Rede von Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland

Rede von Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland

Majestäten,
Herr Bundespräsident, sehr verehrte liebe Frau Carstens,
Herr Oberbürgermeister, Exzellenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Durch die Verleihung des Karlspreises an Professor Karl Carstens würdigen wir Europa; Europa, wie es auf der Medaille für den Preisträger heißt, als Raum des Rechtes und des Friedens.

Herr Bundespräsident, es ist für mich eine ganz besondere Freude, daß ich Ihnen nach dem Herrn Oberbürgermeister als erster und ganz gewiß nicht nur im Namen der festlichen Versammlung, sondern von Millionen unserer Landsleute in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch jenseits von Mauer und Stacheldraht zu dieser hohen Auszeichnung aufs herzlichste gratulieren darf.

Jeder spürt in dieser Stunde, daß diese Auszeichnung – und an diesem Tag und in dieser Zeit – an einen um Europa ganz besonders hochverdienten Mann geht. An einen Mann, dessen ganzer Lebensweg geprägt ist von der Geschichte und der Tradition unseres Volkes, aber der zu jener großartigen Generation gehört, die fähig war, aus geschichtlicher Erfahrung zu lernen, die einen Schlußstrich ziehen konnte und das Tor weit aufgestoßen hat für die Zukunft. Dafür danken wir Ihnen sehr, sehr herzlich, und es wird jeder verstehen, daß ich in diesen Dank Sie, verehrte gnädige Frau, besonders herzlich einschließe.

Karl Carstens ist der Sohn eines Mannes, der Frankreich wie sein eigenes Vaterland geliebt hat, der in Paris studierte, später Lehrer und Professor für französische Sprache wurde und der dann zu jener Generation gehörte, die in den Bruderkrieg 1914 bis 18 ziehen mußte, und sehr bald dort sein Leben ließ.

Es gibt kaum eine Familie in Deutschland, meine eigene zählt dazu, die nicht in den großen, schrecklichen, leidvollen Kriegen dieses Jahrhunderts nächste Angehörige oder nahe Freunde verloren hat. Und aus diesen bedrückenden Erlebnissen und Erfahrungen, aus den bitteren, oft auch persönlichen Erfahrungen im Krieg und aus der Lektion der Diktatur haben wir die geschichtlichen Lehren und Konsequenzen gezogen. Krieg, Bruderkrieg, zwischen europäischen Völkern muß ein für allemal ausgeschlossen sein.

Es waren ja in Wahrheit europäische Bruderkriege, und wenn wir – ich empfinde dies als persönliches Glück – im Herbst dieses Jahres, der Präsident der Französischen Republik und der deutsche Bundeskanzler, uns in Verdun treffen, um der Toten dieser Kriege zu gedenken, dann mag dies symbolisch sein für die Überwindung von Haß und Zwietracht zwischen Deutschland und Frankreich, aber auch zwischen europäischen Völkern.

Der sicherste Weg, Geschichte, geschichtliche Lektionen zu begreifen, ist die Einigung Europas. Dafür setzen wir uns in Deutschland in der großen Mehrheit unseres Volkes seit 1945 mit unserer ganzen geistigen und moralischen, wirtschaftlichen und politischen Kraft ein.

Wir wollen das Europa der Zukunft, wir sagen ja zu seiner Geschichte und Tradition, auch zum Auf und zum Ab, zu den großartigen Kapiteln und zu den schlimmen Kapiteln unserer Geschichte.

Wir wollen die Zukunft Europas, wir wollen seine Zukunft für die Generation unserer Kinder, wir sagen ja zum Platz Europas, zu seiner Pflicht gegenüber anderen in einer weiten Welt, und wir wollen nach manchen Taten des Krieges uns als Europäer mit kräftiger Schrift ins Buch der Geschichte mit Werken des Friedens eintragen.

