Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Jürgen Linden

Rede des Oberbürgermeisters der Stadt Aachen, Dr. Jürgen Linden

Verehrte Festgäste!

Was niemand zu denken wagte, begann 1989 in immer schnellerem Tempo Wirklichkeit zu werden: Europa - Europa, das sich Anfang der 80er Jahre, angesichts eines neu aufziehenden Kalten Krieges, eines abermals selbstbewußten Amerikas und eines wachsenden Konkurrenzdrucks aus Japan dem Europessimismus hingegeben hatte; Europa, dessen Brüsseler Gemeinschaftsbürokratie der ,Eurosklerose' beschuldigt wurde, Europa, das im Gerangel der Nationalstaaten auf Butterberge und Stahlkrise reduziert schien, dessen Mitglieder vor jeder Aufgabe von Souveränitätsrechten zurückschreckten und sich lieber im Theorienstreit zwischen lockerem "europäischen Staatenbund" oder festgefügtem "europäischen Bundesstaat" ergötzten -dieses selbe Europa steht unversehens im vollen, ja eigentlich revolutionären Wandel.

Ein Vierteljahrhundert hatte die Europäische Gemeinschaft den Sprung zu einer politischen Union nicht geschafft. Dann kam Mitte der 80er Jahre der Aufbruch zu neuen Ufern. Allmählich und im Zuge unendlich mühsamer Verhandlungen wuchs aus den Anstößen zu einer Europäischen Politischen Union der - zunächst wirtschaftlich bestimmte - Gedanke eines einheitlichen Binnenmarktes heraus. Die neue Architektur Europas', von der seit dieser Zeit immer wieder die Rede ist, ist vor allem das Werk seines Baumeisters: Jacques Delors.

Es ist uns eine große Ehre und Freude, als diesjährigen Träger des Internationalen Karlspreises zu Aachen, den Präsidenten der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Herrn Jacques Delors, begrüßen zu dürfen. Monsieur, le Président, je vous souhaite la bienvenue à Aix-la-Chapelle; nous sommes très heureux d'honorer aujourd'hui, en votre personne, l'architecte de la nouvelle maison européenne encore en construction.

Mit ihm begrüße ich die Karlspreisträger früherer Jahre:

  • den Karlspreisträger 1951, den vormaligen Rektor des Europa-Kollegs, Herrn Prof. Dr. Hendrik Brugmans
  • den Karlspreisträger 1963, den vormaligen britischen Premierminister Sir Edward Heath
  • den Karlspreisträger 1967, den ehemaligen Minister für Auswärtige Angelegenheiten des Königreiches der Niederlande und früheren Generalsekretär der NATO, Herrn Dr. Joseph Luns
  • für die Karlspreisträger 1969, die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, den damaligen Vizepräsidenten Dr. Fritz Hellwig und Kommissar Dr. Hans von der Groeben
  • den Karlspreisträger 1976, den ehemaligen belgischen Ministerpräsidenten, Herrn Leo Tindemanns
  • den Karlspreisträger 1977, den vormaligen Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Walter Scheel
  • die Karlspreisträgerin 1981, die erste Präsidentin des freigewählten Europäischen Parlaments, Madame Simone Veil
  • für den Karlspreisträger 1986, seine Königliche Hoheit Großherzog Jean von Luxemburg.

 

Eine ganz besondere Freude bereitet uns mit seiner Anwesenheit der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Herr Dr. Richard von Weizsäcker.

Herzlich grüße ich in unserer Mitte den Präsidenten der Portugiesischen Republik, Herrn Dr. Mario Soares, dem ich an dieser Stelle schon danken möchte für die große Ehre, die er uns mit der Laudatio auf den diesjährigen Preisträger erweist.

Wir grüßen mit besonderer Hochachtung in unserer Mitte den Bundeskanzler der Republik Österreich, Herrn Dr. Franz Vranitzky.

Willkommen heißen wir auch den Premierminister des Großherzogtums Luxemburg, Herrn Staatsminister Jacques Santer.

Wir freuen uns über die Anwesenheit des Präsidenten des Bundesrates und Ministerpräsidenten des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Herrn Berndt Seite.

