Ich möchte mich zunächst herzlich bei Herrn Vorsitzenden Linden, Oberbürgermeister Philipp und den Bürgern Aachens bedanken. Es ist mir eine Ehre, heute Abend hier zu sein. Aachen ist natürlich ein Symbol der europäischen Einheit. Aber es ist auch die Heimat der Person, in deren Namen wir uns am heutigen Abend versammelt haben: Martin Schulz.
Lieber Martin, ich freue mich für dich. Morgen wirst du ein Karlspreisträger sein. Zu den Preisträgern zählen Könige und Königinnen, Präsidenten und Premierminister, Päpste... und Polen. Genau wie du haben sie alle ihr Leben der Einheit Europas gewidmet. Du bist zwar nicht der erste Präsident des Europäischen Parlaments, der den Karlspreis erhält. Aber mit deinem persönlichen Beitrag zur parlamentarischen Demokratie in Europa sorgst du dafür, dass du nicht der letzte sein wirst. Nach den Europawahlen im letzten Jahr ist das Organ, für das du dich über 20 Jahre lang eingesetzt hast, in eine bedeutende neue Phase seiner Geschichte eingetreten.
Martin, ich habe deine enorme Arbeitsleistung, dein bedingungsloses Engagement und deinen unermüdlichen Einsatz als vehementester Wortführer der Demokratie im heutigen Europa aus nächster Nähe miterlebt. Jedes Mal, wenn ich nach einer Tagung des Europäischen Rates dem Parlament Bericht erstatte, beobachte ich mit Bewunderung, wie du mit eindrucksvoller Autorität die großen europäischen Debatten lenkst, an denen hunderte von Parlamentariern aus 28 Ländern beteiligt sind. Vielleicht stehe ich noch zu stark unter dem Eindruck der Sonate, die wir gerade gehört haben. Aber es scheint mir, als wärst du der gefürchtete Dirigent eines großen demokratischen Orchesters. Jeder, der dich kennt, weiß, dass immer mit dir gerechnet werden muss. Du gibst niemals auf und gibst niemals nach im Kampf für die Dinge, an die du glaubst, und dafür möchte ich dir meine Hochachtung aussprechen.
In diesem Jahr gehen wir von Schuman über zu Karl dem Großen, denn erst am 9. Mai noch haben wir die Anfänge der europäischen Integration gefeiert, und nun, ein paar Tage später, an Christi Himmelfahrt, verleihen wir diese renommierte Auszeichnung. Die Schuman-Erklärung und die Gründung der Gemeinschaft für Kohle und Stahl bedeuteten den Ausbruch aus dem verhängnisvollen Kreislauf von Gewalt und Vergeltung, der die Geschichte Europas prägt. Daran wurde ich eindringlich erinnert, als ich am vergangenen Wochenende in meiner Heimatstadt Danzig auf der Westerplatte an einer Gedenkfeier anlässlich der Beendigung des Zweiten Weltkriegs teilnahm – genau an dem Ort, an dem der Krieg begonnen hatte.
Heute sitzen wir hier – in der ersten größeren Stadt, die durch die westlichen Streitkräfte von der nationalsozialistischen Herrschaft befreit wurde – Seite an Seite, als engste Partner, Verbündete und Freunde. Doch vor 70 Jahren standen sich unsere Völker auf den Schlachtfeldern gegenüber, und noch vor 25 Jahren verlief zwischen ihnen ein Eiserner Vorhang. Unsere Aufgabe bleibt, niemals die Katastrophe, die sich in Europa zugetragen hat und die uns noch in lebendiger Erinnerung ist, in Vergessenheit geraten zu lassen: die bitteren Folgen der wirtschaftlichen Depression, militanter Nationalismus, Rassenhass und Totalitarismus. Sie wirkt noch immer nach.
