Zum ersten Male dürfen wir einen Skandinavier in unserem Kreise der Karlspreisträger willkommen heißen. Wir tun das mit ganz besonderer Freude, und ich darf unsere Gründe dafür näher erläutern.
Wir alle wissen, daß die Europäische Bewegung – das Wort in seinem breiteren Sinne verstanden – in den ersten Jahren nach dem Kriege in den Nordischen Ländern verhältnismäßig wenig Begeisterung hervorgerufen hat. Viele durchaus begreifliche, und teilweise sogar berechtigte Gründe, sprachen für eine solche Zurückhaltung. Waren die Europäischen Pionierländer nicht zu gleicher Zeit Staaten mit geringerer demokratischer Tradition? War nicht ihre Innenpolitik unstabil? Waren nicht ihre Sozialverfassungen spasmodisch? Erschien es nicht unverantwortlich, einen Bundespakt mit Partnern, deren Europäisches Wollen vielleicht doch in erster Linie aus nationaler Verzweiflung hervorging, abzuschließen? Und dann: konnte man ein solches Unternehmen ohne Britische Rückendeckung wagen?
Alle diese Argumente - wer wird sie besser verstehen als ein Niederländer? Aber gerade der Niederländer darf auch hinzufügen, warum die Gründe für das Europäische Abenteuer ihm überzeugend scheinen. Sie aufzählen in Gegenwart unseres heutigen Preisträgers, Herrn Ministerpräsidenten Krag, ist übrigens Eulen nach Athen tragen – oder vielmehr: besonnene Kühnheit nach Dänemark ...
Natürlich, in erster Linie stehen da die wirtschaftlichen Faktoren. Ich werde nicht lange dabei verweilen. Ich bin kein Ökonom – und übrigens glaube ich nicht, daß das historische Verfahren der Europäischen Einigung in erster Linie ein Wirtschaftsphänomen ist. Schön und gut: die moderne Industrie braucht weltweite Märkte und einen genügend großen ?home market? als Sprungbrett. Aber wer nun unmittelbare Vorteile zu verfolgen versucht – oder, noch schlimmer: wer die Europäische Einigung nur anstreben würde um wirtschaftliche Nachteile zu vermeiden – der sähe das Weltgeschehen unserer Zeit durch eine verkleinernde Zerrbrille. Es steht mehr auf dem Spiel als Löhne und Preise, Import und Export, so wichtig diese auch sein mögen.
Dänemark, wie auch Holland ist ein kleines und ein freies Land. Aber wer die Freiheit hüten will, indem er sie ängstlich abzuschirmen versucht, der begeht die Sünde des geistigen und politischen Protektionismus. Die Idee der Demokratie ist nur lebendig, indem sie nach Expansion drängt. Und Skandinavien, Dänemark, hat etwas zu ?exportieren? ihren nüchternen Reformismus, ihre Gabe für den best erreichbaren Kompromiß, ihre Toleranz, ihre Gastfreundschaft, die ja nicht nur eine Form der Touristen-Freundlichkeit, sondern eine praktische Anwendung des Humanismus ist.
Aber nicht nur brauchen wir die Dänen. Die Dänen brauchen ihrerseits, wie die Holländer, Europa.
Wir sind alle so vertraut miteinander in unseren nationalen Welten von nur einigen wenigen Millionen Einwohnern. Und dadurch werden wir so schnell ?provinzlerisch?. So furchtbar gern setzen wir uns auf den Balkon der Geschichte und, da wir ja noch keine Machtpolitik treiben können, heben wir den Zeigefinger gegen alle diejenigen, die es wohl können. So leben wir etwas schulmeisterhaft und zufrieden mit uns selbst – aber die großen Wogen des historischen Geschehens gehen an uns vorbei. Unsere jungen Leute demonstrieren tapfer gegen die Atombombe – aber denjenigen, die eine solche Waffe besitzen, ist das egal. Gut, wir können da vielleicht recht haben – aber: ?so what?? Die unvermeidbar Ohnmacht der kleinen Länder – des meinigen und des Ihrigen, Herr Ministerpräsident – ist vielleicht das, was ich den Fluch der ?Provinzialität? genannt habe.
