Die Verleihung des Karlspreises ist für mich eine große Ehre, die ich wohl zu würdigen weiß. Deshalb möchte ich zunächst dem Direktorium meinen ganz besonderen Dank für diese hohe Auszeichnung zum Ausdruck bringen. Danken möchte ich ferner Minister Roy Jenkins für die ehrenvollen Worte, die er bei diesem Festakt über mich gesagt hat. Der Tatsache, daß er dies als britischer Minister auf einer Festveranstaltung in Aachen tat und diese Worte an einen belgischen Politiker richtete, ist wohl mehr als nur symbolische Bedeutung beizumessen. Niemand wird, so denke ich, die tiefe Bedeutung dieses Aktes verkennen.
Gleichzeitig möchte ich daran erinnern, daß ich im Dezember 1974 von meinen Kollegen aus den anderen Gemeinschaftsländern damit beauftragt worden bin, einen Bericht über die Europäische Union auszuarbeiten. Ohne diesen Auftrag wäre mein Europa-Bericht nie zustande gekommen. Die verdienstvolle Anregung der damaligen Regierungschefs darf nicht übersehen werden.
Aber ich glaube, niemandem Abbruch zu tun, wenn ich sage, daß die Ehrung durch die Verleihung des Karlspreises eigentlich mit einer großen Schar bekannter und unbekannter Personen geteilt werden müßte, die allen Wechselfallen zum Trotz, an ihrer europäischen Berufung festhalten und, wo immer möglich, auch versuchen, die Europäische Idee in die Wirklichkeit umzusetzen.
Der Name Aachen ist für mich mit einer Jugenderinnerung verbunden. Der erste große Schulausflug, den ich als Junge mitmachen durfte, führte nach Aachen, zu Karl dem Großen, zur Wiege der Geschichte europäischer Einheit und Zwietracht.
Seitdem habe ich in eindringlicher Weise erfahren, wie entscheidend Zwietracht und Zerrissenheit das Los meiner und der folgenden Generationen prägen können. Die logische Folge war, daß ich mich mit vielen anderen bewogen fühlte, für die Europäische Einigung einzutreten. Dieser Einsatz führt mich heute wieder nach Aachen.
Es ist unmöglich, sich hier in Aachen nicht die Geschichte zu vergegenwärtigen. Hier greifen die Jahrhunderte der europäischen Geschichte ineinander, davon zeugt die Augustgemme im Lotharkreuz des Domschatzes, davon zeugt auch die eindrucksvolle Architektur des Domes, in der die Schönheit der byzantinischen Kunst Ravennas weiterlebt.
Aber heute geht es nicht darum, sich Geschichte zu vergegenwärtigen. Vielmehr besteht unsere Aufgabe darin, gleichsam Gegenwart zu vergeschichtlichen, das heißt, unsere Gegenwart in ihrer historischen Dimension zu sehen, Abstand zu nehmen vom Tagesgeschehen und unsere historische Aufgabe für Europa hier und jetzt, in diesem Jahre, in dieser äußerst schwierigen Phase der europäischen Geschichte, zu erkennen.
Denn wir stehen vor einer Reihe von Herausforderungen, auf die wir eine Antwort finden müssen. Und unsere Antwort wird den weiteren Gang der europäischen Geschichte bestimmen. Darin liegt keinerlei Anmaßung, sondern nur der nachdrückliche Appell, daß wir uns alle und heute unserer europäischen Verantwortung in ihrer wirklichen Dimension bewußt werden.
So kommen wir nun zu zwei folgenden Fragen:
Erstens: Welche Lehre können wir heute aus dieser historischen Dimension ziehen?
Zweitens: Welche Herausforderungen werden heute an uns herangetragen und welche Antwort geben wir darauf?
I.Worin liegt die Bedeutung dieser historischen Dimension?
Die Geschichte Europas ist die Geschichte seiner Zivilisation. Dieser kleine Ausläufer des asiatischen Kontinents erlebte die Entfaltung der griechischen Kultur, das Staatsbewußtsein Roms und die jüdisch-christliche Religion. Das sind drei Kulturerscheinungen, die sich weder durch die geographische Lage, noch durch die Wirtschaftsentwicklung erklären lassen. Sie können nicht durch eine materialistische Denkweise interpretiert und verstanden werden, die von der zwingenden Notwendigkeit natürlicher Existenzbedingungen ausgeht.
