, in der viele Bürgerinnen und Bürger in Europa Orientierung suchen, sendet Seine Heiligkeit Papst Franziskus eine Botschaft der Hoffnung und der Ermutigung aus, eine Botschaft der „Hoffnung, die auf der Zuversicht beruht, dass die Schwierigkeiten zu machtvollen Förderern der Einheit werden können, um alle Ängste zu überwinden, die Europa – gemeinsam mit der ganzen Welt – durchlebt“ und eine „Ermutigung, zur festen Überzeugung der Gründungsväter der Europäischen Union zurückzukehren, die sich eine Zukunft wünschten, die auf der Fähigkeit basiert, gemeinsam zu arbeiten, um die Teilungen zu überwinden und den Frieden und die Gemeinschaft unter allen Völkern des Kontinentes zu fördern. Im Mittelpunkt dieses ehrgeizigen politischen Planes stand das Vertrauen auf den Menschen, und zwar weniger als Bürger und auch nicht als wirtschaftliches Subjekt, sondern auf den Menschen als eine mit transzendenter Würde begabte Person.“
Das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen fühlt sich beehrt, im Jahre 2016 Seine Heiligkeit Papst Franziskus in Würdigung der herausragenden Botschaften und Zeichen, die sein Pontifikat für Frieden und Verständigung, für Barmherzigkeit, Toleranz, Solidarität und die Bewahrung der Schöpfung setzt, mit dem Internationalen Karlspreis zu Aachen auszeichnen zu dürfen.
„Die Stunde ist gekommen, gemeinsam das Europa aufzubauen, das sich nicht um die Wirtschaft dreht, sondern um die Heiligkeit der menschlichen Person, der unveräußerlichen Werte; das Europa, das mutig seine Vergangenheit umfasst und vertrauensvoll in die Zukunft blickt, um in Fülle und voll Hoffnung seine Gegenwart zu leben. Es ist der Moment gekommen, den Gedanken eines verängstigten und in sich selbst verkrümmten Europas fallen zu lassen, um ein Europa zu erwecken und zu fördern, das ein Protagonist ist und Träger von Wissenschaft, Kunst, Musik, menschlichen Werten und auch Träger des Glaubens ist. Das Europa […], das auf den Menschen schaut, ihn verteidigt und schützt; das Europa, das auf sicherem, festem Boden voranschreitet, ein kostbarer Bezugspunkt für die gesamte Menschheit!“
Als Papst Franziskus im November 2014 mit diesen Worten seine historische Rede vor dem Europäischen Parlament schloss, hatte er zuvor sehr eindringlich an die Abgeordneten appelliert, die Würde des Menschen und die Ideale der Gründerväter Europas in den Mittelpunkt ihres Handelns zu rücken und als Gesetzgeber ihren Beitrag zu leisten, dass das große Potenzial der europäischen Idee, um das weite Teile der Welt die EU beneiden, nicht verspielt wird.
II.
Seine Heiligkeit Franziskus PP. wurde unter seinem bürgerlichen Namen Jorge Mario Bergoglio am 17. Dezember 1936 als Sohn italienischer Einwanderer in Buenos Aires geboren; neben der argentinischen Staatsangehörigkeit behielt er auch die italienische. Zunächst als Chemietechniker ausgebildet, entschied er sich für die Priesterlaufbahn und trat 1958 in den Jesuitenorden ein.
Er studierte Geisteswissenschaften in Chile und Philosophie am Colegio de San José in San Miguel nahe Buenos Aires; 1964-1966 lehrte er Literatur und Psychologie in Santa Fé und Buenos Aires. Am 13. Dezember 1969 wurde er – kurz vor Abschluss seines 1967 aufgenommenen Theologiestudiums – zum Priester geweiht. Nach dem Tertiat, einer im Orden üblichen Prüfungszeit, die er größtenteils in Spanien verbrachte, und der Ablegung der feierlichen ewigen Gelübde wurde er 1973 Leiter („Provinzial“) des Jesuitenordens in Argentinien (bis 1979).
Von 1980 bis 1986 Rektor des Colegio de San José, folgte ein mehrmonatiger Auslandsaufenthalt an der Jesuiten-Hochschule St. Georgen in Frankfurt/Main, bevor er Spiritual (geistlicher Begleiter, Beichtvater) des Kollegs El Salvador in Buenos Aires und später in Córdoba wurde. Am 20. Mai 1992 wurde er durch Papst Johannes Paul II. zum Weihbischof in Buenos Aires und zum Titularbischof von Auca ernannt. Ab 1993 Generalvikar des Erzbistums, wurde er im Juni 1997 zunächst Erzbischof-Koadjutor, im Februar 1998 Erzbischof von Buenos Aires. 2001 folgte die Ernennung zum Kardinal. Von 2005 bis 2011 stand er der argentinischen Bischofskonferenz vor.
