Vor vier Jahren – am Himmelfahrtstag 1972 – war ich schon einmal in dieser alten Kaiserstadt, wo sich Geschichte und Geographie vereinen, um Ihr herrliches Rathaus zum natürlichen Schauplatz für diesen großen europäischen Festakt zu machen. Die Geschichte Aachens symbolisiert sowohl den mehr als ein Jahrtausend alten, das Bewußtsein tief durchströmenden Drang, unsere engstirnigen Nationalismen zu überwinden, als auch die Zerstörung, das Leid und die Armut, die hereinbrachen, als dieser wohltätige Strom eingedämmt und durch Rivalität und Konflikte in seinem Lauf zurückgelenkt wurde. Ihre Geographie, aufgrund deren Sie sich fast am Schnittpunkt dreier Länder befinden, macht Sie zu einem Opfer, wenn Europa seine Sache schlecht bestellt, und zu einem Zentrum wechselseitiger Befruchtung, wenn es seine Sache gut bestellt.
An jenem Tag, vor vier Jahren, erwiesen Sie mir die größte Ehre, die mir je zuteil geworden ist. Der Name des Preises gemahnt an die lange Periode europäischen Bemühens und an die Traditionen unserer Kultur, die all unseren verschiedenen Ländern gemein und einzigartig in ihrem Einfluß auf die übrigen Kontinente der Welt sind. Das tatsächliche Lebensalter des Preises – 26 Jahre – ist natürlich um einiges kürzer als die zwölf Jahrhunderte, über die sich die ihm zugrunde liegende Idee zurück erstreckt. Doch diese kurze, nur eine Generation umfassende Zeit, in der er bisher verliehen wurde, besitzt ihre eigene Größe, teils wegen der Errungenschaften während dieser Periode, die sie in vieler Hinsicht zur konstruktivsten und fruchtbarsten, wenn auch nicht zur machtpolitisch bedeutendsten in der langen Geschichte Westeuropas gemacht haben. Und die Namen der Empfänger des Preises – Jean Monnet und Robert Schuman, Konrad Adenauer und Alcide de Gasperi, Paul Henri Spaak und Winston Churchill, George Marshall und Edward Heath, um nur einige zu nennen – sind die von Staatsmännern, deren Charakter und Leistung eine schlagende Widerlegung der in unserem gegenwärtigen Jahrzehnt der Prosperität ohne Sinn und des Zynismus ohne Vision nur allzu leicht akzeptierten Ansicht ist, daß nur kaltherzige und doppelzüngige Männer die Macht in der Politik erlangen könnten, die allein eine weitblickende Führung ermöglicht.
Doch die Gegenwart ist noch weniger als vor vier Jahren dazu angetan, sich in Europa gegenseitig zu beglückwünschen. Wir dürfen auf die späten vierziger, auf die fünfziger und die frühen sechziger Jahre mit Bewunderung, ja fast mit Ehrfurcht zurückblicken. Europa, wenn auch zugegebenermaßen hinter dem militärischen Schild Amerikas und zugleich durch die damals außerordentliche wirtschaftliche Stärke dieser großen Republik unterstützt, gelang es, sich aus dem Sumpf der Verzweiflung der Nachkriegszeit emporzuarbeiten. Wir begruben alte Streitigkeiten, mehrten unseren Wohlstand und verschafften uns neue Sicherheit gegen die Gefahr einer Aggression von außen. Seither wurde eine natürliche und, wie ich hoffe, allgemein begrüßte Erweiterung der Gemeinschaft nach Norden und Westen hin durchgeführt, doch davon abgesehen, haben wir in den letzten Jahren wenig genug zuwege gebracht. Wir haben natürlich überlebt. Und unter den wirtschaftlichen Belastungen der letzten Jahre ist das nicht gering zu bewerten. Aber es dürfte an der Zeit für uns sein, uns einige grundlegende Fragen zu stellen. Vielleicht kann ich sie darlegen, indem ich versuche, Lincoln?s Gettysburger Rede zu paraphrasieren:
?Vor zwei Jahrzehnten und einigen Jahren brachten unsere Väter auf diesem Kontinent eine neue Gemeinschaft hervor, in Hoffnung empfangen und dem Gedanken geweiht, daß alle europäischen Nationen in ihrer Stärke, Sicherheit und Prosperität voneinander abhängig sind. Jetzt sind wir in einer großen Willensanstrengung begriffen, die erproben soll, ob diese Gemeinschaft oder irgendeine derartige Gemeinschaft lange bestehen kann.?