Die europäische Geschichte liefert den schlagenden Beweis dafür, was für eine entscheidende Rolle die Ideen im Schicksal der Menschen spielen. Wie kein anderer Erdteil war Europa der Schauplatz religiöser, philosophischer , sozialer und politischer Konflikte, wobei es nicht mehr um ein Ringen des Menschen mit seiner Umwelt ging, sondern um die Auseinandersetzung mit anderen Menschen. Im Laufe seiner Geschichte hat Europa seine Originalität gegen mächtige politische Gruppierungen verteidigen müssen, von denen es keine natürliche Grenze schied, die jedoch von ihrem Wesen her anders beschaffen waren. Von allen Seiten offen und allen zugänglich, verdankt Europa seien Existenz nur seinem Glauben an sich selbst.
Keine politische und keine militärische Macht, sondern die von der Kirche ausgehende geistige Kraft verlieh Europa die Stärke, zum Beispiel das Trauma der Barbareneinfälle zu überwinden.
Als im Zeitalter der Renaissance verschiedene europäische Völker zur Entdeckung der Welt aufbrachen, waren sie noch einmal von einem gemeinsamen Glauben beseelt. Die Erforschung des Planeten ist die Tat einer kleinen Minderheit, die sich aber kulturell dazu in höchstem Maße berufen fühlte. Das gilt auch für das abenteuerliche Vordringen des menschlichen Geistes auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik, Frucht des intellektuellen Wagnisses einer Handvoll Forscher.
Durch den Beitrag englischer Ökonomen, französischer Philosophen des 18. und deutscher Denker des 19. Jahrhunderts liegt Europa schließlich den zwei großen politischen und sozialen Systemen zugrunde, auf die sich die beiden Supermächte stützen. Sollte Europa infolge dieser gewaltigen Anstrengungen ausgepumpt sein? Sollte diese einstmals so kräftig sprudelnde Quelle kultureller Schaffenskraft versiegt sein? Der immense Schaden, den zwei Weltkriege unserem Kontinent zugefügt haben, scheint eine intellektuelle und politische Zurückhaltung bewirkt zu haben, als ob Europa jetzt an sich selbst zweifele.
Freilich, das Gespenst von Bruderkriegen, das vor noch gar nicht langer Zeit umging, ist gebannt. Wohlstand und Frieden sind wieder eingekehrt, doch sie haben nicht vermocht, Europa eine Seele und eine neue Schicksalsbestimmung zu geben. Europa fragt sich selbst über sein politisches und sozialwirtschaftliches System, dem es seinen Wohlstand zu verdanken hat, und über die Zivilisationskrise, an der es krankt.
Manchmal erweckt Europa den Eindruck, einer vollendeten, aber auch einer zu Ende gehenden Welt anzugehören. Da entdeckt unser Kontinent, daß es nicht angeht, seine Zukunft auf Träume von gestern aufzubauen. Zwar hat Europa die Armut weitgehend besiegt, doch leidet es jetzt an einer moralischen und geistigen Krise, die es an sich selber zweifeln läßt. Unruhe bemächtigt sich der Verantwortungsträger, die Jugend zeigt Ungeduld.
Nachdem Europa vier Jahrhunderte lang im Namen der ganzen Welt gesprochen hat, schweigt es jetzt. Die industrielle Zivilisation hat in Amerika und in Asien Raum und Rohstoffe gefunden, die ihr eine nahezu uneingeschränkte Entfaltung ermöglichten.
Doch die Antwort auf die Fragen, die sich heute stellen, muß in der Vergangenheit Europas gesucht werden. Seine Kultur ist der Schlüssel zur Beantwortung. Wir meinen, daß es der Auftrag Europas ist, dem heutigen Menschen wieder den Glauben an ein Schicksal zu geben, der die Vorkämpfer von Wissenschaft, Technik, Kunst, Politik und Gesellschaft seit dem 16. Jahrhundert beseelte.