Ich begrüße sehr gerne den Doyen des Diplomatischen Korps, Seine Exzellenz Herrn Erzbischof Dr. Lajos Kada, sowie die Botschafter der Länder Luxemburg, Niederlande, Schweiz, Norwegen, Kanada, Großbritannien, Belgien, Dänemark, Agypten, Finnland, Portugal, Zypern, Malta, Österreich, Griechenland, Türkei, Tschechoslowakei, Spanien, der Vereinigten Staaten von Amerika, Ungarn, Frankreich sowie den Vertreter Polens und den Geschäftsträger Italiens. Ebenfalls begrüße ich den Ständigen Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei den Europäischen Gemeinschaften und den Leiter der EG-Vertretung in Bonn.

Willkommen heißen wir auch den Generalsekretär der NATO, Herrn Dr. Manfred Wörner.

Besonders freuen wir uns über die Anwesenheit der Ministerin für Auswärtige Angelegenheiten von Kanada, Frau Barbara McDougall, der Ministerin für Europäische Angelegenheiten der Republik Frankreich, Frau Elisabeth Guigou, des Ministers für Industrie und Industrielle Technologie der Republik Mauritius, Herrn Cassem Uteem sowie über die Anwesenheit der Gemeinschaftsminister bei der Exekutive der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien, Herrn Bernd Gentgens und Herrn Karl-Heinz Lambertz.

Wir freuen uns über die Anwesenheit des Bundesministers des Auswärtigen, Herrn Dr. Klaus Kinkel, sowie der Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Frau Dr. Irmgard Schwaetzer.

Herzlich begrüße ich den Ministerpräsidenten unseres Landes Nordrhein-Westfalen Herrn Dr. Johannes Rau, sowie die Landesministerinnen Anke Brunn und Ilse Brusis.

Willkommen heißen wir das Mitglied der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Herrn Jean Dondelinger und die Generalsekretärin des Europarates, Frau Catherine Lalumière.
Ich begrüße den Vorsitzenden der Bundestags-Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Herrn Hans-Ulrich Klose.

Grüßen möchte ich auch die Vertreter der Kirchen, hier insbesondere den Bischof von Aachen, Herrn Prof. Dr. Klaus Hemmerle, und Herrn Landesrabbiner Abraham Hochwald. Darüber hinaus grüße ich viele weitere, namhafte Persönlichkeiten, die uns durch ihre Anwesenheit ehren. Ihnen allen, die Sie an diesem heutigen Ereignis hier im Krönungssaal oder an Radio und Fernsehen teilnehmen, gilt der aufrichtige Gruß der Stadt Aachen.

Meine Damen und Herren,
in der dunkelsten Stunde Europas - noch über den Trümmerfeldern des Zweiten Weltkrieges - wird die kreativste Antwort auf die Existenzfrage formuliert. Sie heißt: Integration, oder, wie die Gründungsväter meinen: ,,Ja" zu einer internationalen Organisation der Freiheit und zur Kristallisation der politischen Kultur.

Vieles davon wird anschließend verschüttet, als sich die Buchhalter dieser politischen Vision bemächtigen, und die Idee auf materielle Begehrlichkeiten degeneriert. Und dennoch: Bei der gegründeten Gemeinschaft handelt es sich schon um den hoffnungsvollen Nachweis, daß Gegner von gestern zu Partnern von morgen werden können.

Daß der Gedanke der europäischen Integration in den achtziger Jahren trotz aller nationalen Souveränitätsvorbehalte bei Regierungen und in der breiten Öffentlichkeit derartige Zustimmung fand, ist nicht zuletzt der Überzeugungs- und Führungskraft von Jacques Delors und einer unter seiner Regie effizienten Arbeit der EG-Kommission zuzuschreiben. Jacques Delors hat - sicher nicht allein, aber doch an entscheidender Stelle - der Gemeinschaft Konturen und Ziele gegeben. Dafür gebühren ihm Dank und Anerkennung.

Delors ist der Baumeister des europäischen Binnenmarktes. Er entwickelte wirksamere Entscheidungsprozeduren in den EG-Räten und eine Aufwertung des Europäischen Parlaments. Unter ihm wurde die Charta Sozialer Grundrechte beschlossen sowie der Vertrag über die Europäische Union. Er drängte auf mehr Kompetenzen für die EG, vor allem im Umweltbereich, bei Forschung und Technologie. Es war auch Delors, der die Partner in der Gemeinschaft vom notwendig schnellen deutsch-deutschen Einigungsprozeß überzeugte und den Blick der Zwölf auf die Assoziierung der Tschechoslowakei, Polens und Ungarns lenkte. Delors ist es, der heute Wege zu neuen Kooperationsformen mit den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern sucht.

Während die Veränderungen in Westeuropa in der von der Einheitlichen Akte vorgezeichneten Bahn verliefen, waren sie in Mittel- und Osteuropa spontan, daher unerwartet, ungeordnet und zum Teil sogar von unerhörter Dramatik. Mehr Freiheit, mehr Demokratie und auch mehr Wohlstand - das waren die Forderungen auf den Transparenten, gleichviel, ob sie durch die Straßen Warschaus oder Prags, Leipzigs oder Sofias, Budapests oder Bukarests getragen wurden.

Bei dem Versuch, das Ausmaß der Veränderungen auszuloten, kann einem schwindelig werden.

Die vergangenen Jahrzehnte hatten dazu geführt, die Teilung Europas als Konstante der Politik zu werten und sie in den Köpfen zu verankern. Seit die teilende Systemgrenze gefallen ist, tun wir uns schwer mit dem Begriff "Europa". Politisch gedacht - und geplant - war "unser" Europa eben doch nur für die westliche Allianz, niemals aber darüber hinaus.

Jetzt ist Europas Zukunft wieder offen.
Eine einmalige Chance - auch wenn die Fragen noch die Antworten überwiegen - Fragen, die durch den Zerfall der Sowjetunion, den Krieg auf dem Balkan, die europäischen Migrationsbewegungen, regionale Autonomiebestrebungen oder auch Interpretationsprobleme - wie offenkundig bei den Maastrichter Verträgen - noch besonders aufgewertet werden.

  • Wer gehört zu Europa?
  • Wo liegen seine Grenzen?
  • Wieviele Staaten kann die Gemeinschaft bis wann verkraften?
  • Welche Struktur soll Europa haben?
  • Wie ist die Strategie zu seiner Verwirklichung?
  • Was eigentlich ist die europäische Philosophie?
  • Wie steht es nicht nur mit der kontinentalen, sondern seiner globalen Position: muß nicht zeitgleich das Verhältnis Europas zur Dritten Welt neu bestimmt werden?

Radikale Umbrüche verlangen das, wozu man am wenigsten bereit ist: radikales Denken. Ob es will oder nicht, Europa kommt nicht darum herum, seine Wiederzusammenführung, seine Geisteshaltung, seine weltweite Rolle erst einmal zu denken. Genauer: Westeuropa muß sich in ein - ich wage zu sagen: neues - gesamteuropäisches Projekt einbringen.

Denkprozesse erfordern Zeit. Zeit aber scheinen wir nicht zu haben - jedenfalls solange geschossen, revoltiert oder auch gehungert wird.

Eine auch nur mittelfristig angelegte politische Strategie, die auf klar definierten Prioritäten beruht, gibt es nicht. Selbstkritisch formuliert Jacques Delors: "Die Gemeinschaft hat kein politisches Profil, sie verfügt über keine Entscheidungs- und Handlungsmechanismen, vielleicht nicht einmal über eine philosophische Grundlage, die es ihr ermöglicht, diese Probleme wirksam in Angriff zu nehmen".

Wie aber soll gehandelt werden, weil gehandelt werden muß? Früher hieß die Losung: Vertiefung der Gemeinschaft der Zwölf, alsdann schrittweise Aufnahme der neuen Mitglieder.
Heute fordert man eine Parallelschaltung der Prozesse. Aber, meine Damen und Herren, ist es möglich, die auf den Westen fixierte Vertiefung der Gemeinschaft mit der erforderlichen Öffnung zum Osten hin zeitgleich zu vereinbaren?

In Brüssel liegen die Beitrittsanträge von Österreich, Schweden, Finnland, der Türkei, Malta, Zypern und seit vorgestern der Schweiz vor. Polen, die CSFR, Ungarn und die baltischen Staaten sind dringend interessiert; die GUS wird Interesse zeigen.

Europa denken heißt heute, seine Wiederzusammenführung neu zu definieren. ,,Europas Fähigkeit zur Integration und zur Assimilation ist beeindruckend", meint Jacques Delors. Und er spornt uns an, das intellektuelle Abenteuer zu wagen, politisch, kulturell und auch organisatorisch die Verflechtung Gesamteuropas zu beginnen.

Der Beitritt der Alpenrepubliken und der skandinavischen Länder fällt nicht schwer. Für diejenigen Länder jedoch, die noch einen längeren Aufholprozeß durchlaufen müssen, ehe sie die für eine Mitgliedschaft in der künftigen Europäischen Union notwendigen "Maastrichter-Voraussetzungen" erfüllen, müssen ebenfalls Lösungen gefunden werden, und zwar gemeinsam von West und Ost.

Hierbei gilt es nicht, klar konturierte Ordnungsmodelle zu entwerfen. Es muß nicht um jeden Preis die europäische Föderation ,,vom Atlantik bis zum Ural" sein. Wichtiger sind Mitwirkungsrechte der ostmitteleuropäischen Staaten im Europa-Rat, ihre Teilhabe an europäischen Förderprogrammen, die Schaffung neuer, aber gesamteuropäischer Institutionen wie vielleicht eines regelmäßigen Gipfels der Regierungschefs oder Fachkonferenzen der Ressortminister.

Wichtig ist die regionale Kooperation, die Bildung konzentrischer Kreise mit den Polen, Tschechen und Balten etwa - oder auch den Rumänen, Bulgaren, Ungarn und Ukrainern. Auch das mit den EFTA-Ländern vereinbarte Modell eines Europäischen Wirtschaftsraumes könnte angewandt werden. Entscheidend aber wird sein, ob die EG ihre Märkte öffnet - und zwar gerade dort, wo die Reformländer vergleichsweise stark sind - bei landwirtschaftlichen Produkten, bei Stahl und Textil.

Dringend schließlich ist, die gefährlichste Herausforderung für das neue Europa - die Jugoslawisierung der Verhältnisse im Osten - in den Griff zu bekommen. Dazu ist es erforderlich die Länder in übergreifende Zusammenhänge einzubetten, die auf ihre Selbstbestimmung pochen und dort die Menschen- und Minderheitenrechte zu garantieren.

Europa muß lernen, sich neu zu arrangieren: keine Perfektion, keine säuberlichen Aufteilungen, kein Ordnungsfanatismus, sondern Überlappungen, Arrangements auf Zeit, auch Übergangslösungen. Mit Jacques Delors sollten wir ausrufen: Europa muß auch gewagt werden!

Lassen Sie uns dabei die Entwicklungs- und Handlungspotentiale der Regionen stärken! Ein unverwechselbares Regionalprofil ist Mittel gegen Zentralismus, Neonationalismus und Bürokratismus, gleichzeitig aber auch Instrument zur Stärkung eines bürgernahen Föderalismus. Lassen Sie uns - wie hier im Dreiländerland - viele Euregien gründen und mit grenzüberschreitenden Aktivitäten füllen. Ein Europa mit föderativen Strukturen wird die kulturellen Eigenarten und die gesellschaftliche Vielfalt der Regionen nicht nur erhalten, sondern ein Gesamtmosaik formen, das für Frieden, für Verständigung und Wohlstand steht.

Die Chance der Überwindung der europäischen Teilung ist gegeben. Es ist an uns, sie so wahrzunehmen, daß dieses Europa der Zukunft den Prinzipien eines freiheitlichen, sozialen, demokratischen und geistig lebendigen Kontinents entspricht. Europa muß sich zu schade sein, zu einem Prozeß jeweils nationaler Vorteilssuche zu verkommen.

Das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen ehrt mit dem Präsidenten der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Jacques Delors, einen Mann, der die Vielfalt in der Einheit anstrebt und weiß, daß Europa seine geistige Kraft gegenüber nur wirtschaftlicher Stärke behaupten muß. Jacques Delors gehört zu den Staatsmännern, die die Fähigkeiten zur Gestaltung Gesamteuropas mitbringen.

Herr Präsident, ich gratuliere Ihnen zur Verleihung des diesjährigen Karlspreises.