Das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachenhat im Jahre 1959 dem Amerikaner George C. Marshall, dem es sein Gesundheitszustand verwehrte, zur Entgegennahme des Preises den Ozean zu überqueren, dessen Plakette am Krankenbett überreichen lassen. Marshalls Name wird fortleben in der Geschichte Europas, weil mit ihm jene großartige Hilfsaktion der Vereinigten Staaten von Amerika verbunden ist, die dazu bestimmt war, aus den Ruinenfeldern unseres vom Kriege grausam zerschundenen Kontinents neues Leben zu erwecken. Der Wirtschaft von Siegern und Besiegten sollte mit der bewundernswerten Kraftanstrengung der Amerikaner, die auf diesem Wege in Dreijahresfrist dreizehn Milliarden Dollar an Beihilfen gewährten, eine Initialzündung gegeben werden. Mit dem Wiederaufleben der europäischen Wirtschaft wurde erst die Basis geschaffen für die Einigungsbestrebungen, deren erster Erfolg wenig später im Schumanplan sichtbar wurde. Das Andenken an George C. Marschall, Träger des Friedensnobelpreises, der die Verleihung der Plakette des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen nur wenige Monate überlebte, wird für die Völker Europas in Ehren fortleben in Erinnerung an eine aus nobler Haltung hervorgegangene Handlung staatsmännischer Weisheit.
Heute haben wir eine große Zahl von Gästen hierher gebeten, um der feierlichen Übergabe des Karlspreises an den luxemburgischen Kammerpräsidenten, Herrn Ehrenstaatsminister Joseph Bech, beizuwohnen. So gilt denn auch der erste Willkommensgruß, den ich im Namen der Stadt Aachen auszusprechen mir gestatte, unserem Preisträger Herrn Präsidenten Bech. Neben ihm sind uns besonders willkommen die hier anwesenden Karlspreisträger früherer Jahre:
Der Karlspreisträger 1951, Professor Henri Brugmans, und der Karlspreisträger 1958, Robert Schuman.
Es bedeutet eine besondere Erhöhung der Würde dieses Tages, daß Seine Königliche Hoheit Prinz Charles von Luxemburg unserer Feierstunde durch seine Anwesenheit beehrt. Wir bedanken uns für die hohe Ehre, die uns durch ihre Anwesenheit erweisen. Ihre Exzellenzen, die Herren Botschafter von Luxemburg, Schweden, Großbritannien, Türkei, Frankreich, den Niederlanden, Portugal, Griechenland und Belgien, die Herren Botschafter von Italien und Kanada - Italien vertreten durch den Geschäftsträger und Kanada vertreten durch den Botschaftsrat -, sowie die Herren Generalkonsuln von Belgien, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, Italien, Luxemburg und Österreich, der Herr Präsident der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Professor Dr. Hallstein, der Herr Präsident der Kommission der Europäischen Atomgemeinschaft, Etienne Hirsch, und das Mitglied der gleichen Kommission, Herr Botschafter Krekeler, das Mitglied der Hohen Behörde der Montanunion, Herr Wehrer, der Richter am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Herr Professor Dr. Riese.
Sehr erfreut sind wir über die Anwesenheit mehrerer Mitglieder der Regierung des Großherzogtums Luxemburg, und zwar des Herrn Ministerpräsidenten Pierre Werner, des Herrn Außenministers Eugène Schaus, des Herrn Innenministers Pierre Gregoire sowie hervorragender Vertreter des luxemburgischen Parlaments, der Verwaltung und der Wirtschaft des Großherzogtums. Herzlich willkommen heiße ich die hier anwesenden Mitglieder der deutschen Bundesregierung: Herrn Bundesfinanzminister Etzel und Herrn Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, Ernst Lemmer, die Herren Staatssekretäre Dr. Globke, v. Scherpenberg, Thedieck und Dr. Busch, den Herrn Botschafter der Bundesrepublik in Luxemburg, Dr. Mumm v. Schwarzenstein.