Dieses Sehnen nach neuen Horizonten und dieses Verlangen, sich selber zu übertreffen, die Europa stets über seine Grenzen hinausgetrieben haben, kehren sich heute manchmal gegen Europa. Die Vergangenheit wird häufig unter negativen Aspekten betrachtet, und das geht so weit, daß man sie verleugnet. In diesem für die zurückliegenden Jahre so charakteristischen Wettlauf um den Wohlstand hat Europa keine Trümpfe wie unbegrenzten Raum oder Rohstoffe im Überfluß in der Hand. Dadurch läuft es Gefahr, auf diesem Gebiet von anderen überflügelt zu werden. Zugleich läuft es Gefahr, den Sinn für jene kulturelle Eigenständigkeit zu verlieren, die stets seine wahre Größe ausmachte. Denn Nachahmung auf kulturellem Gebiet würde für Europas mit Sicherheit den Untergang bedeuten.
Diese Eigenständigkeit fordert morgen, wie heute und gestern, den Abbau politischer Schranken und wirtschaftlicher Rivalitäten. Das Christentum des Mittelalters, der geistige Aufschwung der Renaissance und der Aufklärung, die Blüte der Romantik, das Aufkommen des Sozialdenkens - dies alles ist das Produkt einer glücklichen Kreuzung von Ideen der besten europäischen Denker. Sie kannten keine Grenzen, und deshalb ist Europa zunächst einmal eine kulturelle Gemeinschaft. Europa muß dies wieder werden.
Andere Supermächte haben aus ihrer Wirtschaftsmacht den höchsten Wert gemacht.
Für Europa stellt sich nun die grundsätzliche Frage, wie die Wirtschaft zum Wohle der Menschen eingesetzt werden kann.
Zusammenfassend kann ich sagen: vorrangig ist das Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten, wichtig ist die Bewußtseinsbildung, damit der Mensch in seinem Leben wieder einen Sinn erblickt, erforderlich ist die Überwindung politischer Schranken, notwendig ist die Wiederentdeckung der kulturellen Originalität. Dies ist die Botschaft, die Europa aus seiner jahrhundertelangen Geschichte schöpfen muß.
II.Die heutigen Herausforderungen
Der europäische Elan und die Weltoffenheit, die früher diesen Kontinent auszeichneten, wurden in großem Maße erschüttert und zerstört, so daß die jüngste Vergangenheit Europas die tragische Geschichte der Selbstzerstörung geworden ist.
Wer den Mut aufbringt, die historische Dimension Europas zu untersuchen und die sich hieraus ergebende Botschaft anzunehmen, der muß auch wagen, sich den heutigen Herausforderungen zu stellen. Das ist die Bedeutung dessen, was wir nannten "unsere Gegenwart vergeschichtlichen".
Eine erste große Herausforderung ist die unseres Menschenbildes und der gesamten Gesellschaftssituation.
Ein Merkmal der europäischen Kultur ist der Respekt vor der menschlichen Person.
Dieser Grundsatz ist in unseren Staatsverfassungen verankert und in unsere demokratischen Systeme, in unsere pluralistische Gesellschaft sowie in nationale und europäische Garantien zum Schutz der Menschenrechte eingebaut worden.
In zweifelsohne unvollkommener, aber dennoch einzigartiger Weise ist es Westeuropa gelungen, zu einer Synthese von Person und Gemeinschaft zu gelangen, die wesentlich die europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten beeinflußte. Dieser Eckstein unserer Zivilisation ist heute erneut in Gefahr geraten, die manchmal stärker von innen als von außen droht. Polarisierung und Gewalt untergraben die Struktur unseres Zusammenlebens, und kaum ist die Zeitspanne einer Generation nach dem zweiten Weltkrieg verstrichen, so wird der freie Europäer erneut zu totalitären Ideologien verleitet, die zwar ein ideales System, Fortschritt und Ordnung vorgaukeln, in Wahrheit aber Unterdrückung bringen, weil sie entweder die Freiheit oder die menschliche Solidarität zu wenig respektieren.
Weiß der Europäer eigentlich genau, was die Flucht aus der Freiheit bedeutet, aus derselben Freiheit, nach der sich die Unglücklichen des Archipels Gulag so brennend sehnen?
Verleugnet nicht der europäische Mensch seine historische Berufung, indem er sich der Vergötterung kollektiver menschlicher Macht hingibt, die einen Staat aufbaut, in dem der Mensch ein willenloses und ohnmächtiges Objekt dieser kollektiven, abstrakten und unpersönlichen Macht wird?