Kleine Länder, freie Länder: besonders wir im Benelux würden es begrüßen, wenn neue Mitglieder aus dem Norden zu der Gemeinschaft stoßen würden – Partner, bei denen feststeht, daß sie nicht von Ultimatum zu Ultimatum schreiten werden, daß sie vielmehr versuchen werden, in gemeinsamem Gedankenaustausch praktische Lösungen zu finden. Mit ihnen zusammen würden wir zurückkehren zu den besseren Zeiten Europas, als Robert Schuman, unser verstorbener Kollege als Karlspreisträger, feststellen konnte, die Europäer ?verhandelten? nicht zusammen, sondern versuchten gemeinsam herauszufinden, was möglich, europäisch-progressiv und wünschenswert für alle sei. Ohne diesen Geist des Verstehen-Wollens wird es niemals ein echte Einigung geben.
Gewiß, Dänemark hat uns sehr viel zu geben. Aber jeder Mensch, der im europäischen Werden zu Hause ist, weiß auch, wieviel wir alle von einander zu empfangen haben. Warum? Ich will versuchen es deutlich zu machen.
Wir alle sind gewissermaßen gefangen in unseren nationalen Vorurteilen den anderen gegenüber. Wir alle glauben zu wissen: die Italiener sind so (und lächeln) – die Franzosen sind so (und fühlen uns bestürzt) – die Holländer sind so (und seufzen) – die Deutschen sind so (und erinnern uns an schlechte, alte Geschichten) – die Engländer sind so (und ein Minderwertigkeitskomplex erfaßt uns). So denken wir. Und weil wir so denken, werden diese nationalen Stereotypen letzten Endes auch noch Wirklichkeit!
Man braucht kein Schüler von Luigi Pirandello zu sein, um zu wissen, daß wir alle gewissermaßen die Rolle spielen, die man von uns erwartet – als Individuum sowohl wie als Gruppe. Aber je freundschaftlicher wir miteinander verkehren um so wirksamer durchbrechen wir solches Empfinden. Wir bemerken, daß die anderen anders sind als wir dachten, und daß sie viel zu geben haben, sobald wir uns selbst geben. Wir stellen fest, daß natürlich nicht alles Unsinn an den nationalen Zerrbildern ist. Aber zugleich sehen wir, wie geistig beengt wir bisher in unseren kleinen oder mittelgroßen nationalen Gemeinschaften von höchstens Fünfzigtausend Millionen waren.
Zusammenleben in Freiheit heißt: einander beeinflussen, befreien, bereichern, flexibler und lebensfähiger machen. Wenn ich, am Europa-Kolleg, Dänen und Italiener zusammen am Speisetisch sitzen sehe, denke ich: die werden fortan mehr sich selbst – und niemals mehr vollkommen dieselben sein.
Wir brauchen einander nicht nur um unsere wissenschaftliche Forschung wirksamer organisieren zu können, so wichtig das ist; nicht nur, um die Schlüssel des Sund zusammen besser in der Hand zu halten, als wir es allein vermögen; nicht nur, weil wir eine mächtige Kraft des Friedens in der Welt sein wollen, sondern vor allem auch um uns über unsere geistige Vereinsamung zu erheben. ?Vae soli?, Wehe dem Einsamen?: das gilt auch für Kollektivpersonen.
Wir werden keine Vorbesprechungen machen und nichts prophezeien. Aber die Europäische Integration ist heute wieder in Bewegung geraten. Nach einer Krise des Mißtrauens haben die Sechs wieder die Kraft und die Weisheit gefunden, einen neuen Schritt vorwärts zu tun. Einige Tage später sprach die Britische Königin in Brüssel über die näheren Beziehungen zwischen Belgien und England, die im Rahmen einer wachsenden Europäischen Gemeinschaft bevorstünden: Worte die gewiß nicht ohne politische Überlegung gesprochen wurden. Inzwischen fährt auch die Freihandels-Assoziierung fort, Tarife abzubauen. Der Wind der Geschichte treibt uns alle, jeden in seiner eigenen Tradition. Aber, wie es Teilhard de Chardin gesagt hat: ?alles was empor steigt, konvergiert?.
Sie, Herr Ministerpräsident, gehören zu denjenigen in Ihrem Lande, die diese Entwicklung bejahen und begrüßen. Sie wissen besser als jemand: ohne Einigung von Ganzeuropa werden wir es nicht mehr schaffen. Sie wissen auch: nur in Freiheit und Gleichheit kann Europa geeinigt werden – und wir fügen hinzu: nur in Brüderlichkeit, das heißt, in einem Klima des menschlichen Verstehens. So wird der alte Französische Wahlspruch realistisch und unsentimental vervollständigt.
Wir begrüßen sie heute und wir beglückwünschen Sie als Symbol unserer Hoffnung: Europa Nord und Süd – Europa Ost und West!