Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrter Herr Präsident der Europäischen Kommission,
sehr geehrter Herr Präsident der Eurogruppe,
sehr geehrte frühere Karlspreisträger,
sehr geehrte Exzellenzen,
sehr geehrte Minister,
sehr geehrte Abgeordnete des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente,
sehr geehrte Mitglieder des EZB-Rats,
sehr geehrte Mitglieder der Karlspreisstiftung,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
es ist mir eine außerordentliche Ehre, heute den Karlspreis zu empfangen. Ich bin tief bewegt, mich in den Kreis großer Persönlichkeiten einreihen zu dürfen. Mit den Worten von Isaac Newton: „Ich fühle mich, als stünde ich auf den Schultern von Riesen“.
Der Karlspreisstiftung gilt meine tiefe Dankbarkeit für die heutige Ehre. Mir ist bewusst, dass der Preis ebenso meinen Kollegen des EZB-Direktoriums gilt, die hier alle anwesend sind, sowie des EZB-Rats. Er gebührt auch allen Mitarbeitern der europäischen Zentralbanken. Die Begründung der Stiftung und die bewegenden Worte von Präsident Barroso, mit all dem Vertrauen in uns als wahre Europäer, berühren mich sehr.
Jede Generation muss sich von neuem für Europa engagieren.
Für die Generation des Zweiten Weltkriegs war entscheidend: Europa sollte eine Wiederholung der Weltwirtschaftskrise und der ungeheuerlichen Schrecken des Krieges verhindern.
Für die nachfolgende Generation war Europa der Eckpfeiler für Wohlstand durch offene Märkte und wirtschaftliche Freiheit.
Für die heutige Generation sind diese Errungenschaften selbstverständlich. Heute stehen andere Themen im Vordergrund.
Es gilt zu erklären: warum ist die Einheit Europas in der globalisierten Welt für Frieden und Sicherheit wichtiger denn je? Warum ist die Europäische Union entscheidend, um die Interessen der europäischen Nationen zu sichern und zu fördern? Wie ist die weitreichende Interdependenz von Volkswirtschaften und Gesellschaften heutzutage am besten zu handhaben?
Ich meine, die Antwort auf diese Fragen liegt in der Stärkung des europäischen institutionellen Rahmens. In den Bereichen Wirtschaft und Finanzen heißt dies eine deutliche Stärkung der Institutionen der Wirtschafts- und Währungsunion.
Mit Institutionen meine ich nicht Technokraten, die komplexe und bürgerferne Entscheidungen treffen.
Ich meine vielmehr jene Regeln und Organisationen, die unsere zentralen Werte bewahren und auf das Gemeinwohl abzielen.
Institutionen, die Vertrauen zwischen den Völkern und Nationen Europas stärken.
Institutionen, die die Zusammenarbeit fördern.
Institutionen, die uns helfen, Interdependenz durch gemeinsame Entscheidungen zu handhaben.
Jean Monnet sagte: „Nichts ist möglich ohne die Menschen, nichts ist dauerhaft ohne Institutionen.“
In Europa können wir uns glücklich schätzen, dass es Institutionen gibt, die unseren Kontinent vereinen. Sie verkörpern die Werte des Projekts Europa und bringen es weiter voran.
Die Europäische Kommission unter José Manuel Barroso ist der Motor dieses Prozesses. Der Europäische Rat mit dem Präsidenten Herman Van Rompuy weist die Richtung auf höchster Ebene. Und im Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion stellt sich die Eurogruppe unter der Ägide von Jean-Claude Juncker den wandelnden Herausforderungen.
Ich möchte heute, der Vision des Karlspreises folgend, darlegen, dass die Stärkung gemeinsamer Institutionen der Schlüssel zur weiteren wirtschaftlichen und finanziellen Integration Europas ist.
Meine Kernbotschaft ist: das bisher Erreichte in der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) wurde durch die starken Institutionen der Währungsunion ermöglicht. Um die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen, bedarf es einer Stärkung der Institutionen der Wirtschaftsunion.
