Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Kurt Malangré

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Kurt Malangré

Festliche Versammlung!

Bis zur Stunde mühen sich die Völker der freien Welt um die Verteidigung, Festigung und bestmögliche Ausgestaltung ihrer freigewählten staatlichen Ordnung, ihrer Demokratie, die Abraham Lincoln am 15.11.1863 zu Gettysburg, auf dem letzten Schlachtfeld des Bürgerkrieges, gültig definierte als "Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk".

Die Aufgabe der Verwirklichung dieses Prinzips bewegt unsere Völker auf allen Ebenen ihrer staatlichen Ordnung bis heute. Es erhielt seinen Namen im Stadtstaat Athen und wurde dort grundgelegt im 7. Jahrhundert vor Christus durch Solon, über den Aristoteles berichtet: "Er habe die allzu ausschließliche Oligarchie abgeschafft, der Knechtschaft des Volkes ein Ende gemacht und mit weiser Mischung der Staatsform die alte Demokratie wiederhergestellt."

In unserer Gegenwart nun erleben wir das historische Ereignis, in dem die einzelnen Völker unseres Kontinentes durch die endlich erreichte Festsetzung der ersten freien und direkten Wahlen die demokratische Staatsform eines jeden einzelnen Teiles ausdehnen auf den freien Erdteil in seiner Gesamtheit und damit eine einheitliche Verfassung der Demokratie schaffen können für ganz Europa, das seinen Namen ebenfalls seinem griechischen Ursprung verdankt, jener Geliebten des Göttervaters Zeus, die Europa hieß.

Und so könnte sich zu unseren Lebzeiten die Reise der Europa vollenden, so könnte sich der gesamte Kontinent unter der Staatsform einigen, deren Idee vor über 2 ½ Jahrtausenden in Athen sichtbar wurde.

Diese Zusammenhänge anzudeuten, findet nicht nur seine Begründung in der Tatsache, daß wir uns am heutigen Morgen an genau der Stelle versammelt haben, von der aus vor 1200 Jahren in der sogenannten karolingischen Renaissance die geistigen Güter der Antike den jungen Völkern Galliens und Germaniens erschlossen und auf sie übertragen wurden, sondern insbesondere in dem Umstand, daß wir in unserer Mitte den Mann sehen, dessen gesamtes politisches Wirken von der Idee des freiheitlich-demokratisch geeinten Europa und der vollen Mitwirkung seines griechischen Volkes bei der ersehnten Vereinigung des Kontinentes getragen ist.

Ihn darf ich nun in aller Namen und an erster Stelle mit großer Freude begrüßen, den Ministerpräsidenten der Republik Griechenlands, Herrn Konstantin Karamanlis.

Neben ihm heißen wir die anwesenden Karlspreisträger früherer Jahre willkommen:

Den Karlspreisträger 1961,
den damaligen Präsidenten der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Herrn Professor Dr. Walter Hallstein,

den Karlspreisträger 1969,
den damaligen Präsidenten der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Herrn Minister Jean Rey,

den Karlspreisträger 1972,
den jetzigen Präsidenten der Kommission der Europäischen Gemeinschaft, The Right Hon. Roy Jenkins.

Ich begrüße die Herren Botschafter Griechenlands, Zyperns, Dänemarks, der Niederlande, Spaniens, Italiens, Belgiens, Irlands, Frankreichs, Luxemburgs und den Herrn Gesandten der Vereinigten Staaten von Nordamerika,

den Präsidenten des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaft, Herrn Professor Dr. Kutscher

und die Vizepräsidenten
des Europäischen Parlaments, Herrn Lücker,
der Europäischen Investitionsbank, Herrn Dr. Steffe
und des Europäischen Rechnungshofes, Herrn Gaudy,

den Generalsekretär des Europarates, Herrn Kahn-Ackermann,

sowie den Oberbefehlshaber der Vereinigten Streitkräfte Europa-Mitte, Herrn General Schulze.

Wir freuen uns über die Anwesenheit des Außenministers der Republik Griechenland, Herrn Papaliguras und des Chefs des Kabinetts, Herrn Botschafter Molyviatis.

