Ich fühle mich sehr geehrt.
Lassen Sie mich Herrn Linden und dem Preisdirektorium für diese große Auszeichnung danken. Ich bin auch Oberbürgermeister Philipp dankbar für seine wohlwollenden Worte, und den Aachener Bürgern für den Empfang hier in ihrem Rathaus.
Wo wir uns jetzt befinden, stand einst die Burg Karls des Großen...
Immer wenn ich diesen Ort besuche, überwältigt mich der Gedanke an die zwölfhundert Jahre fortlaufender Geschichte. Heute aber ganz besonders.
Die Stadt Aachen besitzt aufgrund dieses Erbes ein großes Geschichtsbewusstsein… Geschichte, nicht als lähmender Schatten der Vergangenheit, sondern als ständiger Aufruf, dass wir selbst für die Gestaltung unserer Zukunft verantwortlich sind.
Deshalb haben Sie 1949 den Karlspreis gegründet. Als unsere Länder in Trümmern lagen, war Aachen in der Lage, als Kaiserstadt und Grenzstadt, über die Grenzen der Nationalstaaten hinauszusehen.
Sie haben es gewagt, einen Neuanfang zu verkünden – ‚Europa’.
(Org. EN) Meine Damen und Herren, und wer könnte die französisch-deutsche Aussöhnung besser symbolisieren als Karl der Große? Der „pater Europae“ herrschte als letzter über Franken und Deutsche als eine Nation – bevor der Kontinent von seinen Enkeln in Verdun 843 in drei Teile aufgeteilt wurde. Es folgten endlose Jahrhunderte der Gewalt bis zur verheerenden Schlacht in jenem Verdun 1916 (und vielen mehr)…
In gewisser Weise war die europäische Einigung nicht mehr als die Rückgängigmachung des Vertrages von Verdun!
Aber nicht wie in karolingischer Zeit mit Gewalt, sondern durch freie Willensbildung.
Meine Damen und Herren, nach den Kriegen war für viele Menschen in West-Deutschland und anderswo ‚Europa’ ein Weg, die eigene Geschichte neu zu schreiben. In den Worten von Karlspreisgründer Dr. Kurt Pfeiffer war nichts dringlicher, als der Meinung entgegenzutreten, „dass gegen den Zwangsablauf der Geschichte nichts getan werden könne und alles Mühen schon bereits von vornherein zum Scheitern verurteilt sei“.
Vielleicht ist unsere Gegenwart wieder genau so ein Moment – in dem wir das Gefühl einer Machtlosigkeit im Angesicht der Geschichte bekämpfen müssen. Darauf komme ich später zurück.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich, bevor ich fortfahre, die Karlspreisträger begrüßen, die zu diesem Anlass nach Aachen zurückgekehrt sind. Ihre außergewöhnlichen europäischen Lebensläufe und die ihrer Vorgänger erzählen die Geschichte der unglaublichen Vereinigung unseres Kontinents nach dem Krieg.
Der Zufall will es, dass ich gerade für den großen belgischen Premierminister Leo Tindemans arbeitete, als er den Karlspreis erhielt. Ich war damals 28, aber die Emotionen, die Spannung im Umfeld der Ankündigung verspüre ich bis zum heutigen Tage. Tindemans hatte gerade seinen Europabericht 1975 geschrieben. Er glaubte fest an die Größe der europäischen Idee, ‚ein edler Gedanke’, und war dabei auch mein politischer Mentor.
Heute wandern meine Gedanken auch zu zwei anderen Vorgängern im Amt des belgischen Premierministers zurück – Jean-Luc Dehaene und Wilfried Martens. Beide sind kürzlich verstorben. Auch sie betrachteten die europäische Einheit als eines der größten Projekte unserer Zeit und widmeten ihr ihr Leben. Ich gedenke ihrer Leistung.
Meine Damen und Herren, dieser Preis ehrt mehr als mich persönlich. Ich sehe ihn als eine Anerkennung der mutigen Arbeit europäischer Führungspersönlichkeiten und aller europäischen Institutionen im Kampf gegen die existenzbedrohende Finanzkrise.
Wie Karlspreisträgerin Angela Merkel einmal sagte: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“ Das war die schlimmste Bedrohung aller Zeiten für Europas Einheit und wir haben sie zusammen überwunden. Wir haben den Kampf gewonnen.
Als Präsident des Europäischen Rates habe ich es von Anfang an als meine Verantwortung betrachtet, als Hüter des Vertrauens unter den führenden (Politikern) zu handeln. Vertrauen bildet die Grundlage für schwierige Entscheidungen – ein unschätzbares Gut, wenn man in einem Kreis von 28 Entscheidungen treffen muss.