Auch Mutlosigkeit und Hoffnungslosigkeit bedrohen den europäischen Menschen. Jahrhundertelang war Europa, von dem Drang beseelt, seine Grenzen hinter sich zu lassen. Es war der Griff nach der Zukunft durch Entdeckungen, Erfindungen, Experimente und Entwürfe neuer technologische Modelle; es war auch der Griff nach anderen geographischen Räumen, nach anderen Weltteilen durch einen Dialog mit anderen Kulturen, obschon dies mit manchem menschlichen Leid verbunden war. Wo diese Zukunftsvorbereitung in der Vergangenheit den Respekt vor echten menschlichen Werten vernachlässigte, erscheint jetzt die eigentliche Berufung Europas, nämlich in voller Achtung vor dem Nächsten eine sinnvolle Zukunft vorzubereiten. Das heißt, sich für Frieden und Gerechtigkeit einzusetzen, die Technik zum Wohle der Menschen anzuwenden und die materielle Wohlfahrt zu sichern. Gleichzeitig muß Europa neue Wege beschreiten, die zu einer ständigen Bereicherung des Menschen führen. Europa hat unter schwierigen Umständen erfahren müssen, daß Machtkonzentration zu Machtmißbrauch führt und daß die Machtverteilung hingegen Freiheit und Verantwortung fördert.
Die Gegenkräfte religiöser, philosophischer und kultureller Art, die in der europäischen Geschichte den Menschen so oft aus den Fängen kollektiver und anonymer Macht befreit haben, werden auch heute ihrer unentbehrlichen Rolle gerecht, indem sie Personen und Gruppen dazu aufrufen, sich der Vergötterung der kollektiven, menschlichen Macht zu widersetzen und die wirkliche Befreiung der menschlichen Person anzustreben, das heißt, eine größere verantwortungsbewußte Menschlichkeit für alle Menschen.
Vergessen wir nicht, daß Europa seit jeher das größte Schlachtfeld der Welt war. Die Worte Antigones bleiben für Europa noch immer gültig: "Sie werden geboren, nicht um sich gegenseitig zu hassen, sondern um sich zu lieben."
Im Zusammenhang mit Macht und Freiheit hat Romano Guradini in glänzender Weise den Auftrag Europas zusammengefaßt, als er 1962 den Erasmuspreis erhielt und zum Thema "Europa, Wirklichkeit und Aufgabe" referierte. Der bekannte Philosoph beschrieb die Rolle Europas in folgenden Kernsätzen:
"Die ihm vorbehaltene Aufgabe scheint, so denke ich, nicht darin zu liegen, daß es die Macht, welche aus Wissenschaft und Technik kommt, steigere - obwohl es natürlich auch das tun wird - sondern diese Macht zu bändigen.
Europa hat die Idee der Freiheit - des Menschen wie seines Werkes - hervorgebracht; ihm wird es vor allem obliegen, in Sorge um die Menschlichkeit der Menschen zur Freiheit auch gegenüber seinem eigenen Werk durchzudringen."
Deshalb sollen die europäischen Strukturen, wenn möglich, mehr als in den einzelnen Mitgliedstaaten, den Menschen als Person berücksichtigen, eine pluralistische Gesellschaft ermöglichen und die Verteidigung der Menschenrechte verbürgen.
Die zweite große Herausforderung unserer Generation ist die politische Organisation unserer industrialisierten Gesellschaft. Die Behauptung, daß wir eine Autoritätskrise durchmachen, ist ein Gemeinplatz. Unsere parlamentarische Demokratie wird von äußeren und inneren Gefahren bedroht.
Doch hierüber wollte ich heute nicht sprechen, obwohl diese Entwicklung mir auch Sorgen bereitet. Die brennende Frage ist folgende: wie können wir für dieses institutionelle Problem auf europäischer Ebene eine Lösung finden?
Europa ist auch als historische Gemeinschaft eine Sammlung unersetzlicher Werte. Ich weiß, daß dies zu spöttischen Reaktionen bei denen Anlaß gibt, die in dem merkantilen Charakter mancher europäischer Beratungsrunden vergebens nach "höheren Werten" Ausschau halten.
