Es ist mir eine große Ehre und Freude, an diesem Tage im historischen Krönungssaal des Aachener Rathauses den Internationalen Karlspreis der Stadt Aachen für das Jahr 1966 in Empfang nehmen zu dürfen. Ich sehe diese Verleihung nicht als Würdigung meiner persönlichen Verdienste, sondern als Ausdruck der Wertschätzung der von meinem Lande zielstrebig entfalteten Bemühungen, Spaltungstendenzen in Europa entgegenzuwirken und die Vereinigung der europäischen Länder zu fördern. Die Medaille und die Urkunde werden mir immer hochgeschätzte Erinnerungsstücke an diesen schönen und unvergeßlichen Tag sein. Ich habe mich entschlossen, den Geldpreis für die Förderung von Aufklärungsarbeit in der dänischen Öffentlichkeit über europäische Einigungsbestrebungen zur Verfügung zu stellen. Ich hoffe, hiermit im Geiste der Preisverleihung zu handeln.
Europa zu einigen ist die große Aufgabe unserer Generation. Europäische Einigkeit ist eine fundamentale Notwendigkeit, wenn wir aus dem alten Kontinent eine Organisation machen sollen, die den Forderungen unserer Zeit entspricht. Nur durch europäische Einigung können die Länder Europas die Voraussetzungen für ein befriedigendes wirtschaftliches Wachstum schaffen und hierdurch schrittweise eine politische Organisation errichten, die es Europa als Ganzes ermöglichen wird, die Rolle in der Entwicklung der Welt zu spielen, zu der die Geschichte Europas es berechtigt.
Welchen Inhalt soll das Europa, das wir uns vorstellen, haben? Ich glaube, man soll die Einigung Europas als einen Prozeß anschauen. Man kann nicht im voraus festlegen, was angestrebt werden soll. Man darf aber wohl sagen, daß wir mit dem Europa, das wir uns vorstellen, anstreben, die besten Bedingungen zu schaffen, damit unsere gemeinsame demokratische Lebensform nicht nur in Frieden und Freiheit überleben, sondern sich auch weiter entwickeln kann. Wir streben ein demokratisches Europa an mit einem hohen Lebensstandard, mit sozialer Gerechtigkeit und mit einer Kultur und Wissenschaft, die weiterhin ein Vorbild für die übrige Welt sein werden.
Ein gestärktes Europa kann im Verhältnis zu den USA ein besseres Gleichgewicht bilden - nicht im Gegensatz zu den USA, sondern in Zusammenarbeit mit unseren amerikanischen Freunden.
Im Verhältnis zum Ostblock müssen wir bereit sein, jede realistische Möglichkeit der Entwicklung und der Verständigung auszunutzen. Wir müssen uns stets vor Augen halten, daß auch die Sowjetunion und die osteuropäischen Länder zu Europa gehören. Durch eine Politik, die vermehrten Kontakt und eine schrittweise Besserung des Verhältnisses zwischen Ost und West anstrebt, können wir - vorausgesetzt, daß die atlantische Eintracht erhalten bleibt - allmählich ein Klima schaffen für Realitätsverhandlungen über die Probleme, die der Spannung in der Welt zugrunde liegen, und zwar in erster Linie das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes.
Aber ein Europa der Zusammenarbeit ist auch die Voraussetzung, daß unser alter Kontinent den besten Einsatz im Verhältnis zu den enormen Problemen der Entwicklungsländer leisten kann, und dadurch zur Lösung der auf lange Sicht größten aller Fragen: "der Kluft zwischen den reichen und den armen Ländern".
In der ganzen Nachkriegszeit ist es das Hauptziel der dänischen Außenpolitik gewesen, zu den westeuropäischen Einigungsbestrebungen beizutragen. Die Geschichte meines Landes, und nicht zuletzt die Erfahrungen aus diesem Jahrhundert, bestätigen die Notwendigkeit der europäischen Einigung. Wir meinen auch, daß wir mit unseren demokratischen Traditionen, unserer hochentwickelten Wirtschaft und unserem sozialen Standard einen Beitrag leisten können.