Wie zerbrechlich es auch manches Mal von außen gewirkt haben mag, das Pflichtgefühl am Tisch dieser Regierungschefs geriet nie ins Wanken. Alle haben für den Erhalt der gemeinsamen Währung gekämpft, mit Solidarität, mit Verantwortungsbewusstsein.
In diesen (oder vielleicht wegen dieser) nicht leichten Augenblicken ist der Europäische Rat seiner Rolle voll gerecht geworden: Er hat sich nicht in das Tagesgeschäft der Union eingemischt, aber ist – wenn nötig – aktiv geworden, um Prioritäten zu setzen, Knoten zu durchschlagen, Krisen zu bewältigen.
Als erster ständig gewählter Präsident dieser Institution möchte ich all den Menschen, die der Institution in allen möglichen Funktionen dienen, für ihre Arbeit danken: Auch sie haben bei der Schaffung dieses neuen Amtes geholfen.
Der Europäische Rat und seine regelmäßigen Gipfeltreffen lassen sehr sichtbar werden, dass die Union mehr als nur Brüssel ist, sondern 28 Nationen, die intensiv zusammenarbeiten. Und dass das, was in jedem einzelnen dieser Länder passiert – wirtschaftlich, sozial, politisch – extrem wichtig für die anderen ist. So sieht die Realität unserer gegenseitigen Abhängigkeit heute aus.
Für die Menschen in ganz Europa haben diese Jahre gemeinsamer Anstrengungen eines klar gemacht: Europapolitik ist Innenpolitik.
Damit befinden wir uns auf einer neuen Station unserer langen Reise.
Exzellenzen, meine Damen und Herren, wenn nun die Europäische Union vor einer politischen Erneuerung steht, dann ist es wichtig nach vorne zu blicken. Von wirtschaftlichen Schocks über demographische Verschiebungen bis zu Klimatrends – in einer höchst wettbewerbsorientierten Welt müssen wir uns auf die richtigen Prioritäten konzentrieren. Die Liste haben wir klar vor Augen: Arbeitsplätze und wirtschaftliche Erholung, Vertiefung der Währungsunion, Klima und Energie, Freiheiten und Sicherheit, Europas Handeln in der Welt. Aber ich möchte diese Themen nicht vertiefen, dafür gibt es andere Orte.
In der Zeit, die uns gemeinsam bleibt, möchte ich lieber ein anderes wichtiges Thema ansprechen: nämlich die Art und Weise, wie die Menschen die Europäische Union erleben und zu ihr stehen. In Zeiten öffentlich geäußerter Zweifel ist das vielleicht die größere Herausforderung.
Wir haben gerade drei eindringliche Mahnungen für das europäische Versprechen gehört – Frieden und Demokratie, Wohlstand und Solidarität und ein zivilisiertes Leben als souveräne Nation.
Herzlich danken möchte ich den Premierministern von Georgien, Moldawien und der Ukraine dafür, dass sie die Einladung nach Aachen angenommen haben – und das in solch unruhigen Zeiten für ihre Region – meinen Respekt für Ihren Mut!
Die Lage für Ihre Länder ist uns allen präsent. Die Destabilisierung durch unseren gemeinsamen Nachbarn Russland ist nicht akzeptabel und umso bedauerlicher, da dieses großartige Land komplett der europäischen Zivilisation, der europäischen Kultur verhaftet ist. Ohne Shakespeare oder Balzac gäbe es keinen Dostojewski, wie wir ihn kennen, ohne Gogol keinen Kafka, ohne Tolstoi keinen Thomas Mann.
Für die Staaten der Europäischen Union gibt es keinen nostalgischen Blick zurück auf eine „glorreiche“ Vergangenheit, die nie zurückkommt, keine Ambitionen zur Erweiterung der eigenen Grenzen auf Kosten der Nachbarn und keinen Kreislauf von Niederlage und Vergeltung – alle Mitgliedstaaten haben dieses Kapitel jetzt hinter sich gelassen und blicken mit Zuversicht in die Zukunft.
Geschätzte Kollegen, Sie haben heute davon gesprochen, was Ihnen und Ihren Ländern Europa bedeutet.
Für jeden in diesem Saal wie auch für mich waren Ihre eindringlichen Worte eine wertvolle Mahnung, ein wertvolles Geschenk.
Meine Damen und Herren, ist es nicht auffällig, dass die Europäische Union außerhalb ihrer Grenzen heute irgendwie beliebter erscheint als innerhalb?
Wir erleben zunehmend, wie genau die Chancen und Freiheiten, die wir Europäer heute genießen, und nach denen andere streben, infrage gestellt werden.
Und das genau ist die entscheidende Herausforderung: Die Art und Weise, in der die Menschen die Union wahrnehmen und wie sie dazu stehen.
Wie ist es möglich, dass die Menschen Europa jetzt als Grund dafür sehen, dass sie sich machtlos fühlen und ohne Mitspracherecht – wo dieses Europa doch gedacht war, um sie stärker zu machen und ihre eigene Geschichte wieder in den Griff zu bekommen?
Als Folge dieses Gefühls fordern einige „mehr“ Europa, andere „weniger“ – einige wollen sogar von beidem ein bisschen – je nach Zusammenhang. Also vielleicht diese Mischung aus Widerwillen und Erwartungen – eine Mischung, die bei den Europa-Wahlen letzte Woche am Werke war.
Das sind natürlich schwerwiegende Fragen. Aber ich möchte einen unterschätzten Punkt ganz besonders ansprechen: und zwar wie unsere Union von den Menschen vor allem als ein Raum aber kaum als Ort erfahren wird.
Lassen Sie mich das erklären.
Raum und Ort sind tatsächlich nicht das Gleiche.
Ein Ort – a place – vermittelt Schutz, Stabilität und Zugehörigkeit. Er ist ein Heim, wo Menschen sich zu Hause fühlen. Ein Raum – im Englischen space – bietet dagegen Bewegung und Möglichkeiten. Es geht dabei um Richtung, Geschwindigkeit und Zeit.
Als menschliche Wesen brauchen wir beides. Einen Raum zum Fliegen und ein Nest, das wir unser Eigen nennen können. Wir sind eben schlichte Geschöpfe!
Bei Europa lag der Schwerpunkt immer auf dem Raum.
Denken Sie einmal darüber nach.
Von Anfang an bestand das Handeln typischerweise in der Öffnung von Grenzen für Güter, Arbeitnehmer, Investitionen, damit Menschen und Firmen sich frei bewegen konnten, Initiativen ergreifen, Chancen wahrnehmen konnten. Selbst heute geht es – in so verschiedenen Bereichen wie Energie, Telekommunikation oder der digitalen Wirtschaft – noch immer darum, Grenzen zu öffnen und diesen großen gemeinsamen Raum zu schaffen.
Aber wir haben nie wirklich an Europa als Zuhause, eine Zuflucht, gedacht und dafür bezahlen wir jetzt den Preis.
Über Jahrzehnte hat das gut funktioniert. Die offenen Grenzen brachten riesige Chancen für Beschäftigung, Handel und Studium im Ausland. Und die Auswirkungen dieser ganzen Öffnung wurden größtenteils abgefedert – durch Wirtschaftswachstum und die gleichzeitig eingerichteten Sozialstaaten.
In meiner eigenen Region beispielsweise, Flandern, hat sich in den dreizehn Jahren zwischen meinem Schuleintritt und Abgang von der Universität der Wohlstand verdoppelt. Polen, um ein weiteres Beispiel zu nennen, war, als der Eiserne Vorhang fiel, pro Kopf so wohlhabend wie die Ukraine und ist jetzt mindestens dreimal so reich.
Die Arbeitsteilung in all diesen Jahren bestand darin, dass Europa öffnete und die nationalen Regierungen schützten. Keiner erwartete etwas anderes.
Aber die Dinge haben sich geändert. Die Globalisierung hat die Sozialstaaten unter Druck gesetzt. Die Krise zwängte die EU-Institutionen in eine neue Rolle.
Die Folge ist eine dramatische und rasche Verschiebung: Während es bei Europa jahrzehntelang nur um Öffnung, Befreiung, Freischaltung, Emanzipierung und Ermächtigung ging, gilt das plötzlich als Einmischung, Beurteilung, Bevormundung, Gängelung, Berichtigung, ja sogar Bestrafung…
Europa, der große „Chancen-Eröffner“, wird jetzt von vielen als unwillkommener Eindringling wahrgenommen, der „Freund“ Freiheit und Raum wird als Bedrohung für Schutz und Ort gesehen.
Wir müssen das richtige Gleichgewicht finden. Es ist für die Union entscheidend, auch auf der schützenden Seite zu stehen.
Die Union muss dringend auch als vorteilhaft für Arbeitnehmer und nicht nur für Unternehmen gesehen werden: nicht nur für die „Wegziehenden“, sondern auch die „Zurückgebliebenen“, nicht nur für die mit Diplomen und Sprachkenntnissen, sondern alle Bürger; und sie darf Menschen nicht nur als Verbraucher sehen, die billige Produkte und eine große Auswahl wollen, sondern auch als Arbeitnehmer, die in anderen vielleicht auch Konkurrenten um ihren Arbeitsplatz sehen.