Martin, ich weiß, dass du diese Verantwortung besonders stark empfindest. Sie ist einer der Gründe für deinen kompromisslosen Glauben an den Vorrang der Demokratie und die Rechte des Einzelnen. Das Schöne an der europäischen Integration ist auch, dass du nun der neunte Deutsche bist, der diesen Preis verliehen bekommt. Ein Preis, der – um es in den Worten seines Initiators, Dr. Kurt Pfeiffer, auszudrücken – „auf freiwilligen Zusammenschluss der europäischen Völker“ zielt, „um in neu gewonnener Stärke die höchsten irdischen Güter – Freiheit, Menschlichkeit und Frieden – zu verteidigen“.
Neben meinem Kollegen Herman (der ebenfalls heute hier anwesend ist) und dem Präsidenten der Europäischen Kommission, warst auch du dabei, als die Union im Jahr 2012 den Friedensnobelpreis erhielt. Dies war die endgültige Anerkennung für den einzigartigen Beitrag der europäischen Integration als Friedensprojekt und ein Meilenstein auf einer Reise, die noch nicht abgeschlossen ist.
Unsere Pflicht, die Vergangenheit in Erinnerung zu behalten, rückt die Herausforderungen der Gegenwart in die richtige Perspektive. Lasst uns nicht die Lehren der 1930er-Jahre vergessen, die W. H. Auden als „ein erbärmliches, verlogenes Jahrzehnt“ bezeichnet hat. Damals hat die politische Führung den wirtschaftlichen Missstand zu lange hingenommen. Sie tolerierte die Verletzung von Staatsgrenzen im Namen des Friedens. Sie tat den Aufstieg der rechten und der linken Extremisten als ein vorübergehendes Phänomen ab.
Jede Generation muss für Europa kämpfen. Die erste Nachkriegsgeneration musste die westliche Hälfte des Kontinents wiederaufbauen und aussöhnen. Die zweite Generation musste den Westen mit seinem weiten östlichen Hinterland wiedervereinen, das ein halbes Jahrhundert lang unter dem Totalitarismus leiden musste. Was ist dann die Herausforderung für die dritte Generation der europäischen Einheit? Nichts Geringeres, als mit fester Entschlossenheit die Versprechen Europas einzulösen. Die europäischen Werte zu leben und sie vor Feinden sowohl innerhalb als auch außerhalb Europas zu verteidigen. Nicht auf politische Scheinheiligkeit hereinzufallen. Ein Dach zu bauen, um das Haus des europäischen Projekts zu schützen.
In der Praxis bedeutet dies Handeln in verschiedenen Bereichen, von denen keiner eine Überraschung sein wird. Erstens bedeutet es, alles Notwendige zu tun, um nun eine dynamische europäische Wirtschaft zu schaffen, die den Bürgern dauerhaft zu Wohlstand verhilft. Dies kann nicht ohne eine zufriedenstellende Lösung der Griechenlandfrage, investitionsfreundliche Politik sowie weitreichende Steuer- und Arbeitsmarktreformen geschehen. Und schließlich müssen wir eine echte Wirtschafts- und Währungsunion schaffen, die auf demokratischer Zustimmung beruht, damit Europa sowohl wettbewerbsfähig als auch sozial sein kann.
Zweitens bedeutet dies, sich bewusst zu sein, dass unsere Glaubwürdigkeit als globaler Akteur nie mehr auf dem Spiel stand als in der heutigen Zeit. Im Osten herrscht Zweifel darüber, ob die Europäer den Mut haben, Einschüchterungen entgegenzutreten. Wir sollten die Menschen nicht im Zweifel lassen. Allgemeiner ausgedrückt, fragt man sich in der Welt, ob die Europäische Union – ein wirtschaftlicher Riese – sich wirklich bewusst ist, dass sie die Weltordnung nur dann gestalten kann, wenn sie sicheren Zugang zu Energie und auch zu den freien Märkten ihrer Verbündeten hat. Angesichts des Potenzials eines neuen transatlantischen Handelsabkommens zur Sicherung unseres Wohlstands und der Lebensweise einer ganzen Generation bin ich erstaunt, dass niemand auf die Straße geht und für dieses Abkommen demonstriert. Ein Scheitern von TTIP wäre ein Schlag für Europas Stellung in der Welt. Wir können entweder den weltweiten Wohlstand im atlantischen Raum mit gestalten oder ihn für uns im pazifischen Raum entscheiden lassen.
