Die glänzende Reihe der Karlspreisträger wird heute um einen bedeutenden Namen bereichert. Im Auftrag und im Namen der Bundesregierung sage ich dem diesjährigen Träger der Auszeichnung unsere herzlichsten Glückwünsche. Wir grüßen bei dieser Gelegenheit hier und in die Ferne die anderen Träger des internationalen Karlspreis der Stadt Aachen und alle diejenigen, deren Sorge, Mühe, Arbeit, Begeisterung und Hoffnung in den vergangen Jahren der Einigung Europas gegolten hat und heute gilt. Diesen Bemühungen, Gedanken und Gefühlen zollen wir die Dankbarkeit und Bewunderung, die sie wahrhaft verdienen.
Mich selbst erfüllt die heutige Auszeichnung des hervorragenden niederländischen Politikers mit tiefer Befriedigung. Sie ist für uns alle gleichzeitig ein erneutes Zeugnis für den deutschen Willen, den Beziehungen zu unserem niederländischen Nachbarvolk ein und für allemal eine solide, dauerhafte und vertrauensvolle Grundlage zu sichern.
Wie manches Gespräch, verehrter Herr Kollege Luns, das wir in den vergangenen Jahren miteinander geführt haben, ist von diesem Willen getragen gewesen, ein Vertrauen wiederherzustellen, mit dem allein sich die Zukunft meistern lassen wird.
Die geschichtsträchtige Stadt Aachen ruft uns in die Erinnerung, wie glücklich sich die Anwohner des Rheines gefühlt haben, wenn es ihnen vergönnt war, in einer europäischen Gemeinsamkeit zu leben. Wir haben diese Einheit nie so verstanden, als ginge es nur darum, Größeres und Mächtigeres zu schaffen. So bedeutend das Wirtschaftsgebiet des Gemeinsamen Marktes sein mag, Sinn und Ziel vieler geduldiger Anstrengungen müssen darüber hinaus auf die Erfüllung politischer Absichten ausgerichtet sein. Wir könnten uns anderenfalls mit den ausgezeichneten wirtschaftlichen Beziehungen zwischen unseren beiden Staaten begnügen und uns darauf beschränken, hier und da eine noch nicht ausgenutzte Gelegenheit weiter auszuschöpfen und auszubauen. In einem solchen Zusammenhang jedoch würde der Dialog zwischen Niederländern und Deutschen verkümmern und nicht die Früchte für Europa erbringen, die von unserem beiderseitigen Unternehmungsgeist, unserem Wagemut und unserem Reichtum an Phantasie erwartet werden können.
Von den Ufern des Rheines und von seiner Mündung aus in alle Welt hinein hat sich dieser offene Geist über ein Jahrtausend hin als ein belebendes Element erwiesen, nicht zuletzt auch in der Neuen Welt. Und so, wie er zuvor seine Begegnung mit der lateinischen Kultur und Zivilisation erfahren hatte, so begegnete er auch neuen Kulturen in vielen Bereichen dieser weiten Welt. Aber unser heutiges Denken ist nicht von sentimentalen Erinnerungen an Epochen großer und weltweiter Machtentfaltung bestimmt. Solche Machtentfaltung findet heute in ganz anderen Bereichen der technischen Zivilisation statt. So wird uns heute aufgetragen, der Gemeinschaft unseres Handels und Denkens, unseres Arbeitens und Forschens wieder die Vorrangigkeit zu geben, die unsere Gesittung, die unsere Tradition von uns verlangen.
Europa ist nicht etwa die große Unbekannte der Zukunft; Europa ist vielmehr die geistige und geschichtliche Einheit, in der wir alle unseren Ursprung haben und zu der wir zurückfinden wollen, weil wir sie gerade in der sich entfaltenden modernen Welt als ein zukunftsträchtiges Element unserer Politik, das heißt unsere gemeinsamen Gestaltungsmöglichkeiten begreifen. Sie haben einmal, verehrter Kollege Luns, die heutige wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa mit den geschichtlichen Verdiensten der Hanse verglichen. In diesem Vergleich wurde deutlich, wie wenig begrenzt und eingeengt durch nationale Ambitionen diese weltweiten Bestrebungen einmal waren und wie sehr sie sich vornehmlich auf den allgemeinen Fortschritt der Menschheit ausgerichtet haben.
Dieses Gefühl der Zugehörigkeit zu einer kulturellen und geschichtlichen Einheit Europas hat lange angehalten. Es war dann zurückgetreten. In unserer Zeit jedoch hat es sich zu einer bedeutenden Aktivität neu entfacht. Diese Aktivität ist hier in Aachen in großen unvergeßlichen Akteuren der jüngsten Geschichte sichtbar gemacht und ausgezeichnet worden. Der neue Preisträger gehört zu diesen Männern, die am Baue eines dauerhaften europäischen Hauses mitgewirkt haben. Ich weiß das aus persönlichem Miterleben und vielen Beratungen und Verhandlungen in den europäischen Körperschaften. Seit fünfzehn Jahren gehört unser heutiger Preisträger ohne Unterbrechung der Regierung seines Landes an; seit elf Jahren zeichnet er verantwortlich für die niederländische Außenpolitik – geschickt, phantasievoll und mit unerschöpflichem Humor, der in den Konzerten der Konferenzen so wohltuend und entspannend ist.
Sein Name ist in besonderer Weise mit der großen Aufgabe verbunden, auch Großbritannien zum Mitglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu machen. Wer wollte übersehen, daß wir diesem so wichtigen Ziel beständig nähergekommen sind und daß heute die Gefahr neuer Gräben und Teilungen in Europa geringer geworden ist, wenn auch weiterhin von uns allen Beharrlichkeit und Geduld erwartet werden müssen. Wir hoffen auf den gerade eingeleiteten neuen Anlauf, den wir auf das Wärmste begrüßen. Wir hoffen auf eine gemeinsame Anstrengung aller Beteiligten, um die europäische Verantwortlichkeit auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet zu überdenken und zu fördern. Und wenn wir dies sagen, richtet sich unser Blick nicht nur nach Westen und Norden, sondern auch nach Osten. Stunden, wie diese, sind dazu angetan, sich der Unausweichlichkeit Europas bewußt zu werden. Sie geben uns das beglückende Gefühl, vom Warten und Erwarten zum Tun übergehen zu können.
In diesem Sinne spreche ich dem neuen Träger des Karlspreises die herzlichsten Glückwünsche der Bundesregierung und zugleich meine eigenen aus. Ich bin überzeugt, daß gerade Joseph Luns für die neue europäische Wirklichkeit, die sich uns gerade heute wieder als Aufgabe so gebieterisch darbietet, seine besten Kräfte einsetzen wird, - und zwar, wie wir überzeugt sind, mit weiter wachsendem Erfolg.