Mit der gleichen Freude begrüße ich den Herrn Präsidenten des Landtages von Nordrhein-Westfalen, Johnen, von der Landesregierung Nordrhein-Westfalen, Herrn Ministerpräsidenten Dr. Meyers und Herrn Minister Ernst, Se. Exzellenz den Herrn Bischof von Aachen, Dr. Pohlschneider, den Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes, Herrn Dr. Weitz, den Präsidenten der Europa-Union Deutschland, Frhrn. v. Oppenheim, den Gouverneur der Provinz Lüttich, Herrn Clerdent, und den Gouverneur der belgischen Provinz Limburg, Herrn Roppe, sowie den Vizepräsidenten des Deutschen Rats der Europäischen Bewegung, Herrn Dr. Pünder. Ich begrüße ferner die anwesenden Mitglieder des Bundestages und des Landtages von Nordrhein-Westfalen sowie alle anderen Gäste unserer heutigen Feierstunde.
In diesem Monat jährt sich die erste Karlspreisverleihung zum zehnten Male; was wäre natürlicher, als an diesem Tage unseren Standort mit dem damaligen zu vergleichen? Erfüllt von den bitteren Lehren der jüngsten Vergangenheit, deren verheerende Spuren das Bild dieser Stadt prägten, glaubten Aachener Bürger aus der europäischen Tradition des Ortes heraus, den Notwendigkeiten der Gegenwart, der Einigung der Völker Europas, einen besonderen Beitrag zu schulden. In diesem Saal ohne Fußboden und ohne Gewölbe mit freiem Blick in ein Behelfsdach wurde Graf Richard Coudenhove-Kalergi, der bewährte Streiter für Europas Einheit, am Himmelfahrtstage 1950 mit dem neu geschaffenen Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen ausgezeichnet. Angesichts der brutalen Zerstörung, die sich an einem der ehrwürdigsten Denkmäler europäischer Geschichte vergriffen hatte, bedurfte es kaum einer näheren Begründung der Notwendigkeit, nun ein für alle Male Schluß zu machen mit dem Streit der viel zu klein gewordenen Staaten Europas untereinander. Ein großartiger Optimismus griff allenthalben Platz und verführte manchen zu dem voreiligen Schluß, daß der Wunsch schon bald Wirklichkeit werde, Graf Coudenhove-Kalergi, der Karlspreisträger, würdigte die Bedeutung des in den gleichen Tagen proklamierten Schuman-Planes und man glaubte nur zu gerne, daß nun ein Schritt dem anderen in schnellem Tempo folgen werde. Nach zehn Jahren sind die Schäden des Bauwerks zum größten Teile beseitigt, die Gewölbe sind geschlossen und manches präsentiert sich vielleicht noch schöner als es vor der Zerstörung gewesen ist.
Man sieht nicht mehr die Schäden, die die Kriegsfurie angerichtet, nach der bitteren, materillen Not der ersten Jahre hat die glückliche Entwicklung der Wirtschaft überall den Wohlstand gefördert. Der Mensch ist von Natur aus geneigt, unangenehme Dinge zu vergessen und der, dem es gut geht, zerbricht sich den Kopf darüber, wie er es wohl erreichen kann, daß es ihm morgen noch besser gehe. Es wäre wohl ungerecht, wollte man die großen und wichtigen Fortschritte unerwähnt lassen, die auf dem Wege zur Einigung Europas inzwischen gemacht wurden. Die Verträge über den Gemeinsamen Markt und die Atomgemeinschaft schufen neben der Montanunion supranationale Zusammenschlüsse, deren Wirkungsmöglichkeiten während der vorgesehenen Übergangsperioden von Jahr zu Jahr an Gewicht zunehmen. Dazu kommen die aus den nationalen Parlamenten beschickten Körperschaften und die von den beteiligten Regierungen gebildeten Ministerräte. Wenn auch der Wert regelmäßiger Kontakte der maßgebenden Parlamentarier und Minister nicht verkannt werden soll, so ist die Funktionsfähigkeit dieser Gremien doch sehr beschränkt, da die Ergebnisse ihrer Beratungen in jedem Fall der positiven Mitarbeit der nationalen Parlamente und Regierungen bedürfen.
