Begründung des Direktoriums der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen an den Präsidenten des Europäischen Parlaments
Die im Jahr 2014 getroffene Entscheidung über die neue Kommission und die Rolle des Europäischen Parlamentes waren für die Demokratisierung der EU ein historischer Meilenstein. Denn weit mehr als nur die Person des Kommissionspräsidenten oder anderer Mitglieder stand die Frage im Vordergrund, ob und in welchem Maße das Votum der Wähler Einfluss auf die personalpolitische Entscheidungsfindung der EU haben würde – und damit um die grundsätzliche Frage, welche Form der Demokratie wir in der und für die Europäische Union wollen. Und während Juristen und Kommentatoren bis heute diskutieren, wie der Lissabonner Vertrag auszulegen sei, nach der der Rat bei seinem Vorschlag für die Wahl des Kommissionspräsidenten das Ergebnis der Europawahlen „berücksichtigt“, hat das Europäische Parlament unter maßgeblichem und auch lautem Engagement seines Präsidenten diese Frage längst entschieden. Es hat allein einen Kandidaten akzeptiert, dessen Mandat auch durch die Bevölkerung legitimiert ist.
In Würdigung seiner bedeutenden Verdienste um eine Stärkung der Parlamentarisierung und der demokratischen Legitimation in der Europäischen Union und in Anerkennung seiner Rolle als wichtiger Vordenker der EU ehrt das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahr 2015 den Präsidenten des Europäischen Parlaments, Dr. h.c. Martin Schulz.
„Demokratie braucht Streit. Sichtbarkeit braucht Streit. Nicht um seiner selbst willen, sondern um zum bestmöglichen Ergebnis zu kommen. Denn Streit zeigt Alternativen. […] Ja, ich versuche, in meiner Amtszeit das Europäische Parlament stärker zu einem Ort des Streits zu machen – ich tue dies bewusst, damit die Institution als Ganzes und die europäische Demokratie dadurch gewinnen.“ – Wenn Martin Schulz über sein Amtsverständnis spricht, dann wird sehr schnell deutlich, dass er von Beginn an ein Präsident sein wollte, „der den Respekt der Exekutiven vor dem Parlament, wenn nötig, erstreitet, der sich anlegt, wenn die Interessen der Bürger gefährdet werden“, und der jedem den Kampf ansagt, der „glaubt, man könne ein Mehr an Europa mit einem Weniger an Parlamentarismus schaffen“. Martin Schulz stärkt die repräsentative Demokratie, nimmt die Anliegen der europäischen Bürger ernst und stärkt so die Identifikation der Bevölkerung mit Europa.
Martin Schulz wurde am 20. Dezember 1955 in Hehlrath (heute Stadt Eschweiler) nahe der deutsch-niederländisch-belgischen Grenze geboren. Nachdem er das Gymnasium in Würselen mit der Mittleren Reife verlassen hatte, absolvierte er von 1975 bis 1977 eine Lehre als Buchhändler und arbeitete in verschiedenen Buchhandlungen und Verlagen. 1982 machte er sich in Würselen als Buchhändler selbständig (bis 1994).
Bereits 1974 in die SPD eingetreten, zog er 1984 für die Sozialdemokraten erstmals in den Rat der Stadt Würselen ein, der den damals 31-Jährigen 1987 zum jüngsten Bürgermeister in Nordrhein-Westfalen wählte (bis 1998). „Diese Zeit“, so Schulz rückblickend, „hat meine Begeisterung für Europa geprägt und mich in meiner Überzeugung bestärkt, das ‚Projekt Europa’ mit zu gestalten und weiterzubringen.“ Konsequent baute das junge Stadtoberhaupt damals die Städtepartnerschaft mit dem französischen Morlaix aus. – Dass der polyglotte heutige Parlamentspräsident neben Englisch und Niederländisch auch fließend Französisch spricht, dürfte ihm dabei zugute gekommen sein.
1994 errang er erstmals ein Mandat im Europäischen Parlament, wo er zunächst Koordinator der Sozialistischen Fraktion im Unterausschuss Menschenrechte (1994-1996), später Koordinator im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (1996-2000) war.
Inzwischen aus dem Bürgermeisteramt ausgeschieden, verantwortete er 1999 als Wahlkampfleiter den SPD-Europawahlkampf. Im selben Jahr wurde er in den Bundesvorstand und das Präsidium der Sozialdemokraten gewählt. 2000 übernahm er den Vorsitz der 35-köpfigen Gruppe der SPD-Abgeordneten im Europäischen Parlament, 2002 zudem den stellvertretenden Vorsitz der Sozialistischen Fraktion.