Wir haben nicht die Krise eines Bürgerkrieges. Wir sehen uns nicht der unmittelbaren Gefahr der Auflösung gegenüber. Was wir haben, ist die vielleicht noch schlimmere Gefahr von Untätigkeit, Selbstgefälligkeit und kleinlicher Kirchturmspolitik. Ich habe einen Alptraum, daß unsere letzten 25 Jahre europäischer Renaissance, vom Standpunkt des 21. Jahrhunderts oder auch schon dieses Jahrhundert aus gesehen, nicht als der Beginn eines langen, strahlenden Sommers reifender Früchte und sich erhebender Menschenherzen betrachtet werden wird, sondern lediglich als eine jener kurzen Aufklärungsperioden, die gelegentlich die langen Zeiten niederdrückender politischer Wetterlagen aus Mißtrauen, Zwietracht und Furcht aufgehellt haben, die seit dem frühen Mittelalter vorwiegend unser Los waren. Und daß in Zukunft Menschen sagen könnten, daß Europa zunächst, erschreckt über seine selbstzugefügte Verwüstung er Jahre 1939-45, die Schaffung einer neuen Welt in Angriff nahm und sich dann bequem von der Flut der relativ einfach gewonnenen Prosperität der Jahre vor der Ölkrise treiben ließ; doch daß wir dann, als diese sanfte Flut unsanft zu verebben begann, als wir von Inflation, Arbeitslosigkeit, industrieller Stagnation und monetärer Instabilität geschlagen wurden, unseren Willen zur Zusammenarbeit verloren und bestenfalls in eine statische Lethargie und schlimmstenfalls in einen spaltenden und gegenseitig destruktiven Protektionismus zurückfielen. Sollte dies geschehen, wird man die Hoffnung auf ein vereinigtes Europa als etwas ansehen, was nur dann funktioniert, wenn wir den physischen Druck der Furcht in unseren Mägen spüren und nicht nur ihre geistige Präsenz in unseren Köpfen, oder wenn wir von einem günstigen Rückenwind unterstützt werden. Europa wird als ein Schönwetterschiff erscheinen, das verlassen oder zumindest vernachlässigt wird, sobald Sturmwarnung gegeben wird. Das wäre ein schreckliches und ironisches Ende für ein großes Unterfangen, denn es würde bedeuten, daß wir uns gerade zu der Zeit, als wir der gegenseitigen Unterstützung am meisten bedurften, in die selbstzerstörerische Isoliertheit zurückzogen, die uns schon in den dreißiger Jahren wirtschaftliches Unglück und politisches Desaster brachte. Weltpolitisch gesehen wäre ferner eine zu einem einmalig günstigen Zeitpunkt vorgenommene Entledigung von Verantwortung, denn es würde bedeuten, daß wir zu einer Zeit relativer Introversion in den Vereinigten Staaten nicht mit Maßnahmen zur Schließung einer etwaigen Führungslücke reagierten, sondern damit, daß wir uns zurückzögen und zuließen, daß sie das Ausmaß eines gefährlichen Vakuums annimmt.
Das dürfen wir nicht geschehen lassen. Es wäre nicht richtig, wenn ich bei diesem Anlaß und in dieser kurzen Laudatio den Versuch machte, in allen Einzelheiten den Weg darzulegen, auf dem die Gemeinschaft meiner Ansicht nach voranzuschreiten versuchen sollte; klar ist, daß konkrete Anstrengungen aller Länder der Gemeinschaft zur Zusammenarbeit unternommen werden müssen. Die europäische Stimme muß in der übrigen Welt gehört werden. Unser Einfluß, politisch wie wirtschaftlich, hat in den letzten drei Jahren erheblich zugenommen. Europäische Aktionen sind in der Tat Unternehmungen echter Zusammenarbeit anstelle gelegentlicher Akte egozentrischer und widerwilliger gegenseitiger Protektion. Es gibt zur Zeit keine ausreichende dominierende Gefahr von außen oder selbst die lebendige Erinnerung an eine solche, die als Triebkraft und Energie für die Weiterentwicklung Europas dient. Wir können uns nicht lediglich auf die Erinnerung an die Vergangenheit stützen. Von Tag zu Tag muß die Bereitschaft zur Zusammenarbeit zunehmen, um die Ideale eines Vereinigten Europa in greifbarer Form zu verwirklichen. Um dies zu erreichen, müssen wir unsere Völker wieder neu für die Idee begeistern. Wir können dies nur tun, indem wir die Gemeinschaft zu einem willkommenen Teil des täglichen Lebens der Bürger ihrer Mitgliedsländer machen. Leo Tindemans hat den Weg dazu gewiesen.