Wirtschafts- und Währungsunion
Die Wirtschafts- und Währungsunion ist der Bereich, in dem in Europa die Integration am weitesten fortgeschritten ist.
Es ist eine Union souveräner Staaten mit einem gemeinsamen Markt, einer gemeinsamen Wirtschaft und einer einheitlichen Währung. Eine Union, in der die Länder in vielen Bereichen gemeinsam handeln, durch einheitliche Gesetze und Institutionen. Eine Union, in der für die Länder gilt: Einheit in der Vielfalt bewahren.
Dieses einzigartige Konstrukt bündelt die Visionen großer europäischer Denker:
Erasmus von Rotterdam, der im 16. Jahrhundert die moralischen Grenzen eines strikten Konzepts der Nationalstaatlichkeit formulierte.
William Penn, der im 17. Jahrhundert erkannte, dass gemeinsame Institutionen den Ländern Europas Vorteile bringen würden.
Immanuel Kant, der im 18. Jahrhundert begriff, dass die Autorität solcher Institutionen auf gemeinsamen Gesetzen beruhen muss.
Victor Hugo, der im 19. Jahrhundert zu der Erkenntnis kam, dass demokratische Teilhabe vonnöten war, um Gesetzen Legitimität zu verleihen.
…und schließlich Robert Schuman, der im 20. Jahrhundert befand, dass in Europa die wirtschaftliche Integration für all dies grundlegend ist.
Wir müssen diese historische Perspektive im Blick behalten, wenn wir uns den gegenwärtigen Herausforderungen im Eurogebiet stellen. Die Wirtschafts- und Währungsunion ist eine einmalige Errungenschaft in der Geschichte souveräner Staaten. Generationen von Europäern haben nach ihr gestrebt.
Sie ist ein historischer Prozess, der aber auch greifbaren wirtschaftlichen Nutzen für die Bürgerinnen und Bürger bringt.
Das hier Erreichte sollte nicht in Vergessenheit geraten:
Die Wirtschafts- und Währungsunion hat Wachstum gebracht. In den ersten zehn Jahren des Euro war es pro Kopf so hoch wie in den Vereinigten Staaten.
Die Union hat den Handel gefördert, im Eurogebiet, in der gesamten EU und mit der übrigen Welt. Wir sind keine „geschlossene Gesellschaft“, sondern die offenste der großen Volkswirtschaften der Welt.
Sie hat auch Beschäftigung gebracht. Diese ist seit der Einführung des Euro um 14 Millionen gestiegen; in den Vereinigten Staaten waren es im selben Zeitraum 8 Millionen.
Die Wirtschafts- und Währungsunion hat Preisstabilität gebracht. In den ersten zwölf Jahren nach der Euro-Einführung betrug die durchschnittliche jährliche Inflationsrate 1,97 %. Dieser Wert steht in vollem Einklang mit der Definition von Preisstabilität der Europäischen Zentralbank (EZB): eine Preissteigerungsrate von unter, aber nahe 2 % auf mittlere Sicht.
Außerdem hat uns die Wirtschafts- und Währungsunion monetäre Stabilität gebracht. Der Euro ist eine starke und glaubwürdige Währung. Er hat das Vertrauen unserer Mitbürger, Anleger und Sparer.
Es gibt keine „Krise des Euro“.
Die EZB und der Euro
Im Jahr 2002 erhielt der Euro den Karlspreis. Die Stiftung betonte damals, dass der Euro der logische Schritt war, um die Vorteile des Binnenmarktes auszuschöpfen, im Hinblick auf nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung.
Die Fakten zeigen, dass der Euro dieses Versprechen erfüllt hat.
Nach dem Vertrag hat die Europäische Zentralbank den Auftrag, Preisstabilität zu gewährleisten. Um diese Aufgabe zu erfüllen, hat sie die notwendigen Befugnisse und die volle Unabhängigkeit.
In den Kategorien von Max Webers Gesinnungs- und Verantwortungsethik könnte man sagen: aus unserem Auftrag erwächst unsere Gesinnung. Und unser entschlossenes Handeln entspricht unserer Verantwortung.
In der schwierigen Situation, in der sich alle entwickelten Volkswirtschaften seit Beginn der Finanzmarktturbulenzen 2007 befanden, hat der EZB-Rat seine Gesinnung und Verantwortung unter Beweis gestellt.
Unsere unerschütterliche Verpflichtung zur Preisstabilität zeugt von unserer Gesinnung. All unsere Zinsbeschlüsse – unsere „Standardmaßnahmen“ – dienen dem Ziel, Preisstabilität auf mittlere Sicht zu gewährleisten.
Wie bereits erwähnt, betrug die durchschnittliche jährliche Inflationsrate in den ersten zwölf Jahren des Euro weniger als 2%. Über einen so langen Zeitraum ist dieses Ergebnis besser als das, was in allen größeren Euroländern in den letzten 50 Jahren erreicht wurde. Hier in Aachen kann ich sagen: „Stark wie die Mark“ sollte der Euro werden, und stark wie die Mark ist er geworden.
Seit der Krise mussten wir vielfach Turbulenzen und Störungen in zahlreichen Finanzmarktsegmenten bewältigen.
Unsere Verantwortung haben wir unter Beweis gestellt, indem wir geldpolitische Sondermaßnahmen ergriffen haben, um zu einer angemessenen geldpolitischen Transmission in dieser außergewöhnlichen Marktlage beizutragen.
All diese „Sondermaßnahmen“, wie Refinanzierungsgeschäfte mit vollständiger Zuteilung und längerer Laufzeit oder Interventionen an den Anleihemärkten, wurden getroffen, um den Spannungen auf diesen Märkten zu entgegnen und eine bessere Transmission unserer Zinsbeschlüsse zu ermöglichen.
Die EZB war in den letzten vier Jahren ein zuverlässiger und solider Anker für Stabilität in der schwierigsten Wirtschaftslage seit dem Zweiten Weltkrieg.
Ohne einen solchen Anker wäre die konjunkturelle Erholung, die seit Mai 2010 im Eurogebiet stattfindet, wahrscheinlich anders verlaufen. Das Wirtschaftswachstum von mehr als 2,5 % wäre ausgeblieben und die 350 000 neuen Arbeitsplätze wären nicht entstanden.
Wann immer wir über den geldpolitischen Kurs entscheiden – die Nadel unseres Kompasses weist in Richtung Preisstabilität.
Durch den Karlspreis dankt Europa heute auch dem Direktorium der EZB und dem EZB-Rat. Ohne ihr außerordentliches Engagement und ihre Expertise stünden wir heute nicht da, wo wir stehen.
Dieser Dank gilt auch den 1 400 Mitarbeitern der EZB in Frankfurt. Sie kommen aus allen 27 Ländern der EU und sind ein glänzendes Beispiel dafür, was es bedeutet, gemeinsam für Europa zu arbeiten.
Derzeitige Herausforderungen für die Steuerung der Wirtschaftspolitik
Der Erfolg des Euro beruht auf gut konzipierten Institutionen. Nach diesem Vorbild müssen wir die Regeln und Institutionen substantiell stärken, die die Finanz- und Wirtschaftspolitik steuern. So lassen sich die Herausforderungen der Wirtschafts- und Währungsunion angehen.
Betrachten wir den Euroraum heute: Länder, die sich an die Regeln der einheitlichen Währung halten, wachsen und gedeihen. Dies zeigt, dass solide Politik und eine gesunde Wirtschaft eng miteinander zusammenhängen.
Doch es gibt auch das Gegenteil: Länder, die Wortlaut oder Geist der Regeln nicht eingehalten haben, befinden sich in einer schwierigen Situation. Dies hat dann auch Rückwirkungen auf andere Länder der Wirtschafts- und Währungsunion.
