Wir ehren den Premierminister Luxemburgs, wir ehren einen der engagiertesten Europäer, und wir ehren - darüber freue ich mich besonders - einen langjährigen politischen Weggefährten und treuen Freund. Ich freue mich mit dir, lieber Jean-Claude, daß du mit diesem hohen Preis ausgezeichnet wurdest. Es ist für mich eine große Ehre und vor allem Freude, heute auf dich diese Rede zu halten.
Uns verbindet eine Freundschaft von über einem Vierteljahrhundert. Ich habe dich in dieser Zeit als treuen und zuverlässigen Freund schätzen gelernt. Du hast im Auf und Ab der Zeiten immer zu mir gestanden. Für dich ist Treue ein wesentlicher Teil deiner Persönlichkeit. Vor allem: Was du sagst, das tust du auch. Das ist eine Eigenschaft, die - wenn ich das richtig sehe - immer seltener wird. Du scheust dich nicht, auch unangenehme Wahrheiten unverblümt zu sagen. Aber dein freundliches Wesen, ja dein Charme macht es leichter, sie zu ertragen. Du kannst herzlich lachen, auch über dich selbst. Der Satz des Papstes Johannes XXIII.: "Giovanni, nimm dich nicht so wichtig!" könnte von dir stammen.
Du bist ein realistischer Optimist, und das heißt auch, du bist ein nachdenklicher und abwägender, in die Zukunft blickender Mann. Optimistisch warst und bist du auch in Sachen Europa. Ich glaube, nur wenn man eine optimistische Grundhaltung hat, kommt man in der Europapolitik überhaupt weiter. Wer beim Bau des Hauses Europa gleich verzagt, nur weil es nicht so schnell geht, wie man möchte, der hat schon verloren. Du hast nie am Erfolg der Einigung Europas gezweifelt. Du hast mit Tatkraft und Engagement geholfen, daß dieses Haus Europa größer und stabiler geworden ist.
Karl der Große gilt als der "Pater Europae", als der "Vater Europas". Unter seiner Regentschaft wurde der Name Europa lebendig. Hier, in Aachen, wurde er gekrönt. Karl der Große regierte einen Vielvölkerstaat, der sich von den Pyrenäen bis an die Elbe und von der friesischen Küste bis nach Rom erstreckte. Ich finde es gut, daß hier in Aachen im Andenken an Karl den Großen Persönlichkeiten geehrt werden, die sich um Europa und die europäische Einigung besonders verdient gemacht haben. Das Karlspreisdirektorium hat eine weise Entscheidung getroffen, den Karlspreis 2006 an Jean-Claude Juncker zu vergeben. Er ist ein Mann, der immer für die Einigung Europas gearbeitet hat. Sein Eintreten für Europa ist auch in seiner Biographie angelegt: Nicht nur, da er in Straßburg studierte und dort schon in jungen Jahren europäisches Flair erlebte. Vor allem, als er dann eine steile Karriere in der luxemburgischen Politik machte, arbeitete er von Anfang an mit Persönlichkeiten zusammen, die an die Einigung Europas glaubten: Ich nenne zum Beispiel Premierminister Pierre Werner, der Jean-Claude Juncker mit erst 28 Jahren zum Staatssekretär für Arbeit und Soziale Sicherheit berief. Werner war von der Idee Europa begeistert. Er hatte schon Ende der sechziger Jahre in 2 seinem "Werner-Plan" Gedanken entwickelt, wie eine Wirtschafts- und Währungsunion in Europa durchgesetzt werden könnte.
Eine wichtige Persönlichkeit auf deinem Weg war Premierminister Jacques Santer, in dessen Regierung du als Arbeits- und Finanzminister tätig warst. Auch er ist ein leidenschaftlicher Europäer und wurde nach dem Abgang von Jacques Delors Präsident der Europäischen Kommission.
Schon 1991 setzte Jean-Claude Juncker als Finanzminister für Luxemburg eine erfolgreiche Steuerreform durch. Sie ermöglichte dem kleinsten Land in der EU, als erstes und einziges Mitglied der Europäischen Union bereits 1994 die im Maastrichter Vertrag festgelegten Beitrittskriterien zur Währungsunion zu erfüllen. Juncker wurde 1995 mit 41 Jahren der jüngste Premierminister Luxemburgs. Aber aufgrund seines frühen Eintritts in die Regierung gehörte er schon zu den Erfahrenen. Er war immer ein Energiebündel, denn er behielt neben seinem Amt als Premierminister auch seine bisherigen Ministerämter für Arbeit und Finanzen und übernahm zusätzlich noch das Schatzressort des Großherzogtums. Diese Arbeitsbelastung hinderte ihn nicht daran, sich noch mehr für die Sache Europa zu engagieren. Vor allem trat er dafür ein, den Vertrag von Maastricht nicht aufzuweichen und die Beitrittskriterien für die Währungsunion strikt einzuhalten. Dafür kämpfte er besonders beim EU-Gipfel im Dezember 1996 in Dublin mit viel Kraft und Energie. Es ist seiner, aber auch Theo Waigels Vermittlungskunst zu verdanken, daß wir in Dublin nach einem langen Verhandlungsmarathon den Stabilitätspakt für den Euro durchsetzen konnten. Trotz aller Einsprüche und Ausreden mancher Regierender sind die Stabilitätskriterien eine entscheidende Voraussetzung für das wirtschaftliche Wachstum der EU. Wir dürfen es deshalb nicht zulassen, daß die Stabilitätskriterien aufgeweicht werden. Bereits die Diskussion darüber ist schädlich für das Vertrauen in die Wirtschaftskraft der Europäischen Union.
Jean-Claude Juncker und ich sind uns bei vielen Treffen der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union begegnet. Er beeindruckte mich und viele andere damit, wie sachkundig und gut vorbereitet er auf Sitzungen auftrat. Er versteht etwas von den Staatsgeschäften, und zwar in allen Bereichen, sei es in der Finanz-, Wirtschafts- oder Europapolitik. Ihm gelingt es immer wieder, den Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen zu schaffen. Gleichzeitig ist er klug genug, als Premierminister Luxemburgs die Interessen seines Landes zu wahren. Bei aller Leidenschaft für das, wovon er persönlich überzeugt ist, bleibt er gesprächsfähig. Das hat ihn zu einem gefragten Gesprächspartner, einem geschätzten Verhandlungsführer und zu einer allseits geachteten Führungspersönlichkeit in Europa gemacht. Es gibt wenige in Europa, die seinen Rang als Verhandlungsführer erreichen.
Jean-Claude Juncker ist ein überzeugter, gläubiger Christ. Er gehört nicht zu denen, die viel über ihren Glauben reden. Das christliche Menschenbild ist ihm eine klare persönliche Orientierung im Alltag. Und so ist es ganz selbstverständlich, daß die Gemeinschaft der Christlichen Demokraten seine politische Heimat war und ist. Vor dem Hintergrund seiner Überzeugung hat es ihn - wie auch mich - betroffen gemacht, mit welcher Ignoranz und Intoleranz die Vertreter mancher Länder die Erwähnung Gottes in der Präambel des Verfassungsvertrages verhinderten. Unser Kontinent, unser Europa, ist in seiner Geschichte von der Antike, der Aufklärung und vor allem vom Christentum geprägt. Deshalb steht es dem Text dieser Verfassung gut an, deutlich zu sagen, was unsere Kultur und unser Denken über Jahrhunderte bis heute prägt. Jean-Claude Juncker kommt aus dem zweitkleinsten Land der Europäischen Union. Er hat - wie Jacques Santer und Pierre Werner - Großes für die Einigung Europas getan. Das zeigt einmal mehr: Die kleinen Länder in der Europäischen Union verdienen genauso viel Achtung wie die großen. Die Bedeutung eines Mitgliedstaates läßt sich nicht an seiner Einwohnerzahl oder an Quadratkilometern messen. Winston Churchill hat uns zu dieser Frage in seiner berühmten Rede an die Jugend Europas vom 19. September 1946 in Zürich Wegweisendes ins Stammbuch geschrieben. Er erkannte schon vor 60 Jahren - auch aus den bitteren Erfahrungen der europäischen Geschichte -, daß die Mitgliedstaaten in ihrer Bedeutung nicht allein nach materiellen Faktoren beurteilt werden können: "Kleine Nationen werden soviel wie große gelten und sich durch ihren Beitrag für die gemeinsame Sache Ruhm erringen können." Francois Mitterrand und ich waren immer der Meinung, mehr als das Kriterium der Quantität müsse das der Qualität gelten. Vor diesem Hintergrund finde ich Überlegungen abwegig, eine Art Direktorium von drei oder vier größeren Ländern zu bilden, die in der EU vorangehen sollten. Die Frage stellt sich doch sofort, wer denn Mitglied eines solchen Direktoriums werden soll und wer nicht. Ich 3 kann auch nicht erkennen, was ein solches Bündnis innerhalb der Europäischen Union bewirken kann. Hüten wir uns vor Alleingängen in der EU! Es muß ein gleichberechtigtes Nebeneinander aller geben. Der Respekt vor dem anderen, dem Nachbarn, ist auch in Zukunft von entscheidender Bedeutung. Wir geben in der EU unsere nationale Identität nicht auf. Wir bleiben Luxemburger oder Deutsche, Franzosen oder Finnen. Wir sind europäische Deutsche und deutsche Europäer.
Sein erstes Ministeramt übernahm Juncker Anfang der achtziger Jahre. Die Stimmung war schlecht. Pessimismus und europäische Untergangsstimmung waren weit verbreitet. Als ich 1982 als Bundeskanzler bei meiner ersten Konferenz als Regierungschef den EG-Gipfel in Kopenhagen besuchte, sprachen viele, die sich über die Europapolitik äußerten, von Eurosklerose - der Begriff einer schlimmen Krankheit, gepaart mit der Idee Europas. Dennoch wurde die Idee der Einigung Europas die größte Erfolgsgeschichte des modernen Europa. Anfang der achtziger Jahre hatte die Europäische Gemeinschaft zehn Mitglieder - heute sind es 25! Damals gab es zwar schon den Ecu, aber noch nicht die gemeinsame Währung, den Euro - wie heute. Damals teilte ein Eiserner Vorhang ganz Europa - heute gehören acht Länder aus dem untergegangenen Warschauer Pakt zur Europäischen Union. Die Mauer ist gefallen, Deutschland und Europa sind vereint. Wir alle kennen die Schwierigkeiten und Probleme, die ich ganz gewiß nicht leugnen will. Aber Bau und Ausbau Europas gehen weiter.
Wenn ich vor Studenten in europäischen Ländern spreche, sehe ich eine junge Generation, für die unser europäisches Haus längst selbstverständlich ist. Diese jungen Frauen und Männer haben sich im 21. Jahrhundert in Europa eingerichtet. Sie wissen, daß unser europäisches Haus uns vor allem Frieden und Freiheit garantiert. Und sie wissen, daß wir in Europa gemeinsam mit unseren Freunden unseren Beitrag für den Frieden in der Welt leisten können.
Jean-Claude Juncker hat mit seinem unermüdlichen Engagement großen Anteil daran, daß die Einigung Europas eine Erfolgsgeschichte wurde. Er hat mit Leidenschaft am Bau des Hauses Europa mitgewirkt. Für ihn war und ist Europa Herzenssache! Lieber Jean-Claude - es ist ein Glück für Europa, daß es dich gibt!