Das erste Friedenswerk deutscher Außenpolitik nach dem Krieg war die Überwindung von Feindschaft und Haß zwischen den Völkern, das Bemühen um Aussöhnung und Freundschaft, vor allem auch mit unserem französischen Nachbarn, denn "für die Einigung Europas", so schrieb Robert Schuman, "ist der vollständige Wechsel der Beziehungen zwischen den europäischen Staaten, vor allem zwischen Frankreich und Deutschland, nötig". Er fährt fort: "Dieses Werk unternehmen wir gemeinschaftlich auf der Basis absoluter Gleichberechtigung mit gegenseitiger Schätzung und Vertrauen, nachdem unsere Generation in höchstem Maße Leiden und Haß erfahren hat".

Am Bau der Vereinigten Staaten von Europa haben Sie, Herr Bundespräsident, von Anfang an mitgewirkt, in der Kraft des Verstandes, der Inspiration des Geistes und mit der Freude eines offenen Herzens. Diese Qualitäten sind in sehr unterschiedlichen Funktionen seit 1949 deutlich geworden, als Rechtsgelehrter und als Diplomat, als Hochschullehrer und als Politiker, als Beamter, der unserem Staat in wichtigen Funktionen gedient hat, und zuletzt und heute in der großartigen Weise, wie Sie Ihr Amt als Präsident der Bundesrepublik Deutschland geführt haben.

Sie, Herr Carstens, haben habilitiert mit einer Arbeit zum amerikanischen Verfassungsrecht, und Sie waren damals bremischer Bevollmächtigter beim Bund. Anschließend waren Sie der erste Ständige Vertreter der Bundesrepublik Deutschland beim Europarat in Straßburg; und Sie verfaßten in jenen Tagen ein grundlegendes Werk über diese Organisation. Das ist ein beeindruckendes Nebeneinander, Nacheinander, Füreinander von Stationen im verantwortungsvollen Dienst für eine freiheitliche Zukunft der Deutschen.

Die Vielfalt der europäischen Dimensionen, die sich Karl Carstens ganz persönlich erschlossen hat, erinnert im besten Sinne des Wortes an die Vielfalt, die Europa ist, die es braucht, die es will; ein Europa ebenso des Rechtes, was immer auch ein Europa des Friedens ist, mit der Politik im allgemeinen und der Wirtschaft und selbstverständlich ein Europa der Kultur; ein Europa der Landschaften, der Regionen, ein Europa der Handlungseinheit im Inneren und, wie wir alle hoffen, bald auch nach außen; ein Europa, meine Damen und Herren, vorsichtiger Ansätze, kleiner Schritte, pragmatischer Zwischenlösungen, oft nur auf Teilgebieten, in unterschiedlichen Richtungen und nicht immer mit denselben Teilnehmern, ebenso wie bereits funktionierende geschaffene Elemente für die politische Union auf dem Weg des Baus der Vereinigten Staaten von Europa.

Natürlich kann die europäische Idee, die Vision der Gründungsväter der Gemeinschaft, nur dann verwirklicht werden, wenn auch wir in unserer Generation, in unserer Zeit Kraft der Gedanken und Mut der Taten beweisen. Und, meine Damen und Herren, wir sollten dabei nie kleinmütig und verzagt werden. Als die EWG gegründet wurde, sprach man in Form von Karikaturen von den Ausgrabungen von Messina. Die Gemeinschaft entstand dennoch, und sie blühte auf. Und heute darf sie, wie der Preisträger dieses Jahres ganz zu Recht sagt, als eine Leistung gelten, die in der Nachkriegsgeschichte unübertroffen ist.