Die einzelnen Regierungen der Neun werden nicht unbedingt jedem Detail seines Berichts zustimmen. Dennoch ist es bei weitem der beste Marschplan für den nächsten Abschnitt der Reise, den wir haben oder haben können. Er bietet eine im rechten Augenblick erschienene zusammenhängende Analyse unserer Probleme – zu einem Zeitpunkt, wo sie am dringendsten benötigt wird -, und dies innerhalb eines Rahmens, der unmittelbaren Realismus und letztliches Ziel miteinander verbindet. Er entspricht der besten Tradition der Väter der modernen europäischen Einheit. Ich habe immer den Eindruck gehabt, daß das entscheidende Erfolgsrezept von Jean Monnet und jenen, die mit ihm zusammenarbeiteten, folgendes war: bei einer Straßenblockierung soll man nicht mit dem Kopf dagegenrennen und dann zerschunden und geschlagen niedersinken. Vielmehr soll man nach schwachen Stellen in der Blockierung suchen und auch nach Umgehungsmöglichkeiten, sofern diese – und das ist eine sehr wichtige Bedingung – mit der Zielrichtung vereinbar sind. Dies ist die Einstellung, die Sie, Herr Tindemans, übernommen haben, und sie scheint mir die Richtige zu sein. Wir müssen immer bestrebt sein, die Schwungkraft zu erhalten, jedoch bei der Wahl unserer unmittelbaren Marschrouten eklektisch sein. Doch in der Frage der Direktwahlen ist kein Raum für Eklektizismus. Sie sind wesentlich. Im Augenblick sind wir nicht nur an einem Punkt angelangt, an dem eine Phase des europäischen Vorstoßes sich erschöpft hat und rasch von einem neuen Anfang abgelöst werden muß. Wir haben auch einen Generationswechsel erreicht. Bis vor kurzem wurden wir aktiv von jene gestützt, die die Last der Führung in der unmittelbaren Nachkriegszeit getragen haben. Jetzt müssen wir uns auf jene verlassen, die erst später auf der politischen Szene erschienen sind und die nicht, um mit dem Titel von Dean Acheson?s Autobiographie zu sprechen, ?present at the creation?, waren. Es ist daher ganz und gar angemessen, daß Sie von heute an der jüngste Träger des Karlspreises sind. Sie entsprechen dem, was für uns die subjektivste und daher lebendigste Definition der Jugend ist. Sie sind der einzige Preisträger, der nach mir geboren wurde, wenn auch - das sage ich gerne - nur zwei Jahre später.
Sie wurden erst 1961 Abgeordneter – ein hervorragender Jahrgang -, doch in den 15 Jahren, die seitdem vergangen sind, haben Sie in der belgischen Politik eine überaus bemerkenswerte Rolle gespielt. Ihre Leistungen reichen von Verfassungsreformen bis zu dem Verbot, Wildvögel mit Netzen zu fangen. Diese Ihre Leistungen zeigen, daß Sie sowohl die Vorstellungskraft haben, Lösungen für die umfassenderen Fragen zu finden, als auch den Mut, manchmal ebenso schwierige Detailfragen anzupacken. Auf der Grundlage Ihrer Erfolge im eigenen Land sind Sie zu einer der großen Persönlichkeiten Europas geworden – jener erlesenen Galerie, zu der Belgien stets seinen Beitrag geleistet hat. In dieser Eigenschaft grüße ich sie heute und stelle Sie den hier Versammelten als eine überaus würdigen Empfänger dieses bedeutenden Preises vor, der sowohl die Tradition dessen umschließt, was erreicht worden ist, als auch unsere Hoffnungen für die Zukunft Europas, die selbst in dieser schwierigen Zeit ungetrübt bleiben müssen.