Sehr verehrter Ministerpräsident Tindemans, meine Damen und Herren,
es kann so schlecht um Europa nicht stehen, wie viele meinen, wenn es in diesem Jahr möglich ist, den Karlspreis der Stadt Aachen zu verleihen und damit einen bedeutenden Europäer auszuzeichnen.
Ich möchte zunächst dem Preisträger, Herrn Ministerpräsidenten Tindemans, im Namen der Bundesregierung zu dieser Ehrung sehr herzlich gratulieren.
Mit dem Glückwunsch verbinde ich den Dank der Bundesregierung für das, was Ministerpräsident Tindemans für Europa geleistet hat. Der Preisträger hat in einem Zeitpunkt, als es schwer war, zu sagen, wie und vor allem wann es mit Europa weitergehen wird, den Auftrag übernommen und ausgeführt, ein neues Konzept zu entwickeln. Nachdem Sie mit allen politisch relevanten Kräften in den neun Staaten der Gemeinschaft intensiv gesprochen hatten, haben Sie, sehr verehrter Herr Ministerpräsident, einen Bericht vorgelegt, dessen herausragendste Eigenschaft sein nüchterner Realismus ist.
Und in der Tat, das ist es, was wir brauchen: einen europäischen Realismus, der uns unsere Lage und unsere Möglichkeiten erkennen läßt.
Es ist sinnlos, eine europäische Untergangsstimmung heraufzubeschwören, und es ist ebenso sinnlos, sich in schöne Utopien zu flüchten. Wir müssen auch die europäische Politik als die Kunst des Möglichen begreifen und deshalb über dem Streben nach der europäischen Vollendung das heute objektiv Mögliche nicht außer acht lassen. Der Bericht von Ministerpräsident Tindemans enthält ein Programm, das diese Bedingung erfüllt.
Zugleich wird aber deutlich, daß hier nicht einem technokratischen Pragmatismus das Wort geredet wird, sondern daß die europäische Politik ihre historische Perspektive behalten muß, und das ist der Wille zur vollständigen Einigung Europas. Was wir in Europa bis heute erreicht haben, das ist möglich geworden, weil die Schöpfer der Römischen Verträge diese Perspektive hatten. Die großen Europäer der fünfziger Jahre, - de Gasperi, Adenauer, Schuman, Spaak, um nur einige zu nennen – wollten ja nicht eine Zollunion schaffen und es dabei bewenden lassen. Sie haben das damals Mögliche getan, um dem großen Ziel Europa näherzukommen. Dieses Ziel war allen klar, und sie haben es nie aus dem Auge verloren. Ich habe heute manchmal das Gefühl, daß wir in all unserer europäischen Geschäftigkeit und Emsigkeit doch in Gefahr sind, die Perspektive zu verlieren. Zu oft verhindert ein kurzfristiges vermeintliches nationales Interesse den langfristigen europäischen Fortschritt, zu oft wird nicht beachtet, daß die europäischen Nationen ihre Zukunft nur gemeinsam meistern können. Nationaler Egoismus ist in Wahrheit längst ein Luxus geworden, den sich in Europa niemand mehr leisten kann. Wer es dennoch tut, wird erkennen, daß sein Egoismus auf ihn selbst zurückfällt und seinen wirklichen nationalen Interessen Schaden zufügt. Derjenige dient in Europa auch seiner Nation am besten, der sich ganz in den Dienst an Europa stellt.
Und deshalb meine ich, daß es die vordringlichste Aufgabe der politisch Verantwortlichen in Europa ist, in ihren Ländern das Bewußtsein dafür zu schärfen, daß die Gemeinschaft in ihrer heutigen Gestalt nur eine Zwischenstation sein kann. Wir werden die Endstation nicht mit einem einzigen kühnen Schritt, einem entschlossenen Durchbruch erreichen. Wir müssen vielmehr, wie der Preisträger des heutigen Tages es in seinem Bericht dargelegt hat, von den bestehenden Vertragsgrundlagen ausgehend die europäische Union in einem kontinuierlichen Prozeß Schritt für Schritt zu verwirklichen suchen.
Wir müssen Europas Einigung vorantreiben durch eine Vielzahl klar umrissener, konkreter Maßnahmen in allen Bereichen. Aus der Addition dieser Maßnahmen wird sich schließlich ein qualitativ neuer Zustand im europäischen Einigungsprozeß ergeben. Der Tindemans-Bericht muß Grundlage und Ausgangspunkt für die neun Regierungen sein, sich in allen Bereichen auf konkrete Maßnahmen zur Fortentwicklung der Gemeinschaft zu einigen.
Ich hebe hier nur drei Ziele besonders heraus:
die Annäherung der Volkswirtschaften der Gemeinschaft,
die Direktwahl des Europäischen Parlaments,
die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik.
