Mir ist die Ehre widerfahren, die Festrede an diesem besonderen Tage zu halten, an dem Ihnen, Majestät, der Internationale Karlspreis der Stadt Aachen verliehen wird. Damit stehen Sie nun in einer Reihe von herausragenden Persönlichkeiten und Institutionen, die seit 1950 dafür gewürdigt worden sind, daß sie den Gedanken der europäischen Einigung in politischer, wirtschaftlicher und geistiger Hinsicht gefördert haben.
Dazu gratuliere ich Ihnen von Herzen. Ich heiße Sie gemeinsam mit Seiner Königlichen Hoheit, Prinz Claus, und Ihren drei Söhnen im ehrwürdigen Krönungssaal des Aachener Rathauses willkommen. Mit Ihnen begrüße ich zahlreiche Staatsoberhäupter und Regierungschefs, die gekommen sind, um Ihnen heute Dank und Anerkennung zu zollen.
Es ist kein Zufall, daß dieser Preis in der Stadt verliehen wird, von der aus nach dem Zerfall des Römischen Reichs der erste große Entwurf eines geeinten europäischen Reiches in die Tat umgesetzt wurde: das Lebenswerk Karls des Großen. Die Aufgaben, vor die sich dieser König des Frankenreichs gestellt sah, waren im Grundsatz nicht einmal so ganz verschieden von den Aufgaben, vor denen unsere heutige Europäische Union steht. Karl wollte, wie wir heute, die Vielfalt der Stammeskulturen erhalten und gleichzeitig zusammenführen. Es galt, Normen zu schaffen, die über alle Stammesgrenzen hinweg erkannt wurden, und ihnen in einer gleichmäßigen Rechtsprechung Geltung zu verschaffen. Es galt, Verwaltungsstrukturen aufzubauen, um dieses damals schier unübersehbare Land zusammenzuhalten. Karls Erfolge bei der Gestaltung einer einheitlichen Außen- und Sicherheitspolitik und im Bereich des Inneren und der Justiz waren eindrucksvoll. Daß er mit dem Denar außerdem noch eine einheitliche Währung schuf, sollte uns allen gerade heute Mut machen.
Allerdings: Zu Zeiten Karls des Großen war militärische Gewalt weitgehend das einzige Mittel, um großer Probleme, etwa der unerwünschten Migration oder des mit Feuer und Schwert nach Europa eindringenden Islam, Herr zu werden. Was wir Europäer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Weg des Dialogs, der Verhandlungen, der Kompromisse zu lösen versuchen, wurde damals meist in Schlachten entschieden. Immer gab es Sieger und Verlierer.
Vielleicht ist ja das der Schlüssel zu dem Europa unserer heutigen Vision: Für uns ist es zur Selbstverständlichkeit geworden, daß die Epoche der Sieger und Verlierer in Europa endgültig vorbei sein muß. Nicht nur auf dem Schlachtfeld, auch und vor allem am Verhandlungstisch. Unser europäisches Einigungswerk fordert ganz andere Qualitäten: Vorstellungskraft, Erfindungsgabe und Verhandlungsfähigkeit, Verständnis für den anderen und seinen Standpunkt, Überzeugungskraft, Fähigkeit zur Vermittlung, gewiß auch Streit, aber vor allem Versöhnung und Weitsicht.
Das sind Qualitäten, die Sie, Majestät, und Ihr Volk, die Niederländer, hoch halten. Und das gilt nicht nur für die Gegenwart. Ich nenne nur zwei Namen von Niederländern, die für Menschlichkeit und Rechtmäßigkeit stehen: Erasmus von Rotterdam und Hugo Grotius. Der Humanismus des Erasmus setzte dem pessimistischen Menschenbild Machiavellis den Glauben an den Menschen entgegen. Während dieser den unbarmherzigen Fürsten für notwendig hielt, sprach Erasmus für den christlichen. Er glaubte daran, daß Herrscher und Völker friedlich zusammenleben könnten, auf der Basis gegenseitiger Übereinstimmung, gegenseitigen Verständnisses und gegenseitiger Toleranz.