Martin, ich weiß, dass dein Lieblingsroman der Gattopardo von Giuseppe di Lampedusa ist, dessen berühmtestes Zitat lautet: „Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern.“ Dem kann ich nur zustimmen. In all den Fragen, die ich angesprochen habe, brauchen wir einen kontinuierlichen Wandel, nur um den Status quo beizubehalten. Dieser Zeitpunkt in der Entwicklung der Europäischen Union ist keine Generalprobe. Die Bürger werden nicht ewig zusehen, wie es der etablierten Politik misslingt, für Wohlstand und Sicherheit zu sorgen. Wir müssen tun, was getan werden muss, jetzt, mit einer starken Zielbewusstheit, oder Europa wird Rückschritte machen – so einfach ist das.
Leider lässt der Name Lampedusa nicht nur an einen schönen Roman einer vergangenen Zeit denken, sondern auch an die menschliche Tragödie, die sich tagtäglich auf dem Mittelmeer abspielt. Es ist die dritte große Herausforderung, der sich Europa stellen muss, und unglücklicherweise auch diejenige, die uns am längsten begleiten dürfte. Uns steht ein schwieriger Sommer bevor. In den kommenden Monaten müssen wir auf die Krise so menschlich und verantwortungsvoll wie möglich reagieren. Es handelt sich dabei nicht nur um eine ungemein schwierige Aufgabe, sondern auch um eine Aufgabe, die wir nicht gänzlich ohne die Unterstützung auf der anderen Seite des Meeres bewältigen können. Kein Land kann sich seiner Verantwortung entziehen, wenn es gilt, weitere Tote zu verhindern.
Lassen Sie mich kurz ausholen zu einem ähnlichen Thema, das ganz ohne Frage von Bedeutung für die Zukunft Europas ist. Großbritanniens Debatte über Europa ist ein wesentlicher Aspekt beinahe aller Themen, die wir heute Abend und morgen erörtern werden – sei es in Bezug auf die Wirtschaft oder in Bezug auf die Geopolitik. Die Geschichte zeigt, dass, wann immer Großbritannien und der Kontinent zerstritten sind, das Ergebnis für beide sehr schlecht ist. Kein vernünftiger Mensch wünscht sich ein Europa oder eine Europäische Union ohne britischen Einfluss. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, eine Union zu errichten, die ihren 500 Millionen Bürgern angemessen dient.
Es ist meine größte Hoffnung, dass noch viele weitere britische Namen sich zu Winston Churchill, Roy Jenkins, Edward Heath und Tony Blair gesellen werden – Empfänger jenes Preises, den Martin morgen verliehen bekommt. König Alfred der Große war ein einigender europäischer Monarch ganz so wie Karl der Große, seine Inspirationsquelle und sein Vorbild.
In seiner Schrift „Vom Geist der Gesetze“ führt Montesquieu aus, dass jedes demokratische System, wenn es denn gut funktionieren soll, eine klare Gewaltenteilung in Exekutive, Legislative und Judikative benötigt. Die Europäische Union bildet hier keine Ausnahme. Das Europäische Parlament jedoch ist ein Ausnahmefall: Es ist in Verbindung mit dem Rat der weltweit einzige übernationale, mehrsprachige Gesetzgeber. Jeder, der ein Mitentscheidungsverfahren miterlebt hat, kann bezeugen, dass das Europäische Parlament seit dem Vertrag von Lissabon zur wohl bemerkenswertesten Form parlamentarischer Macht in der Welt gereift ist. Sollte – wie Spinoza sagte – das Gesetz die Mathematik der Freiheit sein, so hat das Europäische Parlament die Freiheiten der einfachen Bürger Europas erweitert, indem es seine ganz eigene Rechnung angestellt hat.