Dies rührt unter anderem daher, daß Europa noch keinen echten Eigenwillen bekundet hat. Eine solche Willensäußerung kann nur in dem Maße greifbar werden, wie auf gemeinschaftlicher Ebene Taten folgen werden. Dies kann aber nur über den Weg von Institutionen verwirklicht werden. Der so bekundete politische Wille wird dann zum Ausdruck einer tieferen Motivation, das heißt, zum Ausdruck von Werten, die nicht verloren gehen dürfen.
Das Problem der europäischen Institutionen ist demnach der Ausdruck des politischen Willens in Europa, damit ein Europa mit einem eigenen Gesellschaftsbild geschaffen werde, das sich als Ergebnis eines breiten Konsensus ausweisen kann.
Die allererste Form einer solchen demokratischen Äußerung ist die Versammlung, die das Volk repräsentiert. Das ist auch die tiefere Bedeutung des Strebens nach einem direkt gewählten Europäischen Parlament, wenn wir es ernst mit Europa meinen.
Es verwundert mich nicht, daß die Aussicht auf ein direkt gewähltes Europäisches Parlament auch auf Widerstand stößt, denn dies ist die Stunde der Wahrheit. Nun muß sich zeigen, ob gewisse Erklärungen in dieser Richtung nur ein Alibi, eine Stilfigur und eine Maske waren oder aber ob die Bereitschaft da ist, die im Vertrag von Rom ins Auge gefaßte Möglichkeit der Direktwahl zu realisieren.
Eine direkt gewählte Versammlung wird zweifelsohne mit ihrer neuen Legitimität eine eigene Dynamik entwickeln und zum Motor der europäischen Entwicklung werden. Indessen genügt ein solches Parlament nicht. Auch die übrigen europäischen Institutionen müssen verbessert und verstärkt werden, wenn sie mit neuer Kraft der Aufgabe gerecht werden wollen, zu deren Erfüllung sie geschaffen worden sind, damit der Übergang von den augenblicklich bestehenden Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Union sich vollziehen kann. Dabei denke ich insbesondere an die Kommission, an den Ministerrat, an den Gerichtshof, aber auch an den Wirtschafts- und Sozialausschuß sowie an den Ausschuß für Beschäftigungsfragen.
Vor allem gilt dies für den Europäischen Rat, der mit so hohen, Erwartungen geschaffen worden ist, der aber - wenn man nicht schnellstens das Ruder herumwirft - nur zu einer weiteren Verschärfung des Ohnmachtgefühls in Europa beitragen wird.
Der Vertrag von Rom weist eine sehr originelle Formel auf, die Beratung, Annahme, Verteidigung und Verwirklichung von Entwürfen zu ermögliche ohne einen größeren Meinungsstreit über die Gestalt, die Europa annehmen soll, heraufzubeschwören. Sie fußt auf dem subtilen Mechanismus, wonach die Kommission Vorschläge formuliert, der Ministerrat aber Beschlüsse faßt.
Wer dem Römischen Vertrag treu bleiben will, muß auch diese Formel akzeptieren, die, laut Professor Hallstein, die "einzige Möglichkeit ist, indirekt den Entscheidungsvorgang im Rat parlamentarisch zu kontrollieren. Denn nur die Kommission bedarf des Vertrauens des europäischen Parlaments, nicht der Rat, der aus weisungsgebundenen nationalen Ministern besteht. Für den Gebrauch", so fährt Professor Hallstein fort, "den die Kommission von ihrem Vorschlagsrecht macht, ist sie dem Parlament verantwortlich. Sie stürzt, wenn sie dessen Vertrauen verliert."
Leider funktioniert dieses System schon lange nicht mehr so, wie es die Verfasser der Verträge gewünscht hatten, so daß - mit der augenblicklichen Stagnation - das Gefühl der Führungs- und Autoritätskrise nur noch stärker wird. In meinem Europa-Bericht habe ich Vorschläge formuliert, um die jetzigen Schwierigkeiten zu überwinden und gewisse Fehler zu verbessern, ohne dabei die Grundidee des römischen Vertragswerks zu verändern. Meines Erachtens sind die vorgeschlagenen Reformen unbedingt notwendig, wenn man Europa aus der Sackgasse führen will, in der es sich im Augenblick befindet. Des öfteren habe ich betont, mein Europa-Bericht sei keine Blaupause des idealen Europas. Übrigens sind in den Mitgliedstaaten die Ansichten in der Frage unterschiedlich, welche ideale Form Europa annehmen solle. Die Darstellung meiner eigenen Auffassungen war für mich besonders reizvoll, aber diese Neigung habe ich überwunden, weil ich mich davon überzeugt habe, daß die Bedingungen nicht erfüllt sind, um über die endgültige Form Europas zu sprechen. Übrigens ist nicht die Verwirklichung der europäischen Idee ein fortlaufender Prozeß?