Um unsolide Wirtschaftspolitik zu vermeiden, hat die Stärkung der Regeln höchste Priorität. Sie müssen verhindern, dass einzelne Länder durch ihre Politik sich selbst und dem gesamten Eurogebiet schaden.
Deshalb habe ich im Namen des EZB-Rats die Kommission, den Rat und das Europäische Parlament aufgerufen, die wirtschaftspolitische Steuerung im Euroraum konsequent zu stärken. Es gilt nun, aus den ersten Jahren der Wirtschaftsunion und aus den von der Krise aufgedeckten Schwachstellen zu lernen und einen Quantensprung nach vorn zu tun.
Bei der Ausarbeitung der entsprechenden Regeln sollte das Europäische Parlament seine Befugnisse im Gesetzgebungsverfahren vollständig ausüben.
Welche Änderungen sind mittelfristig möglich?
Nach der weltweiten Finanzkrise stehen wir vor der Herausforderung, Länder in finanziellen Schwierigkeiten zu unterstützen.
Hierfür gibt es Hilfsmechanismen, die an strikte Auflagen geknüpft und mit dem IWF abgestimmt sind. Mir ist bewusst, dass es Bedenken gibt, wohin dies führt. Man fürchtet, dass die Grenze zwischen Unterstützung und individueller Verantwortung verwischen könnte, wenn die Auflagen nicht konsequent umgesetzt werden.
Mein Vorschlag wäre, mittelfristig für Länder, die sich in Schwierigkeiten befinden, zwei Stufen vorzusehen. Hierfür wäre natürlich eine Änderung des Vertrags nötig.
In der ersten Stufe kann im Rahmen eines Anpassungsprogramms finanzielle Unterstützung geleistet werden. Den Ländern soll die Möglichkeit gegeben werden, selbst Korrekturen vorzunehmen, um wieder Stabilität herzustellen.
Eine solche Unterstützung liegt auch im Interesse des gesamten Eurogebiets, da so ein Übergreifen von Krisen auf andere Länder verhindert wird.
Entscheidend ist, dass Anpassungen stattfinden, dass in den betroffenen Ländern Regierung und Opposition geschlossen hinter den notwendigen Maßnahmen stehen, und dass die übrigen Länder, die Hilfen finanzieren, die Umsetzung der Maßnahmen konsequent überwachen.
Bleiben diese Maßnahmen allerdings erfolglos, dann muss eine zweite Stufe deutlich anders ausgestaltet sein.
Würden wir zu weit gehen, wenn in einer solchen zweiten Stufe eine direkte Einflussnahme durch Institutionen des Eurogebiets auf die Wirtschaftspolitik in dem betroffenen Land möglich wäre? Für den Fall, dass dessen Wirtschaftspolitik nachhaltig schädlich ist? Eine direkte Einflussnahme, die weit über die derzeit geplante Überwachung hinausgeht?
Die Grundidee dieses Ansatzes ist, eine Balance herzustellen zwischen der Unabhängigkeit der Länder einerseits und der Interdependenz ihres Handelns andererseits, insbesondere in außergewöhnlichen Situationen.
Wir sehen derzeit deutlich, wie das Verständnis von Souveränität durch die Europäische Union – und insbesondere durch die Wirtschafts- und Währungsunion – berührt wird. Interdependenz bedeutet, dass Länder bereits heute de facto nicht vollkommen unabhängig sind in ihrer Wirtschaftspolitik. Eine unsolide Politik in einem Land kann zu einer Krise in einem anderen Land führen.
Mit einer solchen neuen zweiten Stufe würden wir das derzeitige System aus Überwachung, Empfehlungen und Sanktionen grundlegend ändern.
Im derzeitigen System trifft das betroffene Land sämtliche Entscheidungen; auch dann, wenn es die Empfehlungen nicht umsetzt und sein Handeln anderen Ländern schadet.
In einem neuen System wäre es nicht nur möglich sondern in manchen Fällen sogar zwingend, dass in der zweiten Stufe europäische Institutionen – der Rat, basierend auf einem Vorschlag der Kommission in Zusammenarbeit mit der EZB – Entscheidungen treffen, die auf die betroffene Volkswirtschaft durchgreifen.
Eine Möglichkeit der praktischen Umsetzung wäre, dass europäische Institutionen ein Veto gegen bestimmte wirtschaftspolitische Entscheidungen eines Landes einlegen könnten. Ein solches Veto könnte beispielsweise wichtige Haushaltsentscheidungen betreffen oder grundlegende Entscheidungen, die für die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes ausschlaggebend sind.
Eine Langfristperspektive
Blicken wir ferner in die Zukunft und fragen uns: Wie soll der künftige politische und institutionelle Rahmen Europas aussehen?
Nach Immanuel Kant werden sich zwischen voneinander abhängigen Ländern so lange Institutionen entwickeln, bis sich ein stabiles Gleichgewicht eingestellt hat. Ein Gleichgewicht, das sich, so Kant, selber trägt.
Vor 35 Jahren schrieb Jean Monnet in seinen Memoiren: „Niemand kann heute sagen, welche Form das Europa haben wird, in dem wir morgen leben werden, denn die zukünftigen Veränderungen gehen aus heutigen Entwicklungen hervor und sind als solche unvorhersehbar.“
Europa hat das Konzept und den Begriff der „Demokratie“ entwickelt. Nun steht es vor der Aufgabe, das zu vollenden, was es eine „Union“ von Staaten nennt.
Der künftige politische und institutionelle Rahmen wird keine Nachahmung bestehender Modelle sein. Die Europäer werden vielmehr ein neues Modell schaffen, wie damals, als sie die Demokratie entwickelten; zum Beispiel eine Union in einer gänzlich neuartigen Form der Konföderation souveräner Staaten. Hierfür sind grundlegende Änderungen des Vertrags nötig, und auch die Aufgaben der Union werden sich ändern.
Wäre es zu kühn, sich eine Union vorzustellen, die nicht nur einen gemeinsamen Markt, eine gemeinsame Währung und eine gemeinsame Zentralbank hat, sondern auch ein gemeinsames Finanzministerium?
Ein solches europäisches Finanzministerium sollte nicht unbedingt ein großes europäisches Budget verwalten. Ich denke eher an ein Finanzministerium mit direkten Zuständigkeiten in drei Bereichen. Erstens: Aufsicht über Haushaltspolitik und Wettbewerbsfähigkeit sowie den Durchgriff auf die Wirtschaftspolitik der Länder, die sich in der eben beschriebenen „zweiten Stufe“ befinden. Zweitens: alle typischen Zuständigkeiten eines Finanzministeriums in Bezug auf den integrierten Finanzsektor der Union. Dies sollte mit der vollständigen Integration dieses Sektors einhergehen. Drittens: Vertretung der Union in internationalen Institutionen.
Welche Institution in dieser Konföderation souveräner Staaten diese Verantwortlichkeiten ausfüllen wird, werden die Bürger Europas entscheiden, wie Jean Monet bereits gesagt hat.
Ich bin sicher, dass der Präsident des Europäischen Rates, der Präsident der Kommission, der Präsident der Eurogruppe sowie der deutsche Finanzminister – die alle hier anwesend sind – haben Ihre eigenen Vorstellungen in dieser Frage.
Abschließende Bemerkungen
Damit komme ich zu meinen abschließenden Bemerkungen.
Erlauben Sie mir, auch als Zentralbanker, einige Gedanken zum Thema Kultur – ganz im Sinne von Jean Monnet, der sagte: „Wenn ich noch einmal von vorne anfangen müsste, würde ich mit der Kultur beginnen.“
Die Wurzeln des Projektes Europa liegen in seiner kulturellen Einheit.