"Der klar umrissene Wille dieses europäischen Parlaments muß sich schon jetzt durchsetzen", schrieb vor wenigen Tagen dessen Präsident, Professor Hans Furler. Wir haben gewiß die Hoffnung, daß die erkannte Notwendigkeit des Zusammenwachsens weitere Fortschritte bringen wird. Wir wissen auch, daß die bestehenden Verträge immer neue Fakten schaffen, die aus sich selbst heraus wirken. Trotzdem erfüllt es uns mit Sorge, daß noch allzuviele abseits stehen, es stehen Länder abseits, die vor lauter "Wenn" und "Aber" glauben, der engeren Gemeinschaft der Sechs fernbleiben zu müssen, es stehen aber auch innerhalb dieser sechs Länder noch manche abseits, denen es schon wieder so gut geht, daß sie nicht mehr einsehen, daß national-egoistische Überlegungen uns nunmehr den Rückschritt ausliefern können. Die vor zehn Jahren gegebene kraftvolle und vorwärtsdrängende Begeisterung ist bei vielen einem müden Skeptizismus gewichen. Frankreich wird stark in Anspruch genommen durch die Probleme, die ihm der afrikanische Raum aufgibt, den Deutschen steht die schmerzliche Tatsache der Grenze der Unfreiheit, die mitten durch ihr Land geht, täglich vor Augen und auch den anderen Partner fehlt es nicht an speziellen Sorgen.
Und dennoch! Dennoch ist nur die größere Gemeinschaft imstande, die immer wachsenden Aufgaben zu meistern! Dennoch müssen wir auch auf wirtschaftlichem Gebiet hier und da Opfer bringen, wenn uns die Möglichkeiten des größeren Marktes, der billigeren Produktion am günstigsten Standort nicht vorenthalten bleiben sollen. Dennoch werden wir zu gemeinsamen politischen Institutionen, unabhängig von den nationalen Parlamenten und Regierungen kommen müssen, wenn wir nicht zwischen den großen Machtblöcken zerrieben werden wollen. Unsere Zeit fordert gebieterisch mehr als eine lose Gemeinschaft selbständiger Staaten, unsere Zeit fordert den europäischen Bundesstaat. Heute ist die politische und wirtschaftliche Eigenständigkeit der europäischen Staaten ebenso überholt, wie dies im vergangenen Jahrhundert für die Vielzahl von Territorien auf deutschem Boden galt. Die Entwicklung ist über sie hinweggeschritten. In unserer Zeit haben wir manchmal das Gefühl, daß der Hang zur wissenschaftlichen Erforschung aller denkbaren Möglichkeiten, die sich aus einem entschlossenen Handeln ergeben könnten, uns vom wesentlichen, vom großen Ziel ablenkt. Diese Erkenntnis ist es, die jeden von uns anfeuern sollte, gegen alle Müdigkeit anzugehen. Wie kurzsichtig ist doch die Auffassung, die momentan zweifellos überall vorherrschende günstige Wirtschaftslage könne uns auf die Dauer erhalten werden, wenn wir nicht an die Erfordernisse von morgen denken. Die Lehren der ersten Nachkriegszeit haben kein Jota von ihrer Geltung eingebüßt, wenn auch heute nicht mehr die drängende Not aus allen Luken hervorschaut. Darum sind auch die Gedanken derjenigen, die 1950 den Karlspreis schufen, noch ebenso gültig wie sie damals waren, und wir könnten nicht vor uns selbst und der Welt bestehen, wenn wir nachlassen würden in dem Bemühen, in dieser Stunde Jahr für Jahr von dieser ehrwürdigen Stätte europäischer Geschichte den Ruf nach Europas Einheit laut und vernehmlich erschallen zu lassen.