Dennoch, wenn kurzfristig kein Reformprozeß, nach meinen Vorschlägen, eingeleitet wird, ist zu befürchten, daß die europäischen Institutionen nach dem von den europäischen Gründungsvätern entworfenen Schema nicht mehr funktionsfähig sind. Wohl niemand, so darf ich doch annehmen, wünscht bewußt eine solche Krise.
Die dritte Herausforderung unserer Generation ist die Wirtschafts- und Sozialordnung. Tagtäglich werden wir in unseren Mitgliedstaaten mit dieser Frage konfrontiert. Wie sollte es auch keine Herausforderung sein, wo wir doch danach trachten, Europa Gestalt zu verleihen und uns dabei - angesichts der Hindernisse, dem Aufbauwerk auch eine rein politische Dimension zu geben - seit 1957 unablässig um die Errichtung einer Wirtschaftsgemeinschaft bemühen. Nochmals, aus dieser Wirtschaftsgemeinschaft soll jetzt die Europäische Union herauswachsen.
Der Gemeinsame Markt und die Zollunion haben zu bemerkenswerten Ergebnissen geführt, die nicht mehr aus dem Wohlstandsbild der Mitgliedsstaaten wegzudenken sind. Nun stellt sich die Frage, ob auch eine Wirtschafts- und Währungsunion geschaffen werden kann. Schon seit Jahren trägt man sich mit diesem Gedanken, doch die Wirtschaftsrezession und die währungspolitische Unordnung in der Welt sind die Gründe, daß nach den mutigen Vorsätzen des Jahres 1972 und nach einem hoffnungsvollen Start keine weiteren Fortschritte mehr erzielt wurden. Im Gegenteil, selbst die Währungsfragen stellen derart erhebliche Schwierigkeiten, daß die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft sich der Gefahr ausgesetzt sehen, weiter auseinanderzurücken, anstatt zu einer gemeinsamen Politik zu gelangen, zumindest zu einer Konvergenz in gewissen wirtschaftspolitischen Bereichen.
Trotz aller sachlichen Schwierigkeiten und trotz aller typisch nationalen Verwicklungen in dieser Angelegenheit stelle ich den Grundsatz auf, daß keine Europäische Union denkbar ist, solange es keine Wirtschafts- und Währungsunion gibt.
Es handelt sich hier natürlich um eine sehr technische, gewiß nicht einfache Frage. Ich habe in meinem Bericht eine neue Behandlung des Problems vorgeschlagen, die zwar auf Mißverstand gestoßen ist, dennoch meines Erachtens eine gültige Lösungsmöglichkeit bietet.
Auf dem jüngsten Treffen des Europäischen Rates in Luxemburg am 1. und 2. April wurde deutlich, welch weiter Weg noch zurückgelegt werden muß, um zu einer Konvergenz einiger Aspekte der Wirtschafts- und Währungspolitik zu gelangen. Selbst zur kleinsten Anstrengung konnte man sich nicht durchringen.
Deshalb kann ich nicht umhin, die bereits in meinem Europa-Bericht gemachte Anregung zu wiederholen: greifen wir alle ernsthaften Vorschläge auf und prüfen wir sie sorgfältig. Ich kann mir vorstellen, daß man meine oder andere Vorschläge ablehnt. Doch gibt es keine Rechtfertigung dafür, die Prüfung eines Vorschlags zu verweigern.
Regierungschefs, Finanz- und Wirtschaftsminister sollten nicht eher ruhen, bis sie den Ansatz für eine gemeinschaftliche Haltung in der Wirtschafts- und Währungspolitik gefunden haben.
Dies ist nämlich meine feste Überzeugung: die gemeinsame Agrarpolitik, ja selbst die Zollunion laufen die Gefahr des Zerfalls, wenn im monetären Bereich keine wirksamen gemeinschaftlichen Resultate erzielt werden.
