Was für ein wunderschöner Tag, was für ein wunderschönes Ambiente. Was für ein großartiger Preisträger, was für erlauchte Gäste. Trotzdem muss ich mit einem dunklen Akkord meine Rede beginnen.
„Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte ist das Scheitern der Europäischen Union ein realistisches Szenario.“ Ein Satz wie ein Paukenschlag. Er stammt von dem Mann, den wir heute ehren, dem Karlspreisträger dieses Jahres. Martin Schulz hat diesen Satz ganz an den Anfang seines Buches über Europa gestellt.
Es spricht für das Direktorium, das den Träger des Karlspreises auswählt, gerade jetzt, in einer Phase der Zweifel an der Europäischen Union und der Selbstzweifel vieler Europäer, gerade jetzt Martin Schulz zu ehren, den Präsidenten des Europäischen Parlaments: einen Kämpfer für die Idee der europäischen Demokratie, einen Mann, der sagt, was ist, einen, der Probleme nicht weg-beschwichtigt.
Als die Idee des Karlspreises 1949 Gestalt annahm und Aachen noch in Trümmern lag, genauso wie das ganze Land, da gehörte visionäre Kraft dazu, einen Preis zu stiften, um – wie es damals hieß – „Europa als Friedenswerk“ zu fördern. Denn Krieg war ja in Europa seit Jahrhunderten traurige Normalität. Es gab den siebenjährigen, den dreißigjährigen und den hundertjährigen Krieg. Die Feindseligkeiten mochten eine Erbfolgeregelung, eine Revolution oder eine Befreiung zum Ziel haben, im Namen einer Ideologie oder eines Herrschers, einer Religion oder eines Vaterlandes geführt werden – immer fand sich in Europa ein Grund für einen Waffengang.
Zugleich wuchs die Sehnsucht nach Frieden, Frieden durch Recht. Immanuel Kant verdanken wir die bleibende Einsicht, dass es nicht irgendwelche Staaten sein können, die sich zu einer permanenten Allianz gegen den Krieg zusammenschließen. Es müssen demokratisch verfasste Staaten sein, damit innere Freiheit und Dauerhaftigkeit des Friedenswillens gewährleistet bleiben. Es ging also schon früh, es ging schon damals um die Idee einer Wertegemeinschaft, in der Staaten ihre Souveränität teilen, um den Frieden zu erhalten. Bis dieser Gedanke 150 Jahre später zum Kern des Europäischen Einigungswerkes wurde, sollte der Kontinent noch eine Serie blutiger Exzesse erleben, befeuert vor allem vom politischen Nationalismus.
Wir erleben zurzeit, dass diese bedeutsame Erkenntnis in einer neuen Konkurrenz steht zu einem Rückzug auf nationale Antworten, die mancherorts gesucht und präferiert werden. Aber eine Geschichte von der Rückkehr eines Europa der konkurrierenden Nationalismen, die möchte ich nicht erleben und nicht erzählen müssen. Seien wir also behutsam, behalten wir den Weg unseres geschlagenen und geschundenen Kontinents in Erinnerung, wenn wir über die Zukunft Europas sprechen.
Seit zehn Jahren, vor allem seit dem Scheitern des europäischen Verfassungsvertrages in Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden, klagen wir in der Europäischen Union über eine Krise der Demokratie und der Institutionen. Schuldenprobleme und Wettbewerbsschwäche sind seither hinzugekommen. Der zentrale Punkt scheint mir aber zu sein: Wir erleben eine Krise des Vertrauens, des Vertrauens in das politische Projekt Europa, so wie es bisher existiert.
In einigen Mitgliedstaaten sinkt die Bereitschaft, sich weiterhin einzulassen auf eine gemeinsame Zukunft. Allein zu stehen und einzig auf den Nationalstaat zurückgeworfen zu sein, verliert irgendwie für manche den Schrecken. Wir sollten zwar nicht jede Kritik an der komplexen Kompromissfindung in Brüssel gleich als grundsätzliche Europaskepsis missverstehen. Aber das Wachstum von Kritik in vielen europäischen Staaten ist denn doch alarmierend. Die Populisten reüssieren zumeist, gerade weil sie die europäische Integration und die gemeinsamen Institutionen, besonders die gemeinsame Währung, aber auch Offenheit und Freizügigkeit zum Feindbild erkoren haben. Aber auch – wir wollen uns da nichts vormachen – im traditionellen Parteienspektrum und einigen Regierungen in der Europäischen Union verzeichnen wir den Wunsch nach stärker nationalen Wegen und eigenen außenpolitischen Optionen.