Wir dürfen uns heute darüber freuen. In der europäischen Zusammenarbeit sind wesentliche Resultate erreicht worden, obwohl wir uns - wie so oft zuvor - mitten in großen Schwierigkeiten befinden. Vor allem haben die europäischen Gedanken in diesen Jahren in den Bevölkerungen der europäischen Länder tiefe Wurzeln geschlagen. Dies ist die fundamentale Voraussetzung, daß unsere Bestrebungen jemals von Erfolg gekrönt werden können.
Der Traum von der europäischen Einigung hat aber viele Rückschläge gehabt. Immer wieder haben die europäischen Regierungen erleben müssen, daß diese Hoffnungen anscheinend zunichte gemacht wurden, weil der Nationalismus immer noch ein bedeutender Faktor in Europa ist. Ich glaube aber, daß wir uns auf dem Wege zu einer neuen Wende befinden - daß sich der Traum von europäischer Einigung doch noch in unserer Zeit in lebendige Wirklichkeit verwandeln wird, in eine lebendige Wirklichkeit als ein nach außen gerichtetes Europa, das auch die Förderung der Beziehungen zu der übrigen Welt anstreben wird.
In dieser Hinsicht ist es von entscheidender Bedeutung, daß die Spaltung zwischen der EFTA und der EWG zum Abschluß gebracht wird, so daß die wirtschaftliche Aufteilung Westeuropas von Zusammenarbeit abgelöst wird.
Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist das Herz Europas. Die EFTA-Länder sind aber ebenso wichtig wie die sechs Mitgliedsländer des Gemeinsamen Marktes. Der internationale Handel und die Schiffahrt, moderne Industrie und Landwirtschaft, die Fortschritte auf dem Gebiete der Wissenschaft und der Kultur haben einige ihrer wichtigsten europäischen Resultate in den sieben EFTA-Ländern und in Finnland erreicht. Man kann nicht von einer europäischen Identität oder einer europäischen Persönlichkeit sprechen, ohne diese acht Länder, die einen wichtigen Teil des Lebens und der Entwicklung Europas ausmachen, einzubeziehen.
Für den Brückenschlag zwischen der EWG und der EFTA gibt es drei mögliche Wege:
Erstens kann man hoffen, daß sich die Kluft zwischen den beiden Gruppen durch einen gegenseitigen wachsenden Handel automatisch vermindern wird.
Auf eine solche automatische Lösung können wir uns aber nicht verlassen. Unser Agrarexport in die Sechs ist gefallen, und wir fürchten, daß ein weiterer Rückgang eintreten kann, wenn nichts dagegen unternommen wird. Dies ist eine in wirtschaftlicher Hinsicht wenig zweckmäßige Entwicklung. Für ein Westeuropa der dynamischen Zusammenarbeit ist es von fundamentaler Bedeutung, daß die Lebenshaltungskosten und die Preise für Lebensmittel nicht zu hoch sind. Deshalb braucht Europa ein Land mit hoher Produktivität in der Landwirtschaft - ebenso wie dieses Land auch Europa braucht.
Ein anderer Ausweg ist der Dialog zwischen EFTA und EWG. Im Oktober vorigen Jahres luden die EFTA-Länder zu einem solchen Dialog ein. Wir hoffen weiterhin, daß der Gemeinsame Markt auf diese Einladung positiv reagieren wird. Aber auch dies reicht nicht aus, um die Frage der europäischen wirtschaftlichen Integration zu lösen.
Es ist notwendig, daß Sondierungen und Untersuchungen im Hinblick darauf stattfinden, die Voraussetzungen für die Verhandlungen zwischen den Sechs und Großbritannien und den sonstigen EFTA-Ländern über Aufnahme in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu schaffen.