Heute soll ein Bürger des Großherzogtums Luxemburg in diesem Hause zu den Ehren des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen gelangen; dies reizt zu einem historischen Rückblick. Die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts erlebte den Übergang des Karolingischen Palatiums aus königlichem Besitz in das Eigentum der Stadt Aachen, die dessen baufällig gewordene Teile abtrug und auf seinen Grundmauern das heutige Rathaus errichtete. Vielleicht ist die Königskrönung Heinrichs VII., des ersten Kaisers aus dem Hause der Luxemburger des von Dante stürmisch begrüßten Retters, der wenige Jahre später in Buenconvento nahe Siena der Pest erlag, die letzte festliche Veranstaltung im alten Bau gewesen. Das neue Haus der Bürger sollte in seiner baulichen Gestaltung auch dazu geeignet sein, einen würdigen Rahmen der weltlichen Feier der deutschen Königskrönungen abzugeben. Vornehmlich diesem Zweck sollte der ehrwürdige Raum dienen, in dem wir uns zur Stunde befinden. Die Fertigstellung des Bauwerks datiert um das Jahr 1350. Im Jahre 1349 sah Aachen den festlichen Einzug Karls IV. Aus dem Hause der Luxemburger, dessen Krönung am 25. Juli in der Münsterkirche stattfand. In der langen Reihe der in dieser Stadt Gekrönten hat es nur wenige gegeben, die der Krönungsstadt ihr Wohlwollen in gleichem Maße zugewandt haben, wie er. In Verehrung karolingischer Tradition überhäufte er Karls Lieblingsresidenz Aachen, in der er sich häufig aufhielt, mit Wohltaten. Besondere Bedeutung hat davon die von ihm erlassene "Goldene Bulle", die Aachen in Fortführung einer schon mehr als 400jährigen Übung "für alle Zeiten" zur Krönungsstadt bestimmte. Karls Bruder, der in den Herzogstand erhobene Wenzel von Luxemburg, schloß im Jahre 1360, also vor genau 600 Jahren, als Herzog von Limburg ein Bündnis mit der Freien Reichsstadt Aachen. Schon im neunten Jahrhundert war Aachen mit Luxemburg zusammen im lotharingischen Staatsverband vereint. Die Lage der beiden Territorien im Herzen dieses europäischen Stammlandes zwischen Maas und Rhein hat bewirkt, daß die Menschen dort wie hier während vieler Jahrhunderte die unseligen Ereignisse am eigenen Leib verspürt haben, die aus der Uneinigkeit europäischer Dynastien und Völker hervorgingen. Der Lothringer Robert Schuman, Karlspreisträger des Jahres 1958, und der Luxemburger Joseph Bech, Karlspreisträger des Jahres 1960, haben insofern sehr vieles gemeinsam mit den Bürgern dieser Stadt, deren Einsichten stark geprägt sind von dem Miterleben geschichtlicher Katastrophen.
Karl IV. stiftete der Aachener Münsterkirche als Schädel-Reliquiar jene kunstvolle Büste Karls des Großen, deren Haupt seit jenen Tagen die silberne Krone schmückt, mit der er wohl selbst im Jahre 1349 gekrönt wurde. Diese Büste seines kaiserlichen Ahnherren und Leitbildes, des Schöpfers der seitdem verlorenen Reichseinheit im abendländischen Europa, ließ der Luxemburger mit den vereinten heraldischen Symbolen zieren, die sich für die beiden Nachfolgereiche durchgesetzt hatten: das goldene Gewand des Kaisers mit schwarzen Reichsadlern, die emaillierte Schauseite des Untersatzes mit den goldenen Linien von Valois auf blauem Grunde. So überwand die Heraldik den tragischen Dualismus zwischen West- und Ostreich, noch ehe er seine schlimmsten Früchte zeitigte. In Karls IV. Regierungszeit, und wohl nicht ohne seine Mitwirkung, reifte auch der Entschluß des Stiftskapitels, dem karolingischen Oktagon eine große Chorhalle im Stil der Zeit anzufügen, jenes kühne Bauwerk der Gotik, das in seiner musterhaften Gestaltung heute noch unsere ganze Bewunderung findet. Auch Karls IV. Söhne Wenzel und Sigismund wurden hier zu Königen gekrönt. Mit ihnen findet die Reihe der luxemburger Kaiser ihren Abschluß. Die Erinnerung an die beiden Letztgenannten lebt heute noch durch ihre Portraitdarstellung auf dem den böhmischen Aachenpilgern dienenden Wenzelaltar in der Münsterkirche fort. Von 1443 - 1818 hat Luxemburg unter der Herrschaft Burgunds, Spaniens, Frankreichs, Österreichs und wieder Frankreichs gestanden, bis dann der Wiener Kongreß das Großherzogtum schuf. Diese nüchterne Aufzählung macht deutlich, wie sehr der Raum zwischen Rhein und Maas im Mittelpunkt wechselvollen Geschehens gestanden hat.