Hüten wir uns aber vor Fehlschlüssen: Der integrationskritische Populismus von rechts wie von links ist nicht bloß eine Folge der jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrise – er ist eigentlich älter und wurzelt wohl auch tiefer. Auch wenn Wachstum ein wichtiges Gegenmittel ist, genügt es nicht zu hoffen, dass allein der Wind des nächsten Aufschwungs den Populismus verjagen wird wie der Morgen ein Gespenst. Der Kern des Unbehagens war und bleibt die Frage, wie weit die Bevölkerungen der einzelnen Staaten sich auch zu einer europäischen Identität bekennen wollen und können.
Aus der Geschichte wissen wir, wie schwer es ist, wenn sich Bewohner von kleineren Staaten daran gewöhnen müssen, sich fortan als Bürger eines größeren, eines gemeinsamen Ganzen zu verstehen. So ähnlich ist es wohl heute auch in Europa. Es stellen sich eben bisweilen Fremdheitsgefühle ein. Hinzu tritt bei manchen das Gefühl der Entgrenzung durch die Globalisierung. So wird die Rückwendung zum nationalen Denken erklärlich, auch wenn wir glaubten, längst gelernt zu haben, dass wir als Europäer im Weltmaßstab nur als größere Gemeinschaft handlungsfähig bleiben und wettbewerbsfähig werden.
Sie werden sich fragen: Was ist jetzt zu tun? Lassen Sie mich zunächst noch einen Moment dabei verweilen, was schon getan wurde. Und das ist ja nun wahrlich nicht wenig. Denn Reformen – weitreichende Reformen! – sind längst eingeleitet. Die Union wird demokratischer, weil die Rechte des Europäischen Parlaments ebenso gestärkt sind wie das Initiativrecht der Bürger. Diverse Mitgliedstaaten ordnen ihre Haushalte neu, sie modernisieren Wirtschaft und die Verwaltung. Die Eurozone wappnet sich durch neue Regeln gegen künftige Finanz- und Schuldenkrisen. Europaweit erholt sich die Wirtschaft. Im Angesicht der russischen Landnahme in der Ukraine haben wir gemerkt: wenn unsere Union herausgefordert wird, agiert sie geschlossen und entschlossen. Der außenpolitische Abstimmungsprozess ist mühsam, aber das Ergebnis zählt. Alle diese Dinge aufzuzählen heißt nicht, ein Nullsummenspiel zu veranstalten, sondern sich bewusst zu werden, dass auch in schwierigen Zeiten Stabilisierung und Erfolge möglich sind.
Vergessen wir auch nicht: Wir Deutsche in der Mitte Europas werden weiter das sein, was wir von Anfang an sein wollten: ein verlässlicher Anwalt des europäischen Einigungsprozesses. Wenn wir zurückschauen, dann mag es einst Gründe gegeben haben, die junge Bundesrepublik einzuhegen, zu kontrollieren, indem man sie in die europäische Gemeinsamkeit einlud und so auch verpflichtete. Aber 25 Jahre nach der Wiedervereinigung ist doch sonnenklar: Nie war Deutschland europäischer als heute, es ist ein zuverlässiger Stabilitätsanker geworden.
Und Europa ist Teil von uns, und wir sind Teil von Europa. Ohne die Union wären wir heute nicht so stabil, nicht so sicher und nicht so frei. So kann ich nur bekräftigen, Deutschland wird weiter unbeirrt und intensiv an der Union mit bauen – in enger Abstimmung mit seinen Nachbarn, als gleichberechtigter und gleichverpflichteter Mitgliedstaat.
Trotz solider Fundamente und trotz beachtlichen Reformwillens ist aber das notwendige Vertrauen, von dem ich vorhin sprach, noch nicht wiederhergestellt. Europa hat neu zu beweisen, dass es alte Schwächen ausgleicht und neue Herausforderungen meistert – und sich dabei nach seinen Grundorientierungen richtet.
Zum ersten Mal wird eine Krise im europäischen Einigungsprozess nicht allein durch die Entschlossenheit politischer Eliten zu überwinden sein. Zum ersten Mal sind alle Bürger der Union gefordert, für das gemeinsame Europa zu streiten und zu kämpfen. Denn auf den Wahlzetteln finden sich doch auch grelle Gegenentwürfe. Die europäische Einigung ist kein ewiges Projekt, weil eben nichts, was von Menschenhand geschaffen wurde, unumkehrbar ist – es sei denn, wir Europäer, Jung und Alt, Generation um Generation, erneuern und bekräftigen die Union in ihrem Wesenskern. Und diese Chance bietet sich nun angesichts der Krise.
Ungelöst blieb bis heute das strukturelle Problem, dass wir zwar eine gemeinsame Währung haben, die Finanzpolitik aber vorwiegend auf nationaler Ebene entschieden ist.
Unsicher ist, gerade nach den jüngsten Wahlen in Großbritannien, ob und wie der Zusammenhalt der Mitgliedsländer der Union künftig gesichert wird.
Und nicht gänzlich geklärt ist, wie Europa gegenüber neuen Bedrohungen und neuen Verletzungen des Völkerrechts reagieren soll.