Im November 2003 wurde er mit über 98% der Stimmen zum Spitzenkandidaten der SPD für die Europawahlen im darauffolgenden Jahr nominiert. Zwar erlitten die deutschen Sozialdemokraten im Juni 2004 eine Niederlage, jedoch wurde Schulz mit überwältigender Mehrheit zum Vorsitzenden der auf 200 Mitglieder angewachsenen Sozialistischen Fraktion gewählt und avancierte damit endgültig zu einer der Schlüsselfiguren im Europäischen Parlament.
Das Selbstverständnis – und Selbstbewusstsein –, das Schulz mit seinem neuen Amt verband, wurde bereits wenige Monate darauf bei der Berufung der Kommission Barroso deutlich. Nachdem der konservative Italiener Rocco Buttiglione bei seiner Anhörung als Kandidat für das Innen- und Justizressort der Kommission im zuständigen Parlamentsausschuss keine Mehrheit gefunden und auch weitere Kandidaten nicht überzeugt hatten, hielt Barroso zunächst an seiner Wunsch-Besetzung fest und riskierte den Machtkampf mit dem Parlament. Gemeinsam mit seinen Kollegen von den Fraktionen der Grünen und Liberalen organisierte Schulz daraufhin den Widerstand und drohte, der gesamten Kommission die Zustimmung zu verweigern. Erst wenige Stunden vor der geplanten Wahl lenkte Barroso schließlich ein und bat um Aufschub für einen neuen Vorschlag. – In einem bis dahin einmaligen Vorgang in der EU-Geschichte hatte das Parlament einer designierten Kommission den Amtsantritt verweigert und deren Umbildung erzwungen. Während die Medien urteilten, dass sich „Europas Machtbalance verschiebt“, sprach Schulz schlicht von einem „Sieg für die Demokratie“ und auch Barroso musste schließlich anerkennen, „dass dieses Parlament […] eine vitale Rolle in der Regierung Europas spielt“.
Nach der Europawahl 2009, bei der der Würselener erneut als Spitzenkandidat der SPD angetreten war, wurde er als Fraktionsvorsitzender der (inzwischen umbenannten) Progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten im Europäischen Parlament (S&D) bestätigt. Auf nationaler Ebene erhielt er zusätzliches Gewicht durch die Berufung zum Beauftragten des SPD-Vorstands für die Europäische Union. Den bisherigen Höhepunkt seiner politischen Laufbahn erreichte er am 17. Januar 2012, als ihn das Europäische Parlament in der Nachfolge von Jerzy Buzek bereits im ersten Wahlgang zu seinem Präsidenten wählte. Schon in seiner Antrittsrede machte der „wortmächtige Europäer“ (Jürgen Habermas über Schulz) deutlich, dass er sich „dem anhaltenden Trend der Gipfelfixierung und der Renationalisierung“ entgegenstellen und dazu beitragen wolle, „auf Augenhöhe mit dem Rat zu verhandeln“ und „das Parlament als Ort der Demokratie und der kontroversen Debatte über die Richtung der Politik in der EU sichtbarer und hörbarer zu machen“.
Er forderte in seiner Antrittsrede vor dem Europäischen Rat, dass „das Parlament an allen Eurogipfeln und Europäischen Gipfeln teilnehmen“ müsse und brachte gleichzeitig seine Vorstellungen zur Einführung einer Transaktionssteuer, einer Europäischen Rating-Agentur und einer Europäischen Wachstumsinitiative ein.
Die wachsende Bedeutung des Europäischen Parlaments zeigte sich in der Folge unter anderem in den Beratungen und Beschlussfassungen über den mehrjährigen Finanzrahmen 2014-2020, die Bankenaufsicht und den einheitlichen Abwicklungsmechanismus, die Finanztransaktionssteuer und – als vielleicht prominentestes Beispiel – im Juli 2012 in der von einer breiten Mehrheit getragenen Ablehnung des Anti-Piraterie-Abkommens (ACTA), dessen Formulierung nach Meinung vieler dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet hätten.
Schulz selbst profilierte sich derweil als eine der bekanntesten Führungspersönlichkeiten der EU – sei es bei der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union, die er zu einem symbolträchtigen Besuch auf der Insel Utoya nutzte, um der ein Jahr zuvor einem rechtsextremen Massenmörder zum Opfer gefallenen Jugendlichen zu gedenken; sei es im griechischen Parlament, das er nur wenige Wochen nach seiner Wahl besuchte, um den Vertretern des griechischen Volkes seinen Respekt zu zollen; sei es in der Knesset, wo er ein klares Bekenntnis ablegte, dass die EU immer an der Seite Israels stehen werde, in seiner Rede aber auch schwierige Themen keineswegs aussparte; sei es – immer wieder – bei den Tagungen des Europäischen Rates, bei denen er die Interessen des einzigen direkt gewählten EU-Organs vertrat. Immer wieder band er die europäischen Volksvertreter in die wichtigen Entscheidungen der EU ein: die Krisen um die Euro-Stabilität, die Konflikte um die osteuropäischen Brückenstaaten, die Kriegskonflikte im Nahen Osten, die Flüchtlingsproblematik – aber auch die Friedensinitiativen des Papstes, der OSZE u.a. und die Bemühungen um bessere Beziehungen der EU zu anderen Kontinenten.