Nach dem Amtsverzicht von Papst Benedikt XVI. wurde Jorge Mario Bergoglio schließlich am 13. März 2013 als erster gebürtiger Lateinamerikaner und als erster Angehöriger des Jesuitenordens zum 266. Bischof von Rom und neuen Papst gewählt.
III.
Bereits seine Namenswahl und der erste öffentliche Auftritt wenige Minuten nach dem Konklave ließen sein Amtsverständnis erkennen: Bescheidenheit im Auftreten und eine ganz außergewöhnliche Nähe zu den Menschen – vor allem denen, die der Hilfe bedürfen.
Seine erste offizielle Reise als Kirchenoberhaupt führte ihn Anfang Juli 2013 im Gedenken an die ums Leben gekommenen Bootsflüchtlinge nach Lampedusa, „um eine Geste der Nähe zu setzen, aber auch um unsere Gewissen wachzurütteln, damit sich das Vorgefallene nicht wiederhole“. Und er fragte: „Wer hat geweint um diese Menschen, die im Boot waren? Um die jungen Mütter, die ihre Kinder mit sich trugen? Um diese Männer, die sich nach etwas sehnten, um ihre Familien unterhalten zu können? Wir sind eine Gesellschaft, die die Erfahrung des Weinens, des ‚Mit-Leidens’ vergessen hat: Die Globalisierung der Gleichgültigkeit hat uns die Fähigkeit zu weinen genommen.“
Auch in der Folge rief er immer wieder dazu auf, die Gleichgültigkeit zu überwinden, ihr eine „Kultur der Solidarität“ entgegenzusetzen und die Einwanderungsgesetze daraufhin zu prüfen, „ob sie von Aufnahmebereitschaft geprägt sind und die Integration der Migranten erleichtern können“. Europa, so seine Überzeugung, „wird imstande sein, die mit der Einwanderung verbundenen Problemkreise zu bewältigen, wenn es versteht, in aller Klarheit die eigene kulturelle Identität vorzulegen und geeignete Gesetze in die Tat umzusetzen, die fähig sind, die Rechte der europäischen Bürger zu schützen und zugleich die Aufnahme der Migranten zu garantieren“.
IV.
Indes ist es nicht nur die Flüchtlingskrise, die Europa, wie Papst Franziskus kritisch konstatiert, einen Eindruck der Müdigkeit, der Alterung und der mangelnden Fruchtbarkeit vermitteln lässt. Auch die Auswirkungen der Wirtschaftskrise, die in Teilen der Union unverändert hohe Arbeitslosigkeit und die zunehmende Entfremdung zwischen den Bürgerinnen und Bürgern einerseits und den europäischen Institutionen auf der anderen Seite, lassen den Papst Europa fragen: „Wo ist deine Kraft? Wo ist jenes geistige Streben, das deine Geschichte belebt hat und durch das sie Bedeutung erlangte? Wo ist dein Geist wissbegieriger Unternehmungslust? Wo ist dein Durst nach Wahrheit, den du der Welt bisher mit Leidenschaft vermittelt hast? Von der Antwort auf diese Fragen wird die Zukunft des Kontinents abhängen.“
Und der Heilige Vater gibt selbst Antworten, beschwört die Prinzipien der Solidarität und der Subsidiarität, die Einheit in der Verschiedenheit statt gedanklicher und kultureller Uniformität, bekräftigt den humanistischen Geist und die Zentralität des Menschen und ruft Europa auch dazu auf, sich die eigenen religiösen Wurzeln zunutze zu machen.
V.
„Europa hat in einem lobenswerten Einsatz zugunsten der Ökologie immer in der vordersten Reihe gestanden. Diese unsere Erde braucht tatsächlich eine ständige Pflege und Aufmerksamkeit, und jeder trägt eine persönliche Verantwortung in der Bewahrung der Schöpfung“, mahnte der Heilige Vater und widmete sich in seiner großen Enzyklika „Laudato si“ keinem anderen Thema.
