In diesem Land und in dieser Stadt geehrt zu werden, ist für mich von ganz besonderer Bedeutung. Ich bin in Deutschland unter schmerzlichen Umständen aufgewachsen. Dennoch habe ich trotz des Traumas jener Jahre immer eine tiefe Zuneigung zum Land meiner Jugend aufrechterhalten. Als sehr junger Mann, der in den Streitkräften des Landes diente, das meiner Familie Zuflucht gewährt hatte, sah ich mit eigenen Augen die Folgen des Hasses jener Zeit in den Ruinen dieser Stadt. In einer physisch wie moralisch trostlosen Umgebung schien es undenkbar, daß sich jemals wieder aus diesen Trümmern eine blühende neue Stadt erheben würde, oder daß sie einen geachteten Platz in einem Europa einnehmen könnte, das zum erstemal seit vielen Jahrhunderten zu seiner ursprünglichen Bestimmung als Hort der gemeinsamen Werte und Ziele der westlichen Zivilisation zurückgefunden hat.
Beim Lesen der Dankesreden früherer Preisträger fiel mir auf, daß sich in diesen Reden eine Entwicklung von einem beinahe trotzigen Glauben an eine bessere Zukunft zu einer Würdigung des in Europa zunehmend Erreichten vollzog. Als der Karlspreis zum erstenmal vergeben wurde, schien die Überwindung der Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich ein entferntes Ziel zu sein; die Einheit Europas war ein visionärer Traum. Heute wird die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland für so selbstverständlich gehalten, daß sie keiner besonderen Erwähnung mehr bedarf. Die Einheit Europas ist in hohem Maße Realität geworden. Die Debatten der heutigen Zeit konzentrieren sich auf neue Sachgebiete und geographische Bereiche, auf die die Gesellschaft ihre Befugnisse ausdehnen sollte. Und es erfüllt uns mit besonderem Stolz, daß Amerika, die Tochter Europas, einen Teil seines Erbes zurückzahlte, indem es Europa in seiner dunkelsten Stunde mit Idealismus und Ressourcen half und es dadurch den Europäern ermöglichte, Initiativen zu ergreifen, die Europa seine historische Rolle zurückgeben sollten. Diese Leistung ist mit dem Namen des letzten Amerikaners verknüpft, der diesen Preis erhielt: General George C. Marshall.
Alle großen Errungenschaften unserer gemeinsamen Geschichte waren zunächst Träume, bevor sie Realität wurden - angefangen bei den Kathedralen, die über Jahrzehnte hinweg von bäuerlich geprägten Gesellschaften gen Himmel gebaut wurden, und den Überquerungen unbekannter Ozeane durch Männer, die sowohl vom Glauben als auch von Habgier getrieben wurden, bis hin zu der - in der Geschichte der Welt einmaligen - Entwicklung eines Konzepts des Naturrechts, welches den Eigenwert und die Rechte anerkannte, die allen Menschen inhärent sind.
Die Überzeugung, daß es transzendente Werte gibt, die der Staat weder verleihen noch ändern kann, ist die herausragendste geschichtliche Leistung des Westens. Diese Überzeugung wurde oftmals verletzt, aber sie kam immer wieder zu neuem Leben, um am Ende siegte sie. Vier Grundsätze charakterisieren dieses gemeinsame Erbe:
1.Der Staat ist nicht das persönliche Eigentum des Herrschers, sondern verkörpert eine Gemeinschaft aller Bürger - cives, citoyens, Mitbürger. Alle Bürger - sieht man einmal vom Fluch der Sklaverei im klassischen Altertum ab - besaßen die gleichen Rechte und waren an der Gestaltung des Schicksals ihrer Gemeinschaft beteiligt. Selbst auf seinem Höhepunkt sah sich das Römische Reich als einen Stadt-Staat an, der von freien Bürgern regiert wurde. Diese Rechte wurden dann mit der Zeit auf das gesamte Reich ausgedehnt - die erste Geste dieser Art in der Geschichte.
2.Selbst die mächtigsten Herrscher sind dem Gesetz unterworfen - dem geschriebenen Recht oder dem Gewohnheitsrecht. