Rede von Jacques Delors

Rede von Jacques Delors

Verehrte Damen und Herren,

Von ganzem Herzen danke ich Ihnen für den Karlspreis, den ich heute erhalte. Aber bitte bedenken Sie auch, daß mit dem Preis von 1992 alle bekannten und unbekannten Architekten unseres Europas geehrt werden.

Wenn wir uns heute auf Karl den Großen besinnen, dann erkennen wir, daß sich Europas Geschichte nicht auf die Geschichte seiner Nationalstaaten beschränkt. Europa ist die Klammer, geographisch, politisch, wirtschaftlich, gesellschaftspolitisch, aus der diese Staaten hervorgegangen sind. Die Perspektive des Großen Europas bringt uns dazu, diese Verbindung wiederzuentdecken und zu beachten, wenn es darum geht, die Familie der Europäischen Gemeinschaft zur erweitern.

Wir wissen: die geistesgeschichtlichen Wurzeln unseres europäischen Gemeinschaftsprojektes und die Erkenntnis, daß Einheit auch in der Vielfalt möglich ist, reichen weit zurück. Erst der übersteigerte Nationalismus mit seinen vielen Kriegen und unermeßlichen Opfern hat den Wunsch in Europa gestärkt, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen.

Die Europäische Gemeinschaft ist das bisher erfolgreichste Ergebnis dieser Bemühungen. Von der Montanunion über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zur Europäischen Gemeinschaft hat sich der Zusammenhalt ständig vertieft. In Maastricht haben wir den Grundstein zur Europäischen Union gelegt mit einer gemeinsamen Währung, einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik.

Die Ergebnisse, die wir bisher erzielt haben, weisen die Richtung für die Zukunft. Freilich zu einer Bedingung: Die Bürger Europas müssen wirklich das Gefühl haben, an diesem gemeinschaftlichen Abenteuer beteiligt zu sein.

In der Tat: Ohne demokratische Vertiefung hätte die Gemeinschaft weder die Kraft noch den Zusammenhalt, noch die notwendige Legitimität um den Herausforderungen dieser Welt heute und in Zukunft gerecht zu werden.

Zurück zum Europa der Bürger

Letztlich sind es die Bürger, die Europa verwirklichen werden. Der Karlspreis wurde 1949 auf Initiative Aachener Bürger gegründet, ein Jahr nach der Konferenz von Den Haag, bei der unter dem Vorsitz von Winston Churchill 800 Politiker und Persönlichkeiten aus ganz Europa zusammenkamen. Dieser Kongreß legte den Grundstein zur Begeisterung, mit der die Architekten Europas ans Werk gingen. Er zeigte aber auch schon die Meinungsverschiedenheiten darüber, wie das Werk letztlich verwirklicht werden kann. Der Kongreß von Den Haag, das war Europa von oben betrachtet.

Aachen dagegen, das war das Europa der Bürger, das von unten, von der Basis her wächst. Mit bemerkenswerter Intuition erkannten die Bürger, daß Europa nur durch ihre Beteiligung und ihre Mitbestimmung möglich ist.

Dann kam die Zeit der politischen Initiativen. Es ist nicht notwendig, sie alle aufzuzählen und über ihre Erfolge oder ihr Scheitern zu philosophieren. Aber je mehr die Politiker über gemeinsame Verteidigung, gemeinsamen Markt oder Zusammenlegung der Ressourcen wie Stahl, Kohle und Atomenergie sprachen, um so größer wurde erneut der Abstand zwischen denen, die an das Europa von morgen dachten und denjenigen, die im Europa von damals lebten.

Trotz dieser Distanz wuchs Europa, in einer Art nützlicher Zwangsläufigkeit. Je erfolgreicher die Europäische Gemeinschaft wurde, um so mehr bemühten sich viele politisch Verantwortlichen, sie den Bürgern näher zu bringen. Man setzte Zeichen: 1979 mit der Direktwahl zum Europaparlament. Mit der Erweiterung der Kompetenzen des Parlaments durch die Einheitliche Europäische Akte.

Je näher wir dem Zieldatum 1993 rücken, je mehr die Bestimmungen der Einheitlichen Europäischen Akte alle Bereiche wirtschaftlichen Handelns durchdringen, um so stärker berührt Europa die Bürger unmittelbar, sei es im Beruf, sei es als Verbraucher. So entdecken die Bürger Europa neu, freilich ein Europa, in dem sich Unkenntnis, Hoffnung und Beklommenheit vereint.

Jetzt, da die Verträge von Maastricht eine neue Ära einleiten, bemühe ich mich mit anderen, die Bindung Europas an den Bürger zu stärken und die politische und demokratische Kontrolle gemeinschaftlichen Handelns zu verwirklichen.

Die Frage nach der Demokratie in Europa bleibt gestellt. Nicht nur, weil immer mehr Entscheidungen inzwischen auf Gemeinschaftsebene getroffen werden. Sondern auch, weil unsere nationalstaatlichen Demokratien häufig Schwächesymptome zeigen, gebeutelt vom Schlagstock der Medien und der politisch-technischen Komplexität der Probleme, die private Schicksale und die gemeinsame Zukunft betreffen.

Der Demokratisierungsprozeß setzt natürlich voraus, daß man Europa mit einer politischen Persönlichkeit ausstattet. Die Politische Union, um den Begriff von Maastricht zu verwenden, erlaubt es der Europäischen Gemeinschaft, stärker als in der Vergangenheit ihren eigenen Standpunkt in internationalen Angelegenheiten zur Geltung zu bringen. Die Außen- und Sicherheitspolitik ist ein Herzstück im Vertrag zur Politischen Union. Es bleibt zu hoffen, daß diese Politik rasch positive Ergebnisse erzielt, die es der Gemeinschaft erlauben, mit einer Stimme zu sprechen und, wenn erforderlich, kohärent und mit Einfluß zu handeln. Die Politische Union ist die notwendige Ergänzung der Wirtschafts- und Währungsunion. Sie soll den Bürgern die Angst nehmen, daß ihre Belange von einer fernen Technokratie entschieden werden, ohne daß sie selbst oder ihre gewählten Vertreter ein Wort mitzureden haben.

Die Stärkung des Gefühls, zu Europa zu gehören, ist unverzichtbar, reicht aber nicht aus. Der Aufbau Europas kann nur dann gelingen und unseren Erwartungen entsprechen, wenn er drei entscheidende Bedingungen erfüllt: die Beteiligung der Bürger, die entschiedene Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und die Achtung der Vielfalt.

Die Beteiligung der Bürger ist nicht nur eine institutionelle Frage. Dies erklärt die Bedeutung, die wir dem sozialen Dialog, der Förderung des Verbandswesens und dem Austausch innerhalb der Gemeinschaft beimessen. Gleichzeitig geht es darum, auf der Grundlage der Volkssouveränität
- sei es im Europaparlament oder in den nationalen Parlamenten - alle Gemeinschaftsthemen zu behandeln und es der EG-Kommission ihrerseits zu ermöglichen, gegenüber den gewählten Vertretern Rechenschaft abzulegen.

Die Aufgabe würde durch die volle Anwendung des Subsidiaritätsprinzips erleichtert. Dieses Prinzip zieht eine klare Trennlinie und sagt uns, wer was tun soll. Sein Grundgedanke ist einfach: die Probleme sind so bürgernah wie möglich zu behandeln und zu entscheiden. Ist das wirklich der Fall in allen Bereichen, in denen die Kommission heute entscheidet? Ich bin nicht sicher und wir müssen diese Frage beantworten, sobald der Vertrag über die Politische Union in Kraft tritt. Dazu muß das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedsstaaten gestärkt werden, was Kontrolle und Auseinandersetzung, wie sie zu jeder Demokratie gehören, nicht ausschließt, Vertrauen und Familiengefühl müssen es der Gemeinschaft erlauben, sich in ihrer ganzen Vielfalt zu entwickeln.

Bürger, die - jeder nach seinem Vermögen - an einem klar definierten institutionellen Netz mitwirken, das ist unser Ziel, Bundeskanzler Kohl hat diesen Gedanken in seiner Rede vom 1. November 1988 anläßlich der Verleihung des Karlspreises wie folgt ausgedrückt:

,,Niemand kann ernsthaft daran denken, die Unterschiede zwischen den Völkern einebnen zu wollen, ihre Eigenheiten, ihre unterschiedlichen Charaktere gleichsam wegwischen zu wollen. Wir müssen uns vielmehr den Reichtum an Kulturgütern, an geistigen Entwicklungen der verschiedensten Art, nutzbar machen".


Ein offenes Europa, aber nicht zum Nulltarif

Die Gemeinschaft braucht selbstbewußte Bürger, die sich am Aufbau Europas beteiligen. Nur so kann sie ihrer Verantwortung gerecht werden und, so hoffe ich, ihre großen Pläne verwirklichen. Die Herausforderungen sind da, ob im Süden, im Osten oder in den Entwicklungsländern. Werden wir sie meistern? Sicher nicht durch den Rückgriff auf das klassische Nebeneinander der Nationen, eine Formel, die in Wirklichkeit meist nur Menschenverachtung und Egoismus verbirgt.

Heute ist eine einseitig national ausgerichtete Politik ein Luxus, den sich niemand mehr politisch und ökonomisch leisten kann. Sie wäre eine Gefahr, weil Europa erneut zerrissen und destabilisiert würde. Hüten wir uns deshalb vor dem Bazillus des neuen Nationalismus wie er uns derzeit im Osten Europas erneut in seinen schrecklichen Auswirkungen vorgeführt wird. Wir müßten uns Kurzsichtigkeit und politisches Versagen vorwerfen, wenn wir populistischen Stimmungen, die derzeit aus Unsicherheit und Zukunftsängsten geboren werden, nachgeben.

Lassen Sie uns gemeinsam solch irrationalen Ängsten begegnen, durch eine Politik klarer Verpflichtungen, die wir gemeinsam eingehen. Gemeinsam müssen wir unseren Bürgern deutlich machen, daß in unserer heutigen eng verflochtenen Welt Entwicklung und Frieden nur durch Zusammenarbeit, nicht durch den Rückfall in nationale Egoismen des letzten Jahrhunderts möglich ist.

Ohne Frieden im Osten ist der totale Umbau der vom Kommunismus geerbten Gesellschaftssysteme kaum zu leisten. Umgekehrt ist ohne wirtschaftliche Erfolge und ohne Anhebung des Lebensstandards die Entwicklung zu rechtsstaatlichen und demokratischen Verhältnissen und eine friedliche Bewältigung der unzähligen potentiellen Konflikte nur schwer vorstellbar.

Deshalb trägt die Gemeinschaft wesentlich zur wirtschaftlichen Entwicklung im Osten Europas bei. Sie koordiniert die wirtschaftliche Hilfe des Westens, der seit dem Systemumbruch in Osteuropa über 30 Milliarden ECU an Hilfen zur Verfügung gestellt hat, 75% dieser Hilfe wird von der Gemeinschaft und ihren Mitgliedsstaaten aufgebracht, insbesondere für Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei. Dazu kommt die Öffnung unserer Märkte für die Produkte dieser Länder, was auch bei uns zu Einschränkungen führt.

Im Dezember letzten Jahres hat die Gemeinschaft Assoziierungsverträge, sogenannte Europaabkommen, mit Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei abgeschlossen. Vergleichbare Abkommen mit anderen Staaten Osteuropas sind in Vorbereitung. Sie eröffnen Osteuropa die Möglichkeit, sich später gleichberechtigt am europäischen Binnenmarkt zu beteiligen. Das wird die Arbeitsteilung in Europa ändern. Einige arbeitsintensive Produktionen werden in den Osten verlagert. Ein Grund mehr, um den wirtschaftlichen Strukturwandel voranzutreiben sind, neue Arbeitsmöglichkeiten in technologisch anspruchsvollen Bereichen zu eröffnen. Die Integration Osteuropas in unserem Wirtschaftsraum wird sich nicht ohne Zugeständnisse und Anpassungszwänge vollziehen.

Allerdings, und dies will ich auch deutlich sagen: die Staaten Mittel- und Osteuropas und die neuen Republiken der ehemaligen Sowjetunion werden sich daran gewöhnen müssen, nicht nur die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen zu entwickeln, sondern auch untereinander zu kooperieren.

Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an die höchst erfolgreiche Idee der Gründer unserer Gemeinschaft: wirtschaftliche Zusammenarbeit sollte die Grundlage für zunehmende politische Zusammenarbeit schaffen. Diese Idee könnte Modell auch für die osteuropäischen Staaten und die Staaten der GUS sein. Die Vereinigten Staaten hatten uns Westeuropäer nach dem Krieg im Rahmen des Marshall-Plans zur wirtschaftlichen Kooperation angehalten. Zusammenarbeit war somit die Bedingung für Wirtschaftshilfe, der Kontrollmechanismus war die Europäische Zahlungsunion. Dieses Modell hat sich damals sehr bewährt. Wir sollten heute wieder darauf zurückgreifen.

Andererseits brauchen die Staaten Mittel- und Osteuropas die Gewißheit, Teil Europas zu sein. Wir müssen ihren Menschen eine klare Perspektive bieten, um ihre Bereitschaft zu fördern, die großen Opfer, die im Rahmen der Reform ihres Wirtschaftssystems erforderlich sind, zu ertragen und ihre jungen Demokratien zu stabilisieren.

Vergessen wir über die Beschäftigung mit dem Osten nicht den Süden. Die Bevölkerung der arabischen Welt wird sich in den nächsten 25 Jahren auf rund 400 Millionen Menschen verdoppeln. Bei anhaltender wirtschaftlicher Stagnation und gleichzeitiger Bevölkerungsexplosion wird eine Armutswanderung nach Norden einsetzen. Wir haben keine andere Wahl, als mit allen Kräften zu versuchen, wirtschaftliche Entwicklung auch im Süden in Gang zu bringen.

Die Rio-Konferenz im nächsten Monat bringt die Dritte Welt, den Planeten der Armen, erneut auf die internationale Bühne. Zu leicht verdrängen wir, daß die Welt nicht nur aus den 800 Millionen Menschen unserer Industriestaaten besteht, sondern aus über 5 Milliarden.

In Rio wird vielen bewußt werden, was Indira Gandhi schon vor Jahren sagte: "Armut ist der größte Feind der Umwelt!" Der Süden wird uns auch daran erinnern, daß unsere 800 Millionen Menschen im Norden, also 17 % der Weltbevölkerung, rund vier Fünftel der Weltenergie und -rohstoffe verbrauchen. Mit unseren Konsum- und Produktionsgewohnheiten tragen wir den Großteil zur Zerstörung der globalen Umwelt bei.

Um Hilfe leisten zu können, die man von uns erwartet, im Osten wie im Süden, muß die Europäische Gemeinschaft wirtschaftlich und technologisch stark sein. Die Vollendung des Binnenmarktes hat insofern unserer Gemeinschaft neue Dynamik gegeben.

Der Binnenmarkt allein genügt jedoch nicht, um die wirtschaftliche und soziale Integration unserer Gemeinschaft voranzubringen. Die Solidarität mit den benachteiligten oder zurückgebliebenen Regionen tritt dazu. Wir praktizieren diese Solidarität auch in den neuen deutschen Bundesländern, um ihre wirtschaftliche Entwicklung zu fördern. Es ist notwendig, den sozialen Zusammenhalt unserer Gemeinschaft weiter zu festigen, wie es die Kommission in ihren gemeinsamen Politiken für die Jahre 1993-1997 vorgeschlagen hat. Denn eine politische Union und eine Währungsunion ist nicht vorstellbar, wenn einige unserer Länder und Regionen weiterhin 50% unter dem durchschnittlichen Einkommen der Gemeinschaft liegen.

Sie sehen: Wir stehen erst am Anfang des Weges zu einer neuen Weltordnung. Noch ist auch unser eigenes Modell nicht vollständig verwirklicht. Deshalb frage ich mich: Wie stark ist unser Wille, die Gemeinschaft zu einer politischen Macht zu entwickeln, die den weltweiten Herausforderungen begegnen und ihr Umfeld aktiv mitgestalten kann? Es geht darum, ob die Gemeinschaft ihre historische Bewährung besteht und Europa sich behauptet. Europa muß offen sein, aber es ist nicht zum Nulltarif zu haben. Es muß im Bewußtsein seiner politischen und wirtschaftlichen Kräfte handeln, seinem Friedensideal ebenso treu sein wie seiner Großzügigkeit. Das müßten unsere Freunde begreifen. Wir brauchen Europa, um unsere Selbständigkeit zu sichern, in gleichem Maße wie wir unsere Bündnisse und unsere Solidaritätsverpflichtungen bekräftigen.


Europa und Deutschland brauchen einander

Lassen Sie mich an dieser Stelle einige Worte zur Rolle Deutschlands in Europa sagen:

Die EG weiß, was sie Deutschland verdankt. Deutsche Solidarität, aber insbesondere die Bereitschaft der Deutschen, der europäischen Integration immer wieder neue Impulse zu geben, hat wesentlich dazu beigetragen, die Pläne der Gründungsväter der Gemeinschaft zu verwirklichen. Deutschland hat sich als verläßlicher Partner der Gemeinschaft erwiesen und seit 1985 Überdurchschnittliches zu deren Integration beigetragen. Sein Beitrag, um mit seinen Nachbarn in Frieden zu leben, ist beispielhaft.

Es war wohl auch diese positive Haltung der Deutschen zu Europa, die es den Europäern leicht gemacht hat, sich mit den Deutschen zu freuen, als Deutschland seine Einheit erlangte. Es war ein bewegender Augenblick von geschichtlicher Tragweite. Der Fall der Mauer ging wie ein Erdbeben durch Europa, erschütterte die Welt, an die wir uns in 40 Jahren der "Nicht-Geschichte" gewöhnt hatten. Nie werde ich die Feier zum 3. Oktober 1990 vergessen, an der teilzunehmen ich dank einer Einladung der deutschen Regierung die Ehre hatte: die Ausgelassenheit, die Freude der Menschen in den Straßen Berlins.

Ich bin sicher, in einigen Jahren gemeinsamer Anstrengungen werden die Bürger in Deutschland ihre Zuversicht zurückgewinnen. Was dann bleibt ist ein vereinigtes Deutschland, das als Ganzes seinen angemessenen Platz in der europäischen Familie innehat. Aber ich frage auch: Wäre das Recht auf Selbstbestimmung ebenso selbstverständlich zuerkannt worden, wenn es keine Gemeinschaft gäbe?

Ich habe Verständnis für die Sorgen der Deutschen. Deutschland ist nach der Vereinigung und nach den Umwälzungen im Osten wieder in seine alte geopolitische Lage in die Mitte des Kontinents gerückt. Es braucht gute Nachbarschaft im Westen wie im Osten. Es will die Gemeinschaft erweitern, aber gleichzeitig fragt es sich erstmals sehr ernsthaft nach Sinn und Machbarkeit der europäischen Einheit. Es gibt Ängste, überfordert zu werden durch die Last der Wiedervereinigung, Hilfe für den Osten und dazu noch durch höhere Finanzforderung der Gemeinschaft.

Ich verstehe auch den Stolz der Deutschen auf ihre Mark. Sie ist mehr als eine Währung. Sie ist eines der markantesten Symbole des Deutschlands von heute. Aber hat Deutschland nicht auch großen wirtschaftlichen Nutzen gezogen aus dem Erfolg des Europäischen Währungssystems, das wir einer Initiative von Helmut Schmidt, Valéry Giscard d'Estaing und Roy Jenkins verdanken? Das wird auch für die Wirtschafts- und Währungsunion gelten, mit deren vollkommen unabhängigen Zentralbank.

Ich wünsche mir, daß in allen Mitgliedsstaaten die Debatte über Maastricht so geführt wird, daß unseren Bürgern bewußt wird, worum es geht. Daß die Weiterentwicklung unserer Gemeinschaft eine Frage der Selbstbehauptung Europas in der Welt ist. Ich hoffe dabei besonders auf Deutschland. Wir müssen die erfolgreiche Zusammenarbeit der Vergangenheit fortsetzen, auch und insbesondere zwischen Deutschland und Frankreich. Beide Länder haben gemeinsam den Aufbau Europas geprägt. Ihre jüngste Entscheidung, ein gemeinsames Armeekorps zu schaffen, ist ein neuer historischer Schritt.

Karl der Große erinnert uns daran: Europa ist älter als seine Staaten. Mit unserer Gemeinschaft entdecken wir Europa in seiner Gesamtheit neu. Unsere Gemeinschaft ist die Konsequenz der leidvollen Geschichte Europas. Aber rechtfertigen müssen wir sie aus den Herausforderungen der Gegenwart. Die Umwälzungen im Osten eröffnen uns die Chance für ein geeintes Gesamteuropa und dauerhaften Frieden. Unsere Gemeinschaft ist als Hort der Stabilität der Ankerpunkt für die Neugestaltung unseres Kontinents. Nur als Gemeinschaft haben wir die Kraft, auch auf Entwicklung und Frieden in anderen Teilen der Welt hinzuarbeiten. Nur wirtschaftliche Kraft erlaubt uns Großzügigkeit.

Unsere Gemeinschaft ist ein Modell für eine neue Weltordnung: keine Vorherrschaft, sondern gleiche Mitspracherechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, Solidarität und offene Grenzen. Das sind unsere Werte. Machen wir sie durch unsere Handlungen innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft deutlich.

Den deutschen Bürgerinnen und Bürgern sage ich: Vergeßt beim Bau der Zukunft nicht Europa. Europa braucht Deutschland. Deutschland braucht Europa. Ich rufe in Erinnerung, was Konrad Adenauer am 1. September 1957 anläßlich einer Rede in Recklinghausen gesagt hat: ,,Wir (die Deutschen) haben uns mit ganzer Kraft gewidmet dem Werk der europäischen Integration, weil dieses Europa unser Vaterland mit einschließt und weil es im weiteren Sinne des Wortes auch unser Vaterland ist, und weil wir nur auf diesem Wege unseren Kindern und Kindeskindern die Aussicht schaffen konnten, für ein Leben in Ruhe und Zufriedenheit".

Ich bin glücklich, heute hier in Aachen zu sein, um uns zu dem bereits erzielten Erfolg zu beglückwünschen; um unsere Ideale und Hoffnungen zu teilen.

Vielen Dank.