Sie haben schon gehört, daß heute vor zehn Jahren die Aachener Gesellschaft zur Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachenzum ersten Male mit der Preisverleihung an den Grafen Coudenhove-Kalergi an die Öffentlichkeit trat. Gestatten Sie aus Anlaß dieses Tages, der aus der Geschichte der Stadt Aachen wie auch der europäischen Bewegung nicht wegzudenken ist, ein kurzes Wort der Erinnerung und der Wegweisung für unsere weitere Arbeit. Wir Alten hatten den ersten Weltkrieg erlebt und seine erschütternde Wirkung für die Bedeutung Europas in der Welt. Die nach ihm einsetzende pan-europäische Bewegung Coudenhoves konnte sich nicht entscheidend durchsetzen. Das Aufkommen des Nationalsozialismus zerschlug die letzten europäischen Einigungsmöglichkeiten nicht nur, sondern gab unserem alten Kontinent durch die frivole Entfachung des zweiten Weltkrieges geradezu den Todesstoß.
Not, Elend, Hoffnungslosigkeit - das war die Charakteristik der ersten Nachkriegsjahre. Aber der europäische Geist war nicht tot. Der durch den Osten bedrohte Wille zur Freiheit erhob sich in der sofort einsetzenden zweiten europäischen Bewegung. Ein ?einiges föderalistisches Europa?, das war der große Weckruf, um den alle diejenigen sich sammelten, die trotz aller politischen und wirtschaftlichen Not den Glauben an eine neue Zukunft der europäischen Völker nicht aufgegeben hatten. In dieser Stunde, gegen Ende des Jahres 1949, schlug unser Mitbürger, Dr. Kurt Pfeiffer, vor, jährlich zur Förderung der europäischen Bewegung einen Preis zu stiften, der an einen verdienten europäischen Staatsmann oder Propagandisten verliehen werden sollte. Es bildete sich ein zwölfköpfiges Kuratorium aus den führenden Kreisen der Stadt, das unabhängig von Parteien und Regierungen den Karlspreis verleihen und zur europäischen Frage Stellung nehmen sollte. Meist am Himmelfahrtstag abgehalten, sollten diese Preisverleihungen für Europa wecken und werben. Inzwischen ist dieser Karlspreis achtmal verliehen worden und, wenn wir die Adresse an Marshall mitrechnen, neunmal. Die Stadt Aachen war auf Grund ihrer tausendjährigen europäischen Tradition für diesen Karlspreis prädestiniert und qualifiziert. Sie nahm den Gedanken begeistert auf und wurde im In- und Ausland verstanden. Die Preisträger sind uns noch alle in bester Erinnerung. Von Coudenhove angefangen über Brugmans, den Schöpfer des europäischen Kollegs in Brügge, das junge Akademiker in die europäischen Probleme einführt, über die Staatsmänner de Gasperi und Adenauer, den Erfinder des Schuman-Planes Monet, über Churchill und Spaak, über Schuman, der mit Adenauer die deutsch-französische Freundschaft begründet und damit die Voraussetzung für jede europäische Einigung schuf, bis zu unserem heutigen Preisträger, Präsident Bech aus unserem lieben Nachbarlande Luxemburg. Zu diesen Männern haben Ungezählte in Europa gläubig aufgeblickt. Diese Männer haben Wege in die Zukunft gewiesen und unsere Verehrung und Dankbarkeit wird nicht verblassen, was auch immer aus der europäischen Bewegung werden wird.
Im ersten Elan und Enthusiasmus gingen unsere Hoffnungen, Sie haben es von Herrn Oberbürgermeister Heusch schon gehört, sehr hoch. Die europäische Bewegung, von der unsere Karlspreisgesellschaft ja nur ein bescheidener Teil war, hatte immerhin Erfolge. Die Schwierigkeiten an den Grenzen milderten sich, der Verkehr zwischen den Völkern nahm zu, Geldumtausch und Umwechslung der Währungen war wieder möglich und als die bedeutendste politische Leistung entstand die Montanunion als erste europäische Behörde. Unsere Hoffnungen stiegen!? Doch die europäische Verteidigungsgemeinschaft kam nicht und das brachte der Bewegung einen schweren Rückschlag. Die Not der ersten Nachkriegsjahre hatte inzwischen abgenommen. Es war die Schwäche der europäischen Bewegung, daß sie von einer zu geringen Eliteschicht der in Betracht kommenden Völker vorwärts getragen wurde. Zu kühn war auch offenbar der Gedanke, im ersten Anlauf die Burgen des Nationalismus zu nehmen. Das geistige Trägheitsgesetz wirkte sich aus. Manche meinten, es ging auch ohne einiges Europa. Die ?Souveränität?, die ach so süße, wollte man doch nicht fahren lassen. Selbst wenn sie angesichts der erdrückenden Übermacht der beiden großen außereuropäischen Weltmächte nur noch zu einer problematischen Einbildung wurde. So ist denn das letzte Ziel der europäischen Bewegung, die überlebte nationalstaatliche Ordnung Europas durch einen umfassenden Bundesstaat zu ersetzen, noch nicht erreicht wurde.
Für die europäischen Völker gibt es aber keine Alternative. Auch im zweiten Jahrzehnt des Karlspreises besteht die russische Drohung sogar mit wachsender Brutalität weiter. Der wirtschaftliche Wettbewerb der großen Imperien geht verschärft weiter und geistig ist das, was Europa groß gemacht hat, Antike und Christentum, durch den militanten Kommunismus bedrohter denn je. So heißt denn die Parole für das zweite Jahrzehnt der europäischen Bewegung: Nicht müde werden. Vielleicht war es besser so, daß nicht in einem Zuge der volle Erfolg kam. So große Dinge, wie die Vereinigten Staaten von Europa nach Jahrhunderten gegensätzlicher Politik der Europäer brauchen ihre Zeit zur Reife. Man kann sie nicht billig haben. Sie sind auch nicht erreichbar ohne Opfer. ?Wer Omelette essen will?, sagt treffend unser holländischer Freund Mozer, muß erst Eier in die Pfanne schlagen!? Und doch sind wir guter Hoffnung. Es liegt in der europäischen Bewegung eine eigene Dynamik. Wir erleben immer, wenn Rückschläge kommen, daß sie trotzdem nach einiger Zeit weitergeht. Der Nationalismus ist überlebt und der europäische Markt ist eine Lebensnotwendigkeit.
Aber Gott sei Dank haben wir eine mächtige Hilfe in der modernen Entwicklung des Reiseverkehrs. Was wußten wir denn bisher von unseren Nachbarn? Was sind wir doch eingebildet und überheblich erzogen worden. Jetzt quellen die Völker, insbesondere die Jugend, zu Hunderttausenden über die Grenzen. Sie sehen, was die Nachbarvölker Großes geschaffen haben in der Baukunst, in der Malerei, in der Plastik, aber auch in der Wirtschaft. Die nationale Überheblichkeit wird abnehmen und die Achtung vor der Leistung der anderen europäischen Völker wird zunehmen. Die Völker werden lernen, sich nicht nur zu achten, sondern auch zu lieben.
Halten wir im kommenden Jahrzehnt das Ziel, den föderalistischen europäischen Staat, fest im Auge. Europa muß mehr sein als nur ein freundschaftliches Nebeneinander selbständiger Regierungen. Europa muß auch mehr sein als ein ?Staatenbund?. Der Unterschied zwischen einem Staatenbund und einem Bundesstaat ist ungeheuer. Der deutsche Bund des Wiener Kongresses von 1815 hat nicht verhindern können, daß seine Mitglieder 40 Jahre später in einem blutigen Kriege standen. Nur der europäische Staat löst die europäische Frage. Wenn er kommt, wird es ein neues Zeitalter der Blüte für die europäischen Völker geben. Kommt er nicht, droht uns das Schicksal des alternden Griechenland, nur noch Kulturdünger für die weite Welt zu werden. Wir freuen uns, daß die Bemühungen um den gemeinsamen Markt Fortschritte machen und daß der Gedanke des direkt gewählten europäischen Parlaments allmählich Gestalt annimmt. Wir wünschen alle dringend, daß die Türen offen bleiben für alle, die mitgehen wollen, besonders in der Frage des gemeinsamen Marktes. Aber eines Tages wird es heißen müssen, wer mitgeht ist willkommen, und wer nicht will, der bleibt eben draußen. Noch hindern die Schlagbäume den freien Verkehr der Völker. Noch halten die Züge stundenlang an den Grenzen, bis alle sogenannten Formalitäten erledigt sind. Noch halten die Schlangen von Tausenden von Automobilen stundenlang mit schimpfenden Insassen, bis drei, vier starke Männer kommen und durch den erlösenden Blick auf unseren Ausweis die Weiterfahrt weitergeben. Wann kommt der europäische Personalausweis? Wann kommt die europäische Währung? Wann kommt die europäische Briefmarke? An gewissen Stellen in Europa hat man nach einer Stunde Autofahrt drei Währungen in der Tasche! Das Flugzeug hat inzwischen in zehn Minuten den halben Kontinent überquert. Welch blutiger Anachronismus herrscht noch immer. Aber es erben sich eben nicht nur Gesetz und Rechte, sondern auch Grenzen wie eine ewige Krankheit fort.
Es bleibt also noch zu tun und die Aachener Karlpreisstiftung wird in den kommenden zehn Jahren weiter an ihren Zielen arbeiten. Wir danken allen Mitbürgern, die uns in den vergangenen Jahren geistig und materiell unterstützt haben. Wir Ältere werden die Verwirklichung des europäischen Ideals wohl nicht mehr erleben. Wir werden wie Moses das gelobte Land nur aus der Ferne schauen dürfen. Aber unsere Jugend, die wird es schaffen müssen. Es ist aller Anerkennung wert, was die Europa-Union, der ich viele neue Mitglieder wünsche, durch unseren Mitbürger, Dr. Ullrich, in den Schulen für die Weckung des europäischen Bewußtseins leistet. Die europäische Bewegung muß in die Tiefe und in die Breite wachsen. Sie muß auch die Länder zu erfassen versuchen, die noch nicht wissen, was die Uhr geschlagen hat und die nicht wissen, wo sie stehen müssen. Diese Arbeit wird nicht vergeblich sein. Es wird kommen der Tag, da die deutsche Jugend einig ist in dem Rufe: ?Deutschland unsere Heimat, Europa unser Vaterland!?