Dabei geht es Schulz keineswegs darum, ein Gegeneinander der drei maßgeblichen Brüsseler Institutionen zu organisieren: „Mit den fortgesetzten Institutionendebatten liefern wir uns nur denjenigen aus, deren erklärtes Ziel die Zerstörung der EU in ihrer heutigen Form ist. […] Deshalb sage ich: Auch ohne einen neuen europäischen Vertrag oder einen Verfassungskonvent und ohne dass wir ein langjähriges Ratifizierungsverfahren durchlaufen, können wir im Rahmen des Bestehenden einen Neustart der europäischen Demokratie beginnen.“
In einer Rede an der Berliner Humboldt-Universität im Mai 2012 – und noch ausführlicher in seinem ein Jahr später erschienenen Buch „Der gefesselte Riese“ – beschrieb Schulz einen wichtigen Baustein für einen solchen Neustart: „Entscheidend ist, dass die europäischen Parteien für die Europawahl 2014 jeweils ihren europaweiten Spitzenkandidaten aufstellen, der für den Posten des Kommissionspräsidenten kandidiert. Kommissionspräsident wird nach der Wahl der- oder diejenige mit einer Mehrheit im Parlament.“
Schulz ist heute ein herausragender Repräsentant für die Belebung der europäischen Demokratie.
Während frühere Europawahlen, wie Jürgen Habermas einmal polemisierte, „aus Feigheit vor den ungeliebten Themen zu Schaukämpfen über nationale Themen und über Personen, die gar nicht zur Wahl standen, verfälscht [wurden]“, wollte Schulz durch die europaweiten Spitzenkandidaten die europäische Debatte über europäische Inhalte befördern, in der sich den Wählern gegenüber klare Alternativen für die EU-Politik herauskristallisieren. „Anstatt das vermeintlich ‚alternativlose Europa’ zu beschwören und in überholten Pro- und Kontra-Ritualen zu erstarren, sollten wir eine Debatte beginnen, deren Überschrift lautet: ‚Welches Europa wollen wir?’ Eine solche Debatte hat eine Zukunftsdimension und verharrt nicht in stiller Ehrfurcht vor der schicksalhaften europäischen Vergangenheit.“
Als die sozialdemokratischen Parteien Europas Schulz am 1. März 2014 offiziell zu ihrem ersten gemeinsamen Spitzenkandidaten in der Geschichte der EU nominierten, hatte dieser die anderen Parteienfamilien längst unter Zugzwang gesetzt, sich für die Europawahlen ebenfalls auf einen Anwärter für das Amt des Kommissionspräsidenten zu verständigen.
In der Folge fand das Wort ‚Spitzenkandidat’ Eingang in viele europäische Sprachen, und während Europawahlkämpfe zuvor fast ausschließlich auf nationaler Ebene geführt worden waren, rangen 2014 erstmals gemeinsame Spitzenvertreter der europäischen Parteienfamilien in öffentlichen Debatten um die politische Richtung in Europa – und um eine Mehrheit zur Bildung einer Kommission.
Nach dem Wahlsieg der EVP wurde – folgerichtig – Jean-Claude Juncker zum neuen Kommissionspräsidenten gewählt. Und wenngleich Martin Schulz sein persönliches Wahlziel nicht erreicht hatte, er stattdessen aber als erster Parlamentspräsident in der Geschichte der EU für eine zweite Amtszeit wiedergewählt wurde, konnte er für sich reklamieren, dass „damit zu einem guten Ende gebracht [wurde], was wir mit dem Prozess der Spitzenkandidaten begonnen hatten. […] Zusammen ist es dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament gelungen, in der Europäischen Union eine demokratische Zeitenwende einzuleiten. Indem wir eine neue Verfassungspraxis begründet haben und das, ohne dass wir dafür die europäischen Verträge ändern mussten.“ – Eine Verfassungspraxis, die die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Parlament zu einer wirklichen politischen Wahl macht und der europäischen Exekutive damit ein starkes Mandat nicht nur von den Staats- und Regierungschefs, sondern vor allem auch von der Bevölkerung und den von ihr direkt gewählten Abgeordneten verleiht – eine demokratische Errungenschaft, die sich das Parlament nicht mehr nehmen lassen wird.
Mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Dr. h.c. Martin Schulz, ehrt das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen im Jahr 2015 einen herausragenden Vordenker des Vereinten Europas, der sich um die Stärkung des Parlaments, des Parlamentarismus und der demokratischen Legitimation in der EU bedeutende und nachhaltige Verdienste erworben hat. Präsident Schulz hat der europäischen Idee einen wichtigen Impuls verliehen. Es gilt, diese Idee auch für die Zukunft zu stärken.