Unser besonderer Gruß gilt dem Präsidenten des Deutschen Bundestages, Herrn Professor Dr. Karl Carstens

und den anwesenden Mitgliedern des Europäischen Parlamentes und des Deutschen Bundestags, unter ihnen den stellvertretenden Vorsitzenden der CDU-CSU Bundestagsfraktion, Herrn Bundesminister a. D. Hans Katzer.

Für die Bundesregierung begrüße ich den Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten,
Herrn Josef Ertl
und den Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Otto Graf Lambsdorff,
den Staatsminister im Auswärtigen Amt, Herrn Dr. von Dohnanyi.

Ich heiße willkommen die anwesenden Abgeordneten des Landtages von Nordrhein-Westfalen und begrüße die Herren Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Luxemburg, Belgien und Griechenland, als ständige Vertreter ihrer Regierungen bei der Europäischen Gemeinschaft die Herren Botschafter Griechenlands, Frankreichs, Belgiens, der Niederlande und der Bundesrepublik Deutschland.

Bestens willkommen sind uns s. Eminenz, der Griechisch-Orthodoxe Metropolit von Deutschland und Exarchat von Zentral-Europa Irineos und der Diözesanbischof von Aachen, Herr Professor Dr. Hemmerle,

die zahlreich erschienenen Mitglieder des Consularischen Corps,

der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Herr Dr. Fasolt

und die Präsidenten des Niederländischen Rates der Europäischen Bewegung, Herr Molenaar,

der Paneuropa-Union, Herr Bundesminister a. D., Professor Dr. von Merkatz

und der Europa-Union, Herr Theo M. Loch,

sowie der Generalsekretär des Deutschen Rates der Europäischen Bewegung, Herr Eickhorn,

der Gouverneur der Provinz Niederländisch-Limburg, Herr Professor Dr. Jan Kremers,

und der Vorsitzende der Landschaftsversammlung Rheinland, Herr Bürgermeister Josef Kürten.

Ihnen allen, die Sie an diesem heutigen Ereignis teilnehmen, gilt unser herzlicher Gruß!


Verehrte Anwesende!

Die Regierungen, die am 25.3.1957 aus der Vision einer gesamteuropäischen Volkswirtschaft die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft schufen, erblickten in dieser Gründung nicht das Ziel ihres Strebens, sondern nur einen Schritt, wenn auch einen überaus bedeutsamen, um dieses Ziel zu erreichen, das die Staats- und Regierungschefs für 1980 als letzten Termin verbindlich vereinbarten: Nämlich die Schaffung der "Europäischen Union".

Ministerpräsident Karamanlis formulierte dies vier Jahre nach Gründung der EWG, am 9.7.1961 bei der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens seines Landes, dessen Modalitäten er mit dem damaligen Präsidenten Professor Hallstein erarbeitet hatte, so:

"Für das griechische Bewußtsein ist die EWG nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern sie hat auch eine breitere politische Bedeutung und Mission.

Ich kann sagen, daß wir unsere Assoziierung mit der Gemeinschaft angestrebt haben, von dem Glauben inspiriert, daß die wirtschaftliche Einheit Europas zur substantiellen europäischen Einheit und durch diese zur Stärkung der Demokratie und des Friedens in der ganzen Welt führen werden."

Das vereinbarte Datum des Jahres 1980 ist nahegerückt, das erkläre Ziel, eben diese "substantielle europäische Einheit" in einer Europäischen Union zu schaffen, ist noch weit entfernt.

1974 wollten die Staats- und Regierungschefs der EG-Staaten wissen, was denn eigentlich diese Europäische Union sein könne. Sie baten den Ministerpräsidenten Leo Tindemans, dies festzustellen. Tindemans, der Karlspreisträger des Jahres 76, legte am 29.12.1975 das Resultat seiner Untersuchung mit konkreten Vorschlägen seinen Auftraggebern vor. Diese aber faßten bis heute nicht den Entschluß, den Bericht auch nur zu diskutieren.

Nach mehrfachen vergeblichen Versuchen faßten die Außenminister der neun EG-Staaten am 20.9.1976 endlich den Beschluß zur Durchführung der ersten Direktwahl für ein Europäisches Parlament. Die Peinlichkeit ist unübersehbar, daß danach wiederum 19 Monate vergehen mußten, ehe der Europäische Rat, die Konferenz der Regierungschefs, am 7.4. dieses Jahres in Kopenhagen den Juni des nächsten Jahres als Wahltermin festsetzten - eine Verzögerung von luxuriösen Ausmaßen, die Roy Jenkins mit vollem Recht "überflüssig und bedauerlich" nannte.

Auch Konstantin Karamanlis teilt diese Ungeduld und führte aus: "Ich bin der Meinung, daß die politische Vereinigung Europas ... sich unbegründeterweise verzögert hat. Es ist unsere Pflicht, die Beitrittsprozeduren zu beschleunigen, alle Hindernisse zu beseitigen und mit Entschlossenheit zur substantiellen Einigung Europas zu schreiten. Dies ist eine imperative Pflicht, weil meines Erachtens nur ein Vereinigtes Europa seine Unabhängigkeit festigen und das Weiterbestehen der Demokratie garantieren kann."

Dies sagte er am 29.9.1975 in Rom zu dem damaligen italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro.

Eben in dieser Situation des von außen und von innen heraus gefährdeten Europa bemühen sich Griechenland, Spanien und Portugal um den vollen Beitritt zur Gemeinschaft und stehen wir alsbald vor der ersten europäischen Direktwahl. Damit rücken zwei Ereignisse in das unmittelbare Blickfeld, die beide für die Gemeinschaft von größter Bedeutung sind, das erstere, der Mitgliedsantrag der drei Länder, eine unabdingbare Konsequenz und gleichzeitig eine starke Herausforderung, die letztere, die Wahl, eine entscheidende Chance.

So eindeutig es ist, daß Griechenland, Spanien und Portugal unauslöschliche europäische Geschichte geschrieben haben und zur Identität Europas gehören, so eindeutig ist es, daß die derzeitige Neunergemeinschaft mit dieser bedeutenden zweiten Erweiterung der EG in eine kritische Phase geraten muß.

Unterwirft schon jetzt das jedem Mitglied mögliche Veto den Fortschritt der Integrierung jedem Nationalegoismus, so muß ein zwölffaches Vetorecht bei neu hinzutretenden Interessengegensätzen noch schwerer zu ertragen sein, als das bisherige neunfache.

Insbesondere aber sollen drei Partner einer Gemeinschaft beitreten, die sich bisher selbst keine eigene Ordnung zu geben vermochte, die keine Rechte und Pflichten der Einzelnen gegenüber der Gesamtheit mit der Verbindlichkeit festzulegen vermochte, die Strukturen und Entscheidungsverfahren hätten festlegen können, die zu handhaben wären und zum Wohle aller auch dann entschieden gehandhabt würden.

So zwingend der Beitritt der drei Länder für die Gemeinschaft ist, so zwingend ist die damit eintretende Verschärfung der Problematik des Funktionierens.

Diese Diskrepanz vermögen zwei Tatbestände aufzuheben oder entscheidend zu mildern.

Zum einen nämlich die nunmehr beginnende positive Phase der politischen Willensbildung in einem ersten gesamteuropäischen und direkt gewählten Parlament, dessen gestalterische Kraft durch die Höhe der Wahlbeteiligung, also die Quantität seines demokratischen Mandates, zum anderen durch die Qualität seiner personellen Ausstattung bestimmt wird. Zweitens aber erwächst der bisherigen Neunergemeinschaft durch den Beitritt Griechenlands, Spaniens und Portugals die gewaltige Bereicherung der tiefen geschichtlichen Erfahrung dieser Länder und herausragender Persönlichkeiten in ihrer Führung, deren Weitblick und geistige Substanz den Europäischen Rat entscheidend bewegen kann.

In unserem heutigen Karlspreisträger, in Konstantin Karamanlis, erblicken wir eine solche Persönlichkeit, auf die Europa nicht verzichten will.