Aber, meine Damen und Herren, Europa geht zu seiner Einigung nicht nur jenen breiten, wenn oft auch beschwerlichen Weg, den die drei Gemeinschaftsverträge vorzeichnen. Im Bewußtsein der Europäer mögen diese Verträge so manchen anderen Anstoß und Erfolg in den Hintergrund gedrängt, vielleicht sogar verdrängt haben; doch Europa, das ist seit langem viel mehr als die Gemeinschaft. Ich denke hier an Institutionen wir die Europäische Organisation für Kernforschung, die Europäische Weltraumorganisation, stellvertretend diese beiden genannt für vielseitige Anstrengungen Europas, durch Abstimmung und Kooperation im Bereich von Forschung und Technik den Platz in Europa zu behaupten.

Ich will in dieser Stunde aus gutem Grund auch die Arbeit des Europarates würdigen, des ersten Zusammenschlusses europäischer Staaten zu einer ständigen politischen Institution. Auch heute verdient dieser Europarat unsere besondere Wertschätzung. Die Geschichte unserer Bundesrepublik Deutschland und die Geschichte des Europarates – daran hat Karl Carstens im Januar des vergangenen Jahres in Straßburg erinnert – sind miteinander aufs engste verflochten. Vor 35 Jahren sind sie beide entstanden, und nur drei Tage trennten die Annahme des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und die Unterzeichnung der Satzung des Europarates.

Am Anfang unserer bewußten und gewollten Einbindung in das freiheitliche Europa stand Konrad Adenauers engagierter Einsatz für die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in den Europarat. Hier war es, wo wir Deutschen unseren Platz in der Gemeinschaft europäischer Völker nach der nationalsozialistischen Barbarei erstmals wiederfanden.

Lassen Sie mich diese Verdienste des Europarates auch heute, in dieser Stunde, dankbar anerkennen, seine beharrlichen, häufig stillen und deshalb wenig beachteten Bemühungen um die Angleichung der Rechtssysteme seiner 21 Mitgliedstaaten, um gerechte soziale Standards für die Menschen, um die Pflege der kulturellen Einheit Europas, um den europäischen Jugendaustausch.

Wenn in den nächsten Ferienwochen in allen europäischen Ländern Millionen Schüler, junger Leute mit ihrem Interrail-Ticket quer durch Europa fahren, dann leben sie Europa. Sie sind dann nicht Deutsche, Franzosen, Engländer, sie sind Europäer, die unterwegs sind irgendwo in Europa. Für sie hat Europa längst begonnen.

Für dies alles schulden wir denen Dank, die unermüdlich daran gearbeitet haben. Und ich zitiere nicht ohne Grund aus der Präambel der Satzung des Europarats die Sätze: " Den geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe ihrer Völker sind, der persönlichen Freiheit, der politischen Freiheit und der Herrschaft des Rechts liegt zugrunde das, was wahre Demokratie ausmacht."

Meine Damen und Herren, hier geht es in der Tat um die Substanz dessen, was uns überliefert ist und was wir angenommen haben, um Menschenwürde, um die freie Entfaltung der Persönlichkeit, um unser zutiefst europäisches Erbe von Christentum und Aufklärung, mit einem Wort: um das, was wir oft viel zu vordergründig und zuwenig nachdenklich das Abendland nennen.

Der europäische Menschenrechtsschutz durch die Straßburger Organe war beispiellos. Er wurde beispielhaft für die Welt. Von diesem hohen Standard eines Werks des Friedens gibt es kein Zurück. Auf diese Idee, auf die Menschenrechte und auf die Grundfreiheiten ist auch die Europäische Gemeinschaft verpflichtet. Die politischen Organe der Gemeinschaft – Parlament, Rat und Kommission – haben sich in einer gemeinsamen Erklärung zur Europäischen Menschenrechtskonvention bekannt. Die Grundrechte werden in der Gemeinschaft schon seit Jahren, insbesondere durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg, wirksam geschützt. Die Gemeinschaft, und ganz besonders ihr erster Präsident in der Kommission, unser Landsmann Walter Hallstein, hat stets daran erinnert, daß Rechtschöpfung, Rechtsquelle und Rechtsordnung Bausteine Europas sind.