Es ist auch notwendig, daß die Sechs eine positive europäische Haltung einnehmen, und daß sie den anderen europäischen Ländern mit einer flexiblen Einstellung entgegentreten. Es ist ohne Zweifel notwendig, daß derartige vorbereitende Sondierungen und Untersuchungen gründlich durchgeführt werden. Neue Verhandlungen müssen gut vorbereitet sein. Man darf auch nicht damit zögern, die Initiative zu ergreifen, sobald die politischen Voraussetzungen gegeben sind. Es eilt, eine europäische Lösung zu finden. Die Probleme wachsen mit jedem Jahr, mit dem die jetzige Teilung weiter besteht, nicht zuletzt für die kleineren europäischen Länder. Die Wirtschaft hat Anspruch darauf, zu wissen, was die Politiker wollen. Die verantwortlichen Staatsmänner müssen sich ihrer Verantwortung gegenüber der Zukunft Europas bewußt sein.
Ich erwähnte schon, daß die europäische Einigung als ein Prozeß angesehen werden muß - ein Prozeß der Aussöhnung alter Gegensätze und des Aufbaus einer vertrauensvollen Verständigung zwischen den einzelnen Völkern, die auf gegenseitigem Respekt beruht. Ich möchte in diesem Zusammenhang die sehr glückliche Entwicklung erwähnen, die die Beziehungen zwischen meinem Lande und der Bundesrepublik geprägt hat. Wir dürfen heute feststellen, daß diese Beziehungen, die im Laufe der Geschichte von den ernstesten Gegensätzen geprägt gewesen sind, jetzt so gut sind wie je. Gestatten Sie mir, bei dieser Gelegenheit zu sagen, daß wir in Dänemark in hohem Grade den Einsatz Deutschlands für die Schaffung dieser Verständigung würdigen.
Man kann sich nicht mit den Problemen über die europäische Einigung beschäftigen, ohne auch das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Europa zu erwähnen. Die demokratische Welt hat ihren Schwerpunkt in Westeuropa und in Nordamerika, und der Wille der USA, in der Nachkriegszeit die Position Europas zu stärken, sowie die enorme Wirtschaftshilfe der USA, sind für den Wiederaufbau Europas und für die Einigungsbestrebungen von entscheidender Bedeutung gewesen.
Die Konsolidierung der politischen Stabilität in Europa, die in der Nachkriegszeit stattgefunden hat, ist in wesentlichem Grade auf das Bestehen der NATO und auf den Umstand zurückzuführen, daß die NATO ein Faktor ist, der den Frieden stabilisiert. Ich glaube, daß das Bestehen der NATO eine der fundamentalsten Voraussetzungen für die Entspannung ist, die zwischen Ost und West stattgefunden hat. Damit ist aber nicht gesagt, daß die Änderungen, die in der internationalen Situation stattgefunden haben, nicht zu Erwägungen über das politische Ziel der NATO in der geänderten Situation Anlaß geben können. Es ist klar, daß dieser Gedanke durch die kürzlichen französischen Schritte auf dem Gebiet der NATO erneute Aktualität gewonnen hat. Hierzu möchte ich übrigens sagen, daß es meiner Meinung nach vorläufig und in erster Linie möglich sein muß, die praktischen Probleme, die die französischen Schritte aufwerfen, zu lösen. Die zukünftigen Verhandlungen müssen auf eine weitere französische Teilnahme an der Zusammenarbeit im Bündnis abzielen. Entscheidend ist es, daß das Bündnis nicht nur als Garant des Friedens und der Freiheit in unserem Teil der Welt erhalten bleibt, sondern daß ihm auch die Rolle als Verhandlungsorganisation zugeteilt wird, deren Ziel die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts und die Entspannung im Verhältnis zur Sowjetunion und zu den osteuropäischen Ländern sein soll.
Wir kennen die Probleme, und es ist unsere Aufgabe und Verantwortung, zu versuchen, sie zu lösen. Wir dürfen die geschichtlichen Möglichkeiten zur Schaffung der Einigung Europas in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten und der übrigen Welt nicht verpassen.