Die Europäische Union umgab bis vor kurzem ein Gürtel des Friedens. Jetzt erleben wir im Süden und im Osten die Sprache der Macht, nicht die Macht der Sprache. Vor den Toren unserer Union sprechen die Waffen – ob in Libyen oder im Irak, in Syrien oder in der Ukraine. Es sind oftmals Ideologen, Nationalisten, Fanatiker und Terroristen, die Frieden und Freiheit der Völker bedrohen.
Es geht um nichts weniger als die Grundlagen unserer Friedensordnung, um die Bedrohung unserer grundlegenden Werte und Haltungen und um unsere Sicherheit. Und immer wenn es um Fundamentales geht, ist es unerlässlich, dass wir Europäer eng zusammenrücken. Die europäische Gemeinsamkeit muss sich in der Gefahr als handlungs- und verteidigungsfähig erweisen, zumal die Gefahr wie im Falle des Terrorismus oftmals von innen und außen gleichzeitig kommt.
Trotzdem bleibt da noch die Frage nach der Rolle der Nation und ihres Verhältnisses zur Union. Wir wissen: Die Sorge, der Nationalstaat werde sich in einem künftigen Europa von selbst auflösen, sie entbehrt der Grundlage. Der Nationalstaat wird wichtiger Bezugspunkt für Identität und Identifikation bleiben. Und solange die Bürger Europas sich scheuen, mehr nationale Souveränität abzugeben, werden nun die Nationalstaaten umso mehr verpflichtet sein, gemeinsam mit Brüssel den Europagedanken zu verteidigen und angesichts neuer Herausforderungen mit Leben zu erfüllen.
Und solange Europa keine einvernehmliche Lösung beim Umgang mit den Zuflucht suchenden Flüchtlingen vorlegen kann, müssen eben nationale Regierungen umso stärker aktiv werden. Es geht darum, Menschenleben zu retten und es geht darum, für Europa und Afrika eine lebenswerte Perspektive zu gestalten.
Lassen Sie mich noch ein Mal auf das Problem Nation und europäischer Einigungsprozess zurückkommen. Ich habe da neulich ein wunderbares Wort gefunden, mit dem ich es persönlich halte. Gesprochen hat es der rumänische Schriftsteller Mircea Cărtărescu, der in diesem Jahr den Leipziger Buchpreis erhielt und mit Blick auf die Nationen in seiner Dankesrede sagte: „Immer schon habe ich die nationalen Identitäten auf dem Kontinent für lokale Varianten eines grundlegenden Europäertums gehalten.“ Ich wünschte, in diesem Sinne könnte sich jeder Patriot heute als Europäer fühlen.
Kürzlich berichtete ein Bekannter, wie er mit seiner Familie durch Luxemburg und in die benachbarten Regionen Deutschlands und Frankreichs fuhr. Plötzlich hörte er eine Stimme und es war sein kleiner Sohn. Der hatte eine Frage: „Papi, was ist eine Grenze?“ Der dies erzählt, kommt aus dem Nordosten Deutschlands. Aus dem lange unfreiem Teil. Er kann es nicht verstehen, dass eine solche Frage überhaupt existiert.
Ja, wie viele Kriege haben wir gefochten, wie viele Verträge haben wir ausgehandelt, bis schließlich irgendwann ein junger Mensch eine so große Frage so voller Unschuld stellen kann? Wer diesen Jungen hört, der kann ermessen, was jenes Scheitern der europäischen Einigung bedeuten würde, das der Karlspreisträger Martin Schulz fürchtet und unbedingt abwenden will und wird.
Martin Schulz ist in Würselen geboren, keine zehn Kilometer von hier, im Dreiländereck. Er kennt noch Grenzen. Ja, die Generation von Martin Schulz und auch mir, der ich aus dem Nordosten Deutschlands komme, wir kennen durchaus noch Grenzen, denn in Martin Schulz‘ Jugend wie auch in meiner waren sie allgegenwärtig. Deshalb weiß Martin Schulz aus eigener Erfahrung, welch ein Gewinn die europäische Einigung ist, und zwar für uns alle. Martin Schulz nennt die Europäische Union ein „Positiv-Summen-Spiel“.
Franzosen, Griechen, Spanier, Deutsche – wir alle sind doch in Wahrheit längst beides: Bürger unserer Staaten und Bürger Europas. Wir fühlen uns wohl in unserer doppelten Haut. Aber politisch identifizieren wir uns noch stärker mit dem Nationalstaat. Die Gefahr der Renationalisierung und damit des Scheiterns von Europa als politischer Idee wird gebannt sein, wenn wir – in den Worten von Martin Schulz – Vertrauen in die Europäische Union als politischen Akteur und als politisches „Addendum“ fassen. Dieses Vertrauen durch konstruktive neue Antworten zu gewinnen, ist Aufgabe unserer Tage und unserer Generation.