Ich nutze gerne diese heutige Gelegenheit, dem Rechtsprechungsorgan der Gemeinschaft, aber auch den vielen Wissenschaftlern, die sich dem schwierigen Bereich des Europarechts widmen, meinen ganz besonderen Respekt zu bekunden. Ihr bedeutender, fortlaufender Beitrag zum europäischen Einigungswerk und die Impulse, die Sie gegeben haben, verdienen unseren Respekt und unseren besonderen Dank.

Heute, meine Damen und Herren, steht Europa vor der Frage, wie in den kommenden Jahren der Prozeß der europäischen Einigung weiter vorangebracht werden kann. Dabei ist die Vision der Präambel des EWG-Vertrages von entscheidender Bedeutung. Dort bekunden die Gründer der Gemeinschaft ihren festen Willen, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker und ihre Freiheit zu schaffen.

Der Text, meine Damen und Herren, ist völlig eindeutig. Europa ist mehr und muß mehr sein als eine Freihandelszone, ist viel mehr als eine gehobene Form eines Zollvereins. Unser Ziel ist und bleibt die politische Einigung der Völker Europas in Freiheit.

Wir wollen mit allen unseren Partnern, und das sage ich als deutscher Bundeskanzler in dieser Stunde, auf dem Weg der Politischen Union, den nach unserer Überzeugung die Römischen Verträge vorzeichnen, gemeinsam vorangehen. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wir wollen jetzt an den Bau der Vereinigten Staaten von Europa gehen.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß die politische Einigung Europas eine Aufgabe unserer Generation ist. Und wir haben die Pflicht, das uns Mögliche zu tun, damit die Generationen, die später einmal nach uns kommen werden, von uns sagen: Damals in den achtziger Jahren haben jene, die Verantwortung zu tragen hatten, die Zeichen der Zeit erkannt, und sie haben gehandelt.

Europa, das ist heute eine aktuelle Aufgabe und nicht ein Zukunftstraum. Heute müssen wir dazu beitragen, daß Europa fähig ist, mit einer Stimme zu sprechen, weltweit auch seine Solidarität zum Ausdruck zu bringen. Heute müssen wir fähig sein, die Fragen der Völker der Dritten Welt, Schlüsselfragen der Menschheit von morgen, gemeinsam als Europäer zu beantworten.

Deshalb ist es an der Zeit, die Frage zu stellen, wer in Europa bereit ist, in einer unwiderruflichen, irreversiblen Bindung an die europäische Solidarität sich aufzumachen, auf dem Weg der Politischen Union voranzugehen. Wir Deutsche wollen niemanden ausschließen. Wir treten dafür ein, daß das Tor weit offen bleibt. Aber wir Deutsche sagen auch: Wir wollen jetzt die entscheidenden Schritte tun.

Ich begrüße die Initiative, die der derzeitige Präsident des Europäischen Rates, der Präsident der Französischen Republik, François Mitterrand, heute vor acht Tagen in seiner wichtigen Rede vor dem Europäischen Parlament ergriffen hat. Seine Vorschläge sind auch Frucht vieler gemeinsamer Gespräche in den letzten Monaten. In dem Bemühen, Europa auch politisch zu gründen, voranzubringen, können unsere französischen Freunde und alle unsere europäischen Freunde auf die Unterstützung dieser Bundesregierung und der riesigen Mehrheit der Bürger der Bundesrepublik Deutschland rechnen.

Natürlich wissen wir, daß eine Reform der Gemeinschaft längst überfällig ist. Ich selbst habe versucht, beim Stuttgarter Gipfel eine Lösung der dringendsten Probleme einzuleiten. Inzwischen ist es uns gelungen, in den allermeisten Fragen des sogenannten Stuttgarter Pakets zu wirklich positiven Abschlüssen und Ergebnissen zu kommen. Alle Partnerländer sehen mittlerweile ein, daß jeder für sich auch zu den notwendigen Einsparungen seinen Beitrag leisten muß. Nach den Einigungen über die Kernpunkte des in Stuttgart geschnürten Verhandlungspakets waren wir und ich der Meinung, daß der Brüsseler Gipfel gute Voraussetzungen hatte, zu einem positiven Ergebnis zu kommen. Übereinstimmung wurde dort über die meisten Fragen erzielt, etwa über die Aufstockung der Eigenmittel durch Erhöhung des Anteils der nationalen Mehrwertsteueraufkommen.