Meine Damen und Herren, diese Entscheidungen dürfen nicht aufgeschoben werden. Europa selbst darf nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Europa hat nicht nur Verpflichtungen sich selbst gegenüber, es hat auch eine weltpolitische Verantwortung, der es sich nicht entziehen darf. Das gilt für das Ost-West-Verhältnis, wo Europa seine Rolle im Entspannungsdialog und seien Beitrag zur Friedenssicherung erkennen muß, das gilt aber auch und im zunehmenden Maße für das Nord-Süd-Verhältnis. Wir befinden uns weltweit in einem Prozeß des ökonomischen Strukturwandels. Die notwendige und von uns geforderte Integration der Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft wird zu einer globalen Arbeitsteilung führen müssen. Und das wird gerade in den europäischen Volkswirtschaften nicht ohne Anpassungsschwierigkeiten geschehen können. Die Antwort der Europäer auf die heraufziehenden Probleme kann nur darin bestehen, daß sie sich eng zusammenschließen und das in Europa vorhandene geistige, technische und wirtschaftliche Potential gemeinsam nutzen.
So wichtig es für uns alle ist, daß Europa zustande kommt, so wichtig ist aber auch die Frage, wie dieses Europa dann aussehen wird. Wir wollen nicht irgendein Europa, sondern unser Streben richtet sich auf ein "Europa der Freiheit", auf eine Gemeinschaft also, die in ihrer Staatsordnung und in ihrer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ein Modell der Freiheit ist, in ganz Europa und in der Welt: Ein Europa der Freiheit – das heißt zunächst ein Europa, das in seiner politischen Ordnung eine demokratisch verfaßte Gemeinschaft ist, ein "Europa der Bürger". Nur ein solches Europa, nicht jedoch ein Europa, das die Menschen als Verhandlungsmaschinerie der Regierungen und als bürokratische Verwaltung fern in Brüssel erleben, kann und wird sich des politischen Engagements und der aktiven Mitarbeit seiner Bürger sicher sein.
Die Direktwahl des Europäischen Parlaments ist ein ganz entscheidender Schritt in Richtung auf dieses demokratische Europa. Dies ist der Grund, warum sich die Bundesregierung mit aller Energie dafür einsetzt, daß diese Wahl 1978 möglich wird. Unser Europa muß Würde und Selbstbestimmung des Menschen wie in seiner politischen, so auch in seiner wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung verwirklichen. Es muß eine Gemeinschaft sein, die dem einzelnen eine gerechte Teilhabe am materiellen Fortschritt gewährt und die ihm eine persönliche Mitwirkung und Mitverantwortung in allen seinen Lebensbereichen ermöglicht. Unser Europa muß im Verhältnis seiner Völker untereinander eine Gemeinschaft von Gleichberechtigten und Gleichrangigen, unabhängig von ihrer Größe, sein – ein Europa, das die Vielfalt und den Reichtum seiner Lebensformen voll bewahrt. Unser Europa muß eine Gemeinschaft sein, deren Bürger entschlossen sind, die Freiheit gegen Gefahren von innen und von außen zu verteidigen: Freiheit nach innen zu verteidigen, heißt, sie gegen ihre erklärten Feinde zu schützen, die eine andere Ordnung, die der Unfreiheit, wollen, seien sie nun Kommunisten oder Faschisten. Es heißt aber auch, in gemeinsamer europäischer Solidarität die wirtschaftliche und soziale Stabilität in unseren Ländern zu bewahren und mit ihr die Grundlage einer handlungsfähigen Demokratie. Aus diesem Grunde muß unser Europa auch offen sein können für andere Demokratien und muß es einen aktiven Beitrag zur Stärkung der Demokratie auch außerhalb der Gemeinschaft leisten. Freiheit gegen Gefahren nach außen verteidigen zu können, setzt voraus, daß das freie Europa im Bündnis mit den Demokratien Nordamerikas alle Anstrengungen unternimmt, um das militärische Gleichgewicht in der Welt zu erhalten. Nur, wenn wir dies Gleichgewicht sichern, können wir unsere realistische Entspannungspolitik unverändert fortsetzen.
Grundlage dieser Politik ist und bleibt die Sicherheit, die uns das atlantische Bündnis mit unseren amerikanischen Freunden garantiert. Wir Europäer müssen wissen, daß die Sicherheit nicht umsonst zu haben ist, sondern daß es auf unsere Verteidigungsbereitschaft und Verteidigungsfähigkeit, vor allem aber auf unseren Verteidigungswillen, entscheidend ankommt. Jetzt geht es darum, den Willen zu "Europa zu mobilisieren und europäischen Bürgersinn zu wecken. Und vor allen Dingen: Folgen wir dem Preisträger des heutigen Tages und verschieben wir in Europa nicht auf morgen oder übermorgen, was wir heute erledigen können.
Leo Tindemans ist ein europäischer Realist und Idealist zugleich. Er ist deshalb ein so würdiger Preisträger, weil es heute darauf ankommt, mit dem großen Ziel vor Augen entschlossen weiterzugehen. Den Weg aus einer europäischen Sackgasse gewiesen zu haben, ist das große Verdienst Leo Tindemans. Dafür haben wir ihm heute zu danken.