Meine Damen und Herren, wie bekommt man das richtige Gleichgewicht hin? Wenn es um Schutz geht, erwarten die Menschen von der Europäischen Union zwei Dinge:
Erstens, dass die Union bei Problemen, die einzelne Länder aufgrund ihrer Größe nicht selbst lösen können, einschreitet. Zweitens, dass die Union ihnen nicht in die Quere kommt, wo die nationalen Behörden am besten in der Lage sind, Abhilfe zu schaffen.
Die Themen, bei denen die Menschen wirklich wollen, dass Europa ihre Interessen vertritt und Bedrohungen in Schach hält, sind die globalen und grenzüberschreitenden Probleme.
Wie unverantwortliche Finanzspekulation – deshalb richten wir ja eine Bankenunion ein und schließen internationale Steuerschlupflöcher. Oder Bedrohungen wie Internet-Kriminalität, Sozialdumping, Gas-Oligarchie – alles Themen, bei denen Europa sich behauptet und seine Anstrengungen verstärkt. Schützen heißt nicht, sich hinter unsere Grenzen zurückzuziehen. Es bedeutet auch nicht wirtschaftlichen Protektionismus. Ein Teil bezieht sich eben auf die Zusammenarbeit mit anderen Ländern, um Probleme wie Instabilität, Gesetzlosigkeit oder illegale Einwanderung zu lösen.
Da arbeitet Europa als Beschützer – an Themen, wo seine Größe einen echten Unterschied macht. Der Maßstab entscheidet.
Aber es gibt andere Fälle, wo die Union gerade wegen ihrer Größe „leisetreten“ muss.
Die vertrauten Orte des Schutzes und Dazugehörens nicht stören, sondern respektieren – von der Wahl der einzelstaatlichen Sozialsysteme, über regionale Traditionen und Identitäten bis hin zum regionalen Käse.
Zu wissen, wann man als Union zu handeln hat und wann nicht, ist ein schwieriger Balanceakt. Es muss das Ergebnis von Gesprächen sein, denn der Erhalt dieses Gleichgewichtes ist eine kollektive Aufgabe. Die Menschen erwarten sinnvolle Vorschriften, fair angewandt, und die Bekämpfung von Missbrauch.
Für mich ist die Botschaft der Bürger an die Union eindeutig: Mehr Stärke nach außen und mehr Behutsamkeit nach innen zeigen.
(DE) Exzellenzen, sehr geehrte Damen und Herrn, mehr Stärke nach außen zeigen, und mehr Behutsamkeit nach innen: das ist die gemeinsame Aufgabe, der sich alle Institutionen und alle Regierungen heute stellen müssen.
Es wird nicht leicht sein, aber es ist wichtig: Die Menschen müssen sich in unserer Union zu Hause fühlen. Europa darf nicht nur ein großer Raum der Freizügigkeit und Freiheiten sein, sondern es muss auch ein Ort sein, der Heimat ist.
Ich bin davon überzeugt, dass wir das schaffen können.
Dieses Jahr 2014, in dem wir der schrecklichen Ereignisse vor hundert Jahren gedenken, erinnert uns daran: Alles steht und fällt natürlich mit Frieden. Ohne Frieden wird niemand sein Glück machen oder ein Zuhause finden!
(Org. EN) Aber sich in der Union zu Hause fühlen, wird auch ein Gefühl für das kleine bisschen mehr, dieses „supplément d'âme“ erfordern, das so typisch für Europa ist.
Über das Streben nach Frieden, Wohlstand oder Macht hinaus geht es auch um Kultur, Identität, Schicksal…
Als ich sechzehn Jahre alt war, habe ich eine Definition von Kultur als Zitat in einem Essay von Paul-Henri Spaak gelesen, der übrigens neben Tindemans bis heute der zweite belgische Karlspreisträger geblieben ist…: „Kultur“ – sagte er – „ist das, was bleibt, wenn man alles andere vergessen hat.“ Wenn man zum Kern der Dinge kommt. Dem harten Kern der europäischen Zivilisation – und den findet man überall auf unserem Kontinent.
Aber Europa entspricht auch einer gewissen Vorstellung von „dem Menschen“. Wie Arthur Koestler frei übersetzt schrieb: Ein Mensch ist unendlich viel mehr als eine Million geteilt durch eine Million. Jeder Mensch zählt. Das ist der Grundwert unserer großen Zivilisation und schützenswert; das ist Europas Botschaft an die Welt.
Vielen Dank.