Wie du weißt, Martin, ist im letzten Monat Günter Grass verstorben – nach einem bemerkenswerten, manchmal auch kontroversen Leben. Er war dein Landsmann und ebenso ein Sozialist wie du – und er war ein Kaschube aus Danzig, genau wie ich. Ich durfte ihm einige Male in unserer gemeinsamen Heimat begegnen. Von Grass ist der Ausspruch bekannt, dass es Bürgerpflicht ist, den Mund aufzumachen, nicht ihn zu halten. Was das betrifft, muss Günter Grass sicherlich sehr stolz auf dich gewesen sein! Ich denke, wir können getrost sagen, dass das Europäische Parlament ein großartiger Weltbürger ist, der oftmals als das Gewissen der Union auftritt und es sich nicht nehmen lässt, den höchsten Idealen Gehör zu verschaffen. Als sein eloquentester und furchtlosester Sprecher kannst du stolz darauf sein, Martin – so wie ich mir sicher bin, dass deine Parlamentskollegen am heutigen Abend ebenso stolz auf ihren Vorkämpfer sind.
Doch möchte ich an dieser Stelle ein Wort der Warnung aussprechen. Trotz all deiner Bemühungen müssen wir akzeptieren, dass der Aufstieg des direkt gewählten Parlaments nicht mit einem vergleichbaren Anstieg der Unterstützung für Europa auf dem gesamten Kontinent einhergeht. Populismus ist keineswegs ein europäisches Phänomen oder eines des Euro-Raums; es ist eine politische Realität in der ganzen Welt. Vor unserer eigenen Haustüre aber genügt es allein noch nicht, Institutionen aufzubauen und zu Eigenverantwortlichkeit zu befähigen. Für dauerhafte Akzeptanz müssen die Institutionen Ergebnisse liefern. Diejenigen, von denen nur leere Worte kommen, werden zur Fußnote der Geschichte.
Lieber Martin, ich kann kaum glauben, dass es schon fünf Jahre her ist, seit ich dort saß, wo du nun sitzt, und dass ich heute Abend als Präsident des Europäischen Rates wiedergekommen bin. Ich kann dir und Frau Schulz nur dieselbe Freude wünschen, die meine Frau und ich damals empfunden haben. Beide habt ihr es wahrlich verdient.
Lieber Martin, wir stehen für zwei unterschiedliche politische Lager. Du für die demokratische Linke, ich für die gemäßigte Rechte. Aber wir haben uns in den langen Jahren unserer Freundschaft verstanden – vielleicht sogar besser als Anhänger derselben Ideen –, weil das Leben wichtiger als die Ideologie ist, und tatsächlich haben unsere Lebensgeschichten so viel gemeinsam. Du bist politisch als Sozialist herangereift; ich wurde von den polnischen Kommunisten ins Gefängnis geworfen. Aber mein Gespür sagt mir, dass du, wärst du ein Pole, mit mir dieselbe Gefängniszelle geteilt hättest.
Wir beide wissen, was harte Alltagsarbeit bedeutet; als du Bücher verkauft hast, habe ich über viele Jahre als Bauarbeiter gearbeitet. Ja, wir sind beide durch die Schule des Lebens gegangen.
Deine Frau stammt aus dem heutigen polnischen Szprotawa (Sprottau), während meine Eltern in der Freistadt Danzig aufwuchsen, und so wissen wir beide, dass die Freundschaft zwischen Polen und Deutschen einer der Schlüssel für ein freies und sicheres Europa ist. Und nicht zuletzt haben wir beide von derselben, völlig unpolitischen Karriere geträumt, der Karriere eines Profi-Fußballers: Du spieltest für deinen geliebten Verein Rhenania 05 Würselen, ich spielte für Lechia Gdańsk. Wären da nicht unsere Verletzungen und einige fußballtechnische Schwächen gewesen – wir hätten 1982 bei der Weltmeisterschaft in Spanien gegeneinander antreten können. Ohne dich in der Mannschaft wurden die Deutschen nur Zweite, während es für Polen ohne mich auf dem Platz nur die Bronzemedaille gab. Nun spielen wir faktisch im selben Verein, und morgen wirst du mit zu den Trägern der Goldmedaille gehören.
Martin, herzlich willkommen in unserer goldenen Mannschaft.