Er wurde 1907 in Proti bei Serres geboren, studierte Rechtswissenschaften an der Universität von Athen und ließ sich 1932, als 25jähriger, in Serres als Rechtsanwalt nieder.

1935 begann seine politische Laufbahn mit seiner Wahl zum Abgeordneten der "Volkspartei" in das Parlament. Die Diktatur des Metaxas und die italienische - deutsche Besetzung unterbrachen sein politisches Wirken, das 1946 mit seiner erneuten Parlamentswahl fortgesetzt wurde. Mit 39 Jahren, 1946, wurde er Minister und entfaltete in den Folgejahren in verschiedenen Ressorts und unter verschiedenen Regierungschefs überaus erfolgreiche Initiativen. Daher ernannte ihn 1955 der König zum Premierminister, als der er 1959 die Assoziierung seines Landes mit dem Gemeinsamen Markt erwirkte. Nach 8jähriger, für sein Land sehr segensreicher Regierungsführung, ging er Ende 1963 ins Exil nach Paris. Am 23.7.1974, in der Endphase des Militärregimes, wurde er in seine Heimat zurückgerufen und bildete n den Morgenstunden des folgenden Tages wieder eine demokratische Regierung. Er schrieb sogleich Neuwahlen aus, ging aus diesen mit deutlicher absoluter Mehrheit hervor und führt seitdem wieder die Regierung der Republik Griechenland.

In diesen über 40 Jahren politischen Wirkens hat Ministerpräsident Karamanlis nicht nur sein Land innerlich gefestigt und intensive internationale Kontakte geknüpft, sondern immer wieder die Verwirklichung der Idee des vereinten Europa unter Einschluß Griechenlands gefordert und gefördert.

Die Geradlinigkeit in seinen demokratischen und republikanischen Grundsätzen, seine praktizierte Überzeugung von der verpflichtenden Notwendigkeit der Einigung Europas, mit der er sich in der letzten Novemberwahl erklärtermaßen voll in das Risiko seiner politischen Existenz stellte, weisen ihn als eine der bedeutenden personellen Hoffnungen Europas aus.

In der gegenwärtigen Situation unseres Kontinents ist nicht gefragt der reine Opportunismus des lediglich pragmatischen Machers, sondern die Staatskunst des weitblickenden Politikers, dessen geistige Kompetenz und Entscheidungskraft nicht von dem Wunsch des Überstehens des nächsten Wahltermines begrenzt ist. Gefragt ist nicht der blinde Nationalismus des auf die Staatsgrenzen beschränkten Blickwinkels, sondern die tiefe Vaterlandsliebe, aber auch der Horizont dessen, der weiß, daß sein Land nur noch in der Einheit seines Kontinentes wahrhaft gedeihen kann. Gefragt ist nicht der Schwärmer in lebens- und menschenfernen Ideologien oder prateidiktatorischer Internationalen, sondern der, der in der frei übernommenen, verschleißenden Arbeit des Dienstes eines jeden Tages nicht die mutige Entschlossenheit verloren hat, das Ziel in eine gedeihliche Zukunft mit aller Kraft zu erstreben.

So haben Sie, Herr Ministerpräsident Karamanlis, es in einer Anrede an Staatspräsident Giscard d'Estaing formuliert: "Wir müssen den Mut und die Beständigkeit, die Besonnenheit und den Weitblick haben, um mit der Errichtung dieses Europa, das unsere Völker fordern, fortzuschreiten, des Europa, das nicht nur ein abstrakter geographischer Begriff ist, sondern eine lebende und schaffende Realität, des Europa, welches jenseits der engen nationalen Grenzen eine Philosophie und eine Lebensart verkörpert, welche die traditionelle Rolle der Pionierarbeit, des Denkens und des Fortschritts übernehmen kann, wenn es vereinigt ist. Zu diesem Werk möchte auch Griechenland im Rahmen seiner Kräfte seinen Beitrag leisten".

Daher hat das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aacheneinstimmig beschlossen, Ihnen den Karlspreis 1978 zuzuerkennen.