Mir ist es am heutigen Tage aufgegeben, ein Wort über den Politiker und Staatsmann europäischen Formats und auch über den Menschen Joseph Bech zu sagen. Möge der Mensch Joseph Bech, von dem wir wissen, daß dies seiner Bescheidenheit widerspricht, es mir nicht verargen. Schon in jungen Jahren spürte er die Verpflichtung, die ein demokratisches Staatswesen verantwortungsbewußten Menschen auferlegt. Mit 29 Jahren wurde der aus Diekirch stammende Rechtsanwalt im Jahre 1916 Mitglied der Abgeordnetenkammer. Dahin entsandte ihn das Vertrauen der Wähler des Mosel- und Sauergebietes, die ihm in den seither vergangenen 44 Jahren die Treue bewahrt haben. Schon im Jahre 1921 rückte er in die Regierung des Landes ein, der er bis zum Jahre 1959 angehört hat. Das zunächst verwaltete Portefeuille des Unterrichtsministeriums ergänzte er 1926 durch die Übernahme der Ressorts der Auswärtigen Angelegenheiten, des Ackerbaus und des Weinbaus. Lange Zeit hindurch bekleidete er auch das Amt des Ministerpräsidenten. Ununterbrochen beibehalten hat er von 1926 - 1959 das Außenministerium sowie das Ackerbau- und Weinbauministerium. Diese letztere Funktion, die mit den speziellen Anliegen seines Wahlkreises in engem Zusammenhang stand, hat in Joseph Bech's Wirken besondere Bedeutung. Seiner Fachkunde ist es zu danken, daß durch planmäßig durchgeführte Meliorationsarbeiten der früher unbekannte Luxemburger Wein, der fast nur als Verschnitt verwand wurde, zu internationalem Ansehen emporstieg und heute vom Kenner hochgeschätzt wird.
Gleich dem Ministerium für Ackerbau und Weinbau hat Joseph Bech auch das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten während 33 Jahren geführt. 1926 bis 1959 - verdeutlichen wir uns den Ablauf der Geschichte in dieser Zeitspanne, so wird uns auch das ganze Gewicht der Arbeit und der Sorgen des für die Außenpolitik eines im Herzen Europas gelegenen Landes verantwortlichen Staatsmannes bewußt.
Im Jahre 1959 gab er das Außenministerium ab; wir wissen nicht, ob er damals hoffte, daß das Feld der Innenpolitik, auf welches Joseph Bech sich durch Übernahme des Präsidiums der Abgeordnetenkammer begeben hat, ihm nach überreichlicher Arbeit mehr Ruhe gönnen würde. Noch viel weniger wissen wir, ob der Gang der Dinge diese mögliche Überlegung bestätigt hat. Im Genfer Völkerbund, dessen Wirken in damaliger Zeit im Zeichen der Bemühungen von Briand und Stresemann um die Überwindung des französisch-deutschen Gegensatzes stand, bekleidete der kaum 42jährige das Amt eines Vizepräsidenten. Sein Miterleben dieser Periode und seine Mitarbeit am Werk europäischer Verständigung hat ihn zweifellos die in Deutschland 1933 einsetzende Entwicklung mit großem Unbehagen ansehen lassen. Die klare Erkenntnis der Unaufhaltsamkeit der Ereignisse ließ ihn 1940 das Los der Emigration auf sich nehmen, aus der er erst im Augenblick der Befreiung seines Vaterlandes 1944 zurückkehrte. In London und Washington hat er 1940 bis 1944 als Mitglied der Exilregierung in engstem Kontakt zu den für die Führung der Politik dieser Jahre maßgebenden Kreisen gestanden. Es ist nicht möglich, die Vielzahl politischer Konferenzen aufzuzählen, an denen Joseph Bech als Außenminister seines Landes teilgenommen hat. Für uns ist die Tatsache von Bedeutung, daß seine Tätigkeit schon während der Genfer Zeit dem Ausgleich gegolten hat und daß er diese Linie über alle Wechselfälle unserer bewegten Geschichte hinweg weiter verfolgt hat. In den Kriegsjahren 1940 bis 1945 hat Luxemburg ein grausames Schicksal erlitten. Was dort unter der Überschrift "Gleichschaltung" und "Eindeutschung" geschehen, übertrifft jedes denkbare Maß an Unmenschlichkeit, an Terror und Schikane. Ein satanisches Geschick hatte in den Rädelsführern den Abschaum der Menschheit sich dienstbar