Allerdings möchte ich hinzufügen, daß die heutige Krise zu einer Besinnung geführt hat, wodurch die wirtschaftspolitischen Richtlinien eine kritischen Überprüfung unterzogen werden.
Unsere Wohlstandsideologie wirft manche Probleme auf: Wir entdecken die Notwendigkeit des Umweltschutzes, wir stellen fest, daß die Rohstoffvorräte begrenzt sind, wir spüren den Groll in den Entwicklungsländern, wir wissen um unsere Verantwortung für die kommenden Generationen.
Die "goldenen 60er Jahre" gingen zu Ende, als sich am Himmel die drohenden Wolken einer schweren Wirtschaftsrezession zusammenzogen, allerdings als auch der Ruf nach einer besseren Lebensqualität immer dringender an unser Ohr klang. Viele aus diesem Sachverhalt resultierende Probleme können wirksam nur in einem europäischen Rahmen gelöst werden. Produktion und Konsum können sich ihrer besonderen Verantwortung nicht entziehen. Es muß in Europa unsere ständige Sorge bleiben - und darin wird sich unser künftiges Zusammenleben von der Lebensweise in anderen Teilen der Welt grundlegend unterscheiden -, daß sozialer Fortschritt und wirtschaftliche Entwicklung der gesamten Menschheit, und unter besonderer Berücksichtigung der sogenannten Randgruppen und der zurückgebliebenen Regionen der Welt, zugute kommen.
Wenn es uns gelingt, der europäischen Idee eine neue Vitalität zu verleihen, scheint auch der Augenblick für weitere Anstrengungen gekommen zu sein, die zur Ausarbeitung einer Reihe politischer Richtlinien führen, die der Kommission und dem Rat vorzutragen sind.
So kann eine stimulierende Wirkung für die Ausarbeitung europäischer Lösungsmodelle in dem Bereich erzielt werden.
Sind wir doch alle, in mehr oder weniger ausgeprägter Weise Kinder unserer Zeit, denn wir alle tragen im Unterbewußtsein oder durch unsere kultivierte Bildung das europäische Erbe in uns. In allen Abschnitten unserer europäischen Geschichte wurden große Taten vollbracht, weil eine kleine Gruppe von Europäern einen unerschütterlichen Glauben besaß, der mit Überzeugungskraft und Elan sich derart äußerte, daß er die Grenzen menschlichen Wissens und Könnens sprengen konnte.
Auch schwarze Seiten finden sich im Buch der europäischen Geschichte. Aus ihm können wir lernen, wie wir durch Neid, Überheblichkeit, Haß und Kriege unseren eigenen Niedergang bewirkt haben. In aller Deutlichkeit hat diese Generation nun eingesehen, daß das Heil nur in einer europäischen Zusammenarbeit liegt, in einer politischen Konstruktion, die uns ermöglicht, unserer Vergangenheit und unserer Berufung getreu, den auf Europa abgestimmten Auftrag zu erfüllen.
Deshalb will ich hier in Aachen an sie, meine Damen und Herren, appellieren, damit der Glaube an Europa nicht verloren gehe.
Allen Rückschlägen, allen Schwierigkeiten und allem Unverständnis zum Trotz, müssen wir den Glauben an die europäische Idee und das darin gesetzte Vertrauen bewahren. Wie in den großen Zeitabschnitten unserer Geschichte wird uns diese europäische Überzeugung auch heute wieder den nötigen Ansporn verleihen, der uns befähigt, alle Hindernisse zu überwinden. Wir müssen wieder Vertrauen zu uns selber fassen, um das zu vollbringen, was für die Verwirklichung Europas erforderlich ist.
Nach dem schrecklichsten aller Weltkriege, als wir feststellen mußten, daß unsere Stimme auf Weltebenen nicht mehr viel zählte, haben wir die zwingende Notwendigkeit entdeckt, wie Europa für uns alle eine Frage des Lebens oder des Todes geworden war.
Diese Generation hat in unsäglicher Qual und unbeschreiblichem Leid den Weg gefunden, der zum europäischen Ideal führen wird.
Europa muß Wirklichkeit werden - nicht für die kommende, sondern für die heutige Generation.