Der Name der Enzyklika ist eine Referenz an seinen Namenspatron Franz von Assisi, „der der heilige Patron all derer [ist], die im Bereich der Ökologie forschen und arbeiten“ und dessen „Sonnengesang“ die Worte entnommen sind. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung von „Laudato si“ im Juni 2015 – rund fünf Monate vor der im Dezember so erfolgreichen UNO-Klimakonferenz in Paris – war ganz bewusst gewählt; schließlich war es Franziskus wichtig, „dass zwischen ihrer Veröffentlichung und dem Treffen in Paris ein gewisser zeitlicher Abstand liegt, damit sie einen Beitrag leistet“. In dem Lehrschreiben, an dessen Entwurf der Papst zahlreiche Fachleute aus aller Welt beteiligt hat, gibt das Oberhaupt der Katholischen Kirche denn auch sehr detailliert vielfältige und weitreichende Anregungen für eine nachhaltige und den Menschen ins Zentrum rückende Klimapolitik.
Zu den zentralen Themen, die die gesamte Enzyklika durchziehen, zählen die enge Beziehung zwischen Armut und der Anfälligkeit des Planeten, der Eigenwert eines jeden Geschöpfes, die Wegwerfkultur und der Vorschlag eines neuen Lebensstils sowie die Einladung, nach einem anderen Verständnis von Wirtschaft und Fortschritt zu suchen. Denn: „Die jungen Menschen verlangen von uns eine Veränderung. Sie fragen sich, wie es möglich ist, den Aufbau einer besseren Zukunft anzustreben, ohne an die Umweltkrise und an die Leiden der Ausgeschlossenen zu denken.“
VI.
Die Einladung zum interreligiösen und -kulturellen Dialog zieht sich gleichsam wie ein roter Faden durch das Pontifikat von Franziskus – ob in der Türkei oder in Israel, wo er gemeinsam mit dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios I. alle Christen einlud, „einen echten Dialog mit dem Judentum, dem Islam und anderen religiösen Traditionen zu fördern“, oder sei es jüngst in Kenia, Uganda und der Zentralafrikanischen Republik. Er sucht in erster Linie das Gemeinsame, nicht das Trennende. Und als ein wesentliches Element, das das Christentum mit den beiden anderen abrahamitischen Religionen, dem Judentum und dem Islam, eng verbindet, sieht er die Barmherzigkeit.
Barmherzigkeit: Sie steht im Mittelpunkt der Botschaft von Papst Franziskus. Viele der herausragenden Akzente seines Pontifikats stehen hiermit in engem Zusammenhang: der bescheidene Auftritt; die Nähe, die er zu den Menschen sucht, zu Gläubigen und Nicht-Gläubigen, vor allem zu Menschen, die benachteiligt sind und am Rande der Gesellschaft stehen; die Achtung gegenüber der Natur, die auch daran erinnert, dass der Mensch selbst ein grundlegender Teil von ihr ist. „Die Kirche empfindet einen unerschöpflichen Wunsch, Barmherzigkeit anzubieten. Vielleicht haben wir es für lange Zeit vergessen, auf den Weg der Barmherzigkeit hinzuweisen und ihn zu gehen“, unterstreicht er und rief jüngst ein Heiliges Jahr der Barmherzigkeit aus, in dem alle Gläubigen aufgerufen sind, selbst Instrument dieser Barmherzigkeit zu sein – in dem Wissen, dass sie daran gemessen werden.
VII.
In einer Zeit, in der die Europäische Union vor der bislang größten Herausforderung des 21. Jahrhunderts steht, ist es der Papst „vom anderen Ende der Welt“, der Millionen Europäern Orientierung dafür gibt, was die Europäische Union im Innersten zusammenhält: das für uns gültige Wertesystem, die Achtung vor Menschenwürde und Freiheitsrechten, vor der Einzigartigkeit des Menschen, ganz gleich welcher ethnischen, religiösen oder kulturellen Herkunft er ist, und die Achtung vor unseren natürlichen Lebensgrundlagen.
Das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen fühlt sich beehrt, im Jahre 2016 Seine Heiligkeit Papst Franziskus mit dem Internationalen Karlspreis zu Aachen auszeichnen zu dürfen, eine Stimme des Gewissens, die uns mahnt, bei all unserem Tun den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, und eine herausragende moralische Autorität, die uns als Mahner und Mittler zugleich daran erinnert, dass Europa den Auftrag und die Verpflichtung hat, aufbauend auf den Idealen seiner Gründerväter Frieden und Freiheit, Recht und Demokratie, Solidarität und die Bewahrung der Schöpfung zu verwirklichen.