Ich möchte zwei Visionen der kulturellen Einheit Europas anführen:
Die Vision Husserls in seiner berühmten Wiener Rede vom Mai 1935. Er schreibt hier den Ursprung des europäischen Denkens der Philosophie zu. Um Husserl zu zitieren: „(…) es ist nun auch ersichtlich, dass von hier aus eine Übernationalität völlig neuer Art entspringen konnte. Ich meine natürlich die geistige Gestalt Europas. Es ist nicht mehr ein Nebeneinander verschiedener, nur durch Handel- und Machtkämpfe sich beeinflussender Nationen, sondern: Ein neuer, von Philosophie und ihren Sonderwissenschaften herstammender Geist, freier Kritik und Normierung auf unendliche Aufgaben hin, durchherrscht das Menschentum, schafft neue, unendliche Ideale!“
Die Vision von Paul Valéry. Er betont den geistigen Charakter Europas in seinem Essay „L’Européen“ von 1924: „Überall dort, wo die Namen von Cäsar, Gaius, Traian und Virgil, überall dort, wo die Namen von Moses und dem Heiligen Paulus, überall dort, wo die Namen von Aristoteles, von Platon oder Euklid Bedeutung und Gewicht besitzen, dort ist Europa“.
In Zeiten von globalen Herausforderungen und Krisen ist eine Rückbesinnung auf die „geistige Form Europas“ sehr aufschlussreich.
Husserl beendete seine Rede mit folgenden visionären Worten: „Die Krise des europäischen Daseins hat nur zwei Auswege: Den Untergang Europas in der Entfremdung gegen seinen eigenen rationalen Lebenssinn, den Verfall in Geistfeindschaft und Barbarei, oder die Wiedergeburt Europas aus dem Geiste der Philosophie durch einen den Naturalismus endgültig überwindenden Heroismus der Vernunft (…).“
Ich denke, dass eine neue Form der Konföderation souveräner Staaten mit neuen Institutionen zur Steuerung der Interdependenz von integrierten Volkswirtschaften, durchaus mit einem solchen „Heroismus der Vernunft“ im Einklang stünde.
Die Stadt Aachen ist für die Menschen in Europa insgesamt und auch für Deutschland und Frankreich von besonderer Bedeutung.
Als französischer Staatbürger auf deutschem Boden ist mir bewusst, dass das europäische Projekt mit der Erklärung Robert Schumans begann. Das europäische Projekt gründete auf der Verbindung unserer beiden Länder.
Dies geschah zum Wohle auch aller anderen Nationen und Europas als Ganzem. Und letztlich dient es auch der Integration unserer Volkswirtschaften, Währungen sowie dem Euro.
Für mich war es ein großes Privileg, in meiner beruflichen Laufbahn hierzu einen Beitrag zu leisten.
In den beinahe acht Jahren, die ich in Deutschland lebe, habe ich das Land, seine Kultur und seine Geschichte sehr zu schätzen gelernt.
Deutschland verbindet lokale, regionale und nationale Identitäten mit einer starken europäischen Identität, die sich alle gegenseitig bedingen und stärken.
Das ist „Einheit in Vielfalt“ – ein starkes Ganzes mit gleichermaßen starken Einzelteilen.
Dies gilt auch für Europa. Doch um weiter voranzukommen, müssen die europäischen Nationen weiterhin Führung an den Tag legen. Es ist entscheidend, dass sich alle Länder dem europäischen Projekt verschreiben und mit Zuversicht in die Zukunft blicken.
Es gibt viele Gründe dafür, zuversichtlich zu sein.
Europa ist ein Beispiel für die friedliche Zusammenarbeit von Nationen.
Wir setzen auf Kooperation und Konsens – nicht auf Konfrontation und Konflikt.
Wir haben politische Freiheit mit wirtschaftlicher Freiheit und sozialem Zusammenhalt verknüpft.
Wir haben bewiesen, dass unsere Währung, der Euro, stabil und glaubwürdig ist und Preisstabilität über die Zeit gewährleistet.
Setzen wir dieses noble Unterfangen fort, indem wir Europa, heute und in der Zukunft die Institutionen geben, die es verdient.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.