Hugo Grotius entwarf dann das Regelwerk, das genau dieser Hoffnung zur Realität verhelfen sollte: Er schuf das Völkerrecht als eine Rechtsordnung, die alle Staaten binden sollte. Grotius, der der "Vater des Völkerrechts" genannt wird, entwickelte etwas, was bis heute vorherrschende Idee der internationalen Staatengemeinschaft ist. Und nicht genug damit: Seine Idee vom ius gentium umfaßte auch die Vorstellung von Rechtsgrundsätzen, die den Völkern Europas - innerhalb der staatlichen Organisationen - gemeinsam sein sollten. Europa verdankt den Niederländern also entscheidende Beiträge zu den zentralen Konzepten Humanismus und Recht. Zusammen mit der Aufklärung und den Menschenrechten sollten sie zum Kernbestand abendländischer Zivilisation werden.
Ihr Land, Majestät, ist das beste Beispiel dafür, daß in dem Europa von heute die Kategorien "groß" und "klein" anders gedeutet werden müssen als üblich. Weder das territoriale Ausmaß eines Landes ist heute ein aussagekräftiger Maßstab noch ist es die Bevölkerungszahl. Die Eigenschaft, die die Niederländer in ihrer wechselvollen Geschichte zu besonderer Größe erhoben hat, ist ihre Freiheitsliebe. Die Niederlande waren und sind ein Land der Freiheit. Das gilt für den politischen, für den wirtschaftlichen und den kulturellen Bereich. Die Niederländer kämpften für ihre politische Freiheit, als anderswo noch Absolutismus herrschte. Früh wurde das Land durch seine offene Internationalität und seine globale Ausrichtung zu einer Wirtschafts- und Handelsmacht. Die vielen Kontakte mit anderen Völkern ließen eine gesunde Liberalität entstehen. Schon im 17. Jahrhundert, in ihrem "Goldenen Jahrhundert", waren die Niederlande eine föderalstaatliche Republik, eine bürgerlich geprägte Gesellschaft mit einer politischen Kultur, die keine zentrale Autorität kannte. Die Geistesfreiheit und Toleranz, die in diesem Land herrschte, zog Intellektuelle wie Descartes und Locke ebenso an wie politisch Verfolgte und religiös Andersdenkende. Öffentlicher Informationsfluß und Meinungsfreiheit waren schon damals selbstverständlich. Und diese Eigenschaften prägen bis heute den Geist Ihres Landes und wirken über seine Grenzen für die europäische Sache. Daß das auch unpompös und unauffällig geschehen kann, paßt ins Bild. Gerade auf Ihr Engagement für Europa, Majestät, treffen die Attribute "beharrlich" und "unermüdlich" zu. Genau deswegen nehmen Sie, als das gekrönte Haupt eines der sechs Gründerstaaten, heute in dieser einstigen Hauptstadt eines kaiserlichen Europas den Karlspreis in Empfang. Sie und ich waren schon einmal, im vergangenen Jahr, gemeinsam hier in Aachen. Damals stattete ich dem Königreich der Niederlande einen offiziellen Besuch ab, in dessen Rahmen wir gemeinsam die Städte Aachen und Maastricht besuchten. Kann es ein eindrucksvolleres Zeichen für die enge Verbundenheit unserer beiden Staaten geben? Die Souveränität, mit der Sie, Majestät, überkommene protokollarische Regeln beiseite ließen, war Ausdruck unseres gemeinsamen Gefühls dafür, wo der Puls Europas besonders spürbar ist, und Ausdruck unserer gemeinsamen Vision. Es ist die Vision von einem Europa, in dem jede niederländische, jede deutsche, jede französische Stadt, aber auch jede tschechische, ungarische oder polnische Stadt zugleich eine europäische Stadt ist; hier wohnen europäische Bürger, die z.B. stolz auf ihre niederländischen oder tschechischen Wurzeln sind und dieses Europa doch täglich neu mit ihren kulturellen Besonderheiten beschenken.
Der Beitrag der Niederlande zum europäischen Einigungswerk steht jedenfalls ganz vorn. Auf dem Gebiet der Europäischen Gemeinschaft, heute der Europäischen Union, wurde die Vision dauerhaften Friedens verwirklicht, und es ist uns und den uns nachfolgenden Generationen aufgetragen, nicht nur das Erreichte zu erhalten, sondern diese Insel der Stabilität zugleich auszuweiten und im Inneren zu festigen. Der Wohlstand und die soziale Sicherheit, in der unsere Gesellschaften, ungeachtet aller Gefährdungen, leben, wäre ohne diese in der Geschichte Europas einmalige Friedensperiode nicht möglich gewesen.
Wir wollen dieses gemeinsame Europa ja nicht nur aus ökonomischen Gründen, so wichtig diese in unserer globalisierten Welt auch sein mögen. Zuallererst geht es doch um das friedliche Zusammenleben der Menschen, dessen wir uns im Gebiet der Europäischen Union jetzt seit einem halben Jahrhundert erfreuen und das, wie uns der Blick in die Vergangenheit und über unsere Grenzen hinaus lehrt, eben nicht selbstverständlich ist. Aber es geht auch um unser politisches Gewicht in einer Welt, in der ganz neue, nicht mehr nur westliche Kräftezentren entstanden sind und weiter entstehen. Und es geht schließlich um den Fortbestand europäischen Lebens und Denkens, europäischer Lebensform in dieser Welt, mit einem Wort: um den Fortbestand europäischer Kultur.
Aus dem Unfrieden in den Frieden führt nur ein Weg: der Weg der Versöhnung. Das Angebot der Versöhnung kann glaubhaft nur derjenige machen, dessen Frieden der andere zerstört hat. Gewiß vollzieht sich Versöhnung nicht in einem Augenblick, aber sie bedarf der Geste. Sie haben, Majestät, in Ihrer unvergessenen Weihnachtsansprache 1994, kurz ehe sich das Kriegsende zum 50. Mal jährte, Worte gefunden, die uns unvergeßlich bleiben. Sie haben gesagt, und ich zitiere:
"Auf gebrochenen Pfeilern können wir keine Brücken bauen. Heute ist der einzige Weg der des Friedens und der Zusammenarbeit zwischen den Völkern. Hierbei wurde die Vergangenheit nicht vergessen, sondern besiegt. Auf Unterdrückung folgt Befreiung, aber nach der Befreiung kommt Versöhnung."
Diese Worte galten in erster Linie uns, den deutschen Nachbarn. Es ist dann vielleicht auch kein Zufall, daß das Jahr 1995 das Jahr außergewöhnlich intensiver Begegnungen zwischen den Niederlanden und Deutschland wurde. Schon zu Jahresbeginn trafen sich Vertreter von höchster Sachkunde aus Politik und Wissenschaft am Sitz der Stiftung in Ebenhausen zu einer Bestandsaufnahme der bilateralen Beziehungen mit der Absicht, die zukünftigen Möglichkeiten in diesen Beziehungen auszuloten. Bundeskanzler Kohl war dann der erste, ich wohl der letzte der offiziellen Gäste Ihrer Regierung. Dazwischen wurde das deutsch-niederländische Korps in Münster in Dienst gestellt, und es trafen sich Abgeordnete unserer beiden Parlamente zu einem intensiven Austausch in Groningen.
Das sind die Ereignisse, die die Aufmerksamkeit der Medien finden. Aber wieviel an täglichen Begegnungen spielt sich da noch ab, wie es sie in dieser Art nur zwischen unseren beiden Ländern gibt. Nein, nicht Fußballbegegnungen, die kommen in den Medien ja noch vor Staatsbesuchen oder Regierungsgesprächen. Ich denke an die so effektive und vielfältige Zusammenarbeit in den Grenzregionen, unseren Regios. Ich denke an die 150 Städtepartnerschaften, an die Zusammenarbeit niederländischer und deutscher Universitäten. Darüber liest man allenfalls in den Lokalzeitungen, aber da wird viel in der Stille gewirkt, und es wird Dauerhaftes bewirkt. Diesem Wirken wollten wir, Sie, Majestät, und ich im vergangenen Jahr mit unserem Besuch in Maastricht und Aachen Dank und Anerkennung zollen.
Wir sind Nachbarn in Europa und deshalb galt der Appell Ihrer von mir zitierten Weihnachtsansprache wohl auch unserem gemeinsamen Europa. Ich weiß, an dieses Europa glaubte schon die junge, politisch hellwache Prinzessin Beatrix. Ich denke an Ihre Rede vor der europäischen Kulturstiftung in Toulouse im Jahr 1961 oder an Ihr Engagement als Präsidentin der "Europäischen Arbeitsgruppe".
Als Königin der Niederlande sind Sie Ihrer europäischen Vision treu geblieben. Schon Ihre Rede vor dem Europäischen Parlament vor mehr als 12 Jahren legte davon Zeugnis ab. Sie haben diese Rede unter das Motto gestellt "Bewahrt die Gemeinschaft gut, denn sie ist ein kostbarer Besitz", und Sie haben dazu den erläuternden Satz gesagt: "Die beste Verteidigung der eigenen Interessen besteht darin, die Interessen der Gemeinschaft zu verteidigen." Damit haben Sie das Prinzip einer Entwicklung formuliert, die sich heute überall auf dieser Erde vollzieht und die wir mit einem modernen Ausdruck "Globalisierung" nennen. Eine Entwicklung, die uns heute gar keine Alternative zur gemeinschaftlichen Wahrnehmung europäischer Interessen mehr läßt. Und noch eine andere, frühe Erkenntnis entnehme ich Ihrer Rede von damals: die Erkenntnis, daß wir eine Gemeinschaft schaffen müssen, die von ihren Bürgern auch angenommen wird, eine Gemeinschaft -ich zitiere – "nicht der Paragraphen, sondern der Menschen". Schließlich finde ich in dieser Rede das Wort vom Herzschlag des echten Europa. Diesem echten Herzschlag entspricht es auch, daß Sie zum Abschluß der Regierungskonferenz von Maastricht im Dezember 1991 als erstes der Staatsoberhäupter in der Europäischen Union das großherzige Angebot gemacht haben, Ihr Bild auf den Münzen des Königreichs der Niederlande der neuen europäischen Währung zum Opfer zu bringen.
Die Ehrung, die Ihnen heute zuteil wird, ist nach alledem eine Ehrung Ihrer Person und ganz besonders Ihres Eintretens für Europa. Wir Deutsche würden uns aber glücklich schätzen, wenn das ganze Königreich der Niederlande, seine Bürger, seine Regierung und seine gewählten Volksvertreter die Verleihung des Karlspreises an Sie, Majestät, zugleich als Dank und Anerkennung gemeinsamen Wirkens für ein in Frieden geeintes Europa empfinden könnten. Die Niederlande gehören zum Herzen Europas. Nicht nur wegen ihrer geographischen Lage oder weil sie seit jeher europäisch dachten. In kaum einem Mitgliedstaat ist bisher die Erkenntnis, daß das zukünftige Europa ohne den Rückhalt bei seinen Bürgern auf tönernen Füßen steht, so konsequent in die Wirklichkeit umgesetzt worden wie in den Niederlanden. Mit ihren fünf Memoranden (bei Ihnen Notas genannt) zur Vorbereitung der seit März dieses Jahres tagenden Regierungskonferenz hat die niederländische Regierung nicht nur das Parlament in Den Haag in die Gestaltung und Verantwortung der niederländischen EU-Politik einbezogen, sondern landesweit die Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union und natürlich über die Rolle der Niederlande in dieser Union in Gang gebracht. Der Begriff der Europäischen Union, sozusagen der vorläufig letzte völkerrechtliche Aggregatzustand des europäischen Einigungswerkes, ist mit dem Namen einer niederländischen Stadt verknüpft: Maastricht - ganz richtig muß es wohl Maastricht betont werden. Wir sind zuversichtlich, daß das Projekt Europa 2000 wieder mit dem Namen einer niederländischen Stadt verbunden sein wird: Amsterdam. Und wir sind uns durchaus darüber klar, welche Anstrengungen und Leistungen Ihrem Land abverlangt werden, um diese Erwartungen zu erfüllen.
Deshalb: In Ihnen, Majestät, ehren wir die europäische Seele Ihres Landes.