Übereinstimmung wurde erzielt über den Beitritt Spaniens und Portugals.

Lassen Sie mich das gerade auch in Ihrer Anwesenheit, Majestät, noch einmal deutlich sagen als die Position der deutschen Bundesregierung – und ich sage noch einmal in besonderem Respekt und in Erinnerung an die traditionelle Freundschaft zwischen Deutschen und Spaniern, die besonders vertieft wird durch die Anwesenheit von vielen Tausenden, Hunderttausenden spanischen Gastarbeitern, die herzlich gerngesehene Gäste in unserem Lande sind -: Wir wollen und wir treten ein für den Beitritt Spaniens und Portugals zum 1. Januar 1986. Denn Europa ohne die Iberische Halbinsel, ohne Spanien und Portugal, ist noch mehr ein Torso als Europa sowieso sein muß, der freie Teil Europas, durch die Trennung durch Mauer und Stacheldraht, die gerade wir Deutsche ertragen müssen.

In Brüssel lagen alle Dokumente zur Gemeinschaftsreform verabschiedungsreif auf dem Verhandlungstisch. Lediglich die Frage der ausgewogenen Gestaltung der nationalen Beiträge zum Gemeinschaftshaushalt, insbesondere auch der britische Beitrag, blieb offen. Wir konnten uns nicht einigen. Und natürlich war das für viele europäisch gesinnte Bürger in allen europäischen Ländern eine herbe Enttäuschung. Auch für mich, und ich verstehe diese Empfindung.

Nur, meine Damen und Herren, das ist überhaupt kein Grund zur Resignation. In knapp 30 Jahren haben wir in Europa gewaltige Fortschritte gemacht. Ich sprach von den Jungen, ich sprach von den Empfindungen unserer Bürger. Man kann nicht erwarten, und es verrät einen Mangel an Demut vor der Geschichte, daß man in 30 Jahren Entwicklungen umkehrt, vielleicht sogar wiedergutmacht, die in 300 Jahren nationalstaatlichen Denkens sich ganz anders entwickelt haben. Es gibt keinen Grund zur Resignation, weil es auch keine Alternative zu Europa gibt.

Das gilt für uns alle in Europa. Aber ich sage bewußt, es gilt ganz besonders für uns Deutsche. Wir brauchen den Bau der Vereinigten Staaten von Europa. Wir brauchen die wirtschaftliche, soziale, kulturelle Integration Europas noch mehr als alle anderen. Wir brauchen – Sie, Herr Oberbürgermeister, sprachen aus gutem Grunde davon, aber man kann es nicht oft genug sagen – sie auch aus wirtschaftlichen Gründen. Rund 50 Prozent unserer Exporte gehen in die Europäische Gemeinschaft. Und jeder, der darüber klagt, daß die Bundesrepublik etwa zuviel dorthin zahlen würde, soll daran denken, wieviel Arbeitsplätze in der Bundesrepublik Deutschland von der Europäischen Gemeinschaft abhängen.

Aber wir Deutsche brauchen Europa noch in einem ganz anderen, viel tieferen historisch bedingten Sinne. Wir sind ein geteiltes Land, und Sie haben die Präambel unseres Grundgesetzes eben hier vorgetragen, Herr Oberbürgermeister. Wir finden uns mit der Teilung unseres Vaterlandes nicht ab. Wir wissen, daß die Frage der Einheit unserer Nation gegenwärtig nicht auf der Tagesordnung der Weltpolitik steht. Wir wissen, daß wir dieses Ziel nur erreichen können mit friedlichen Mitteln. Denn Krieg und Gewalt ist für uns kein Mittel der Politik. Diese Lektion der Geschichte haben wir längst begriffen.