gemacht, vollzogen werden konnte es nur dadurch, daß ein ganzes großes Volk in Blindheit diesen "Führern" auf dem Wege in die Irre folgte. Wir dürfen und wir wollen nicht vergessen, daß dies alles im Namen Deutschlands geschah. Wir dürfen diese schmerzlichen Wunden auch nicht unerwähnt lassen, wenn es darum geht, einen Mann zu ehren, der aus eigener menschlicher Größe über das erduldete Leid hinausgewachsen ist und sich nicht von dem für richtig erkannten Wege hat abdrängen lassen. Das von Joseph Bech so gerne gebrauchte Wort "Recht geht vor Macht" ist dazu geeignet, ein starkes Fundament zu legen für die gemeinsame Zukunft. Nur wer so denkt, wird imstande sein, wahre Freiheit zu erhalten. In den Jahren nach dem zweiten Weltkriege hat sich keine für die Zukunft Europas wichtige Entwicklung angebahnt, ohne daß Joseph Bech ihr seine Kräfte gewidmet hätte. Das scheinbare Paradoxon, daß der Vertreter des kleinsten Landes der Gemeinschaft eine solch überragende Rolle bei ihrem Wachsen gespielt hat, ist wohl im wesentlichen auf zwei Dinge zurückzuführen: einmal darauf, daß Joseph Bech gerade als Angehöriger eines kleinen Landes zutiefst durchdrungen war von der Erkenntnis, daß die europäischen Staaten - an heutigen Maßstäben gemessen sämtlich kleine Länder - in Einigkeit zusammenstehen müssen, wenn sie in Frieden und Freiheit fortbestehen wollen, zum anderen jedoch auf das Ansehen seiner Person in aller Welt, begründet in seinen überragenden Fähigkeiten zum Ausgleich. Wir dürfen uns glücklich schätzen, daß es auch in unseren Tagen der Oberflächlichkeit und des Konformismus noch Männer gibt, deren ganzes Wesen in Jahrtausenden gewachsene Kultur ausstrahlt, deren Kraft darin besteht, daß sie - selbst auf festem, unerschütterlichen Boden stehend - ihre Überzeugung auf andere auszustrahlen vermögen. Wenn diese Kraft wie bei Joseph Bech gepaart ist mit der Gabe des Ausgleichs, mit der aus überlegener Einsicht schöpfenden Achtung vor der Überzeugung des anderen, dann befähigt sie zur großen und guten Tat. Unwiderstehlich aber wird sie erst, wenn sie bei aller Tiefgründigkeit ihrer Substanz einig geht mit einem wahre Überlegenheit kennzeichnenden Sinn für Humor, mit einer im rechten Maß vorhandenen Freude an den schönen Dingen dieser Welt. Joseph Bech's reicher Schatz an Erfahrungen haben ihn davor bewahrt, die Schwierigkeiten zu unterschätzen, mit denen die Baumeister Europas fertig werden müssen. Seine kraftvolle Persönlichkeit bewahrt ihn aber auch davor, diesen Widerständen gegenüber zu resignieren. Der 25. März 1957, der auf dem Kapitol in Rom die feierliche Unterzeichnung der Verträge über den Gemeinsamen Markt und Euratom brachte, die unter Bech's Vorsitz auf der Konferenz von Messina zustande gekommen waren, ist vielleicht der Höhepunkt seines politischen Wirkens gewesen. Hier hat er die mannigfachen Schwierigkeiten, die zu überwinden sind, erwähnt, um dann das notwendige "Dennoch" in eine Abwandlung der Worte Catos zu fassen: "Ceterum censeo Europam esse aedificandam." Diesem Staatsmann europäischen Formats, der über die Grenzen seines eigenen Landes hinauswirkend den Weg nach Europa auf wichtigen Strecken freigemacht, hat das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachendurch einstimmigen Beschluß den Karlspreis 1960 zuerkannt. Wenn ich Ihnen, hochverehrter Herr Kammerpräsident Bech, diesen Preis nun überreiche, dann tue ich dies in der zuversichtlichen Hoffnung, daß die Würdigung Ihrer großen Leistung dazu beitragen wird, daß in allen freien Ländern Europas die Einsicht in die unserer Zeit gestellte Aufgabe reichen Widerhall finden möge; ich tue es auch in der Überzeugung, daß Sie auch in Zukunft immer bereit sein werden, wenn es darum geht, der Fortsetzung dieser Arbeit einen entscheidenden Impuls zu geben.