Aber, meine Damen und Herren, wir wissen auch, daß es kein Zurück gibt in den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts, daß die Zukunft der Einheit unserer Nation nur denkbar ist unter einem europäischen Dach, daß der Dreiklang heißen muß: Deutschland, Vaterland und Europa. Es gibt keine Alternative zu Europa.

Meine Damen und Herren, ich bin zuversichtlich, daß wir uns in den aktuellen Fragen einigen werden. Das setzt allerdings voraus, daß kein Mitgliedsland seine Forderungen, so verständlich sie ihm politisch auch sein mögen, vor den Bestand und vor den Ausbau der Gemeinschaft stellt. Alle müssen aufeinander zugehen.

Für uns, die Deutschen, ergibt sich aus dem Datum der Wahl zum Europäischen Parlament, dem 17. Juni, dem Tag der deutschen Einheit, eine besondere Verpflichtung.

Es ist nicht nur das Europäische Parlament, das wir an diesem Tag wählen, es ist auch die Erinnerung an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Und es ist die geschichtliche Pflicht derer in unserem Volk, die die Chance haben und das Glück, im freien Teil unseres Vaterlandes leben zu können, leben zu dürfen, daß sie an diesem Tag zur Wahl gehen, auch in der Erinnerung daran, daß Millionen unserer Landsleute drüben in Weimar, in Eisenach, in Leipzig oder in Dresden viel dafür geben würden, wenn sie einmal in der Spanne ihres Lebens in einer freien, geheimen und direkten Wahl ihre Abgeordneten wählen könnten.

Wir wollen mit dieser Wahl unseren Beitrag leisten, um das Europäische Parlament zu stärken, ihm mehr Zuständigkeiten und Kompetenzen zuzuweisen. Wir wollen mit dieser Wahl zum Ausdruck bringen, daß das frei gewählte Parlament im freien Teil Europas der Kristallisationspunkt des Bauens der Vereinigten Staaten von Europa sein muß.

Als König Juan Carlos von Spanien, als Sie, Majestät, vor zwei Jahren den Karlspreis der Stadt Aachen entgegennahmen, sagten Sie: "die Länder Europas sind Teil eines Ganzen, das wichtiger ist als jedes einzelne für sich allein." Diese Einsicht ist die Voraussetzung für jeden Fortschritt in der Gemeinschaft. Wir müssen, wir werden ihr gemeinsam folgen.

In diesem Geist, bin ich sicher, wird auch Spanien am 1. Januar 1986 dann einer im inneren und auch nach außen gestärkten Gemeinschaft beitreten können.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich schließen mit den Worten, die vor 30 Jahren von dieser Stelle aus Konrad Adenauer unseren Bürgern zurief, jene eindringliche Mahnung, die auch heute an Aktualität nichts verloren hat. Er sagte: "Tragen Sie alle dazu bei, daß der Europagedanke eine Volksbewegung bleibt und nicht mehr erlahmt. Wirken Sie durch eine kräftige europäische öffentliche Meinung auf die Politiker, Parlamentarier und auf die Regierungen ein. Wir sichern damit unsere eigene Zukunft."

Hier an dieser ehrwürdigen Stelle im Rathaus zu Aachen versteht jeder im Blick auf die Geschichte dieses Jahrhunderts diese Mahnung. Das Schicksal, die Zukunft ist heute in unsere Hände gegeben.

Ich rufe von hier aus alle unsere Landsleute und alle unsere Freunde in Europa über die Grenzen hinweg auf, sich aufzumachen ohne zeitlichen Verzug, mit Mut und Entschiedenheit und mit Klugheit zugleich, zum Bau der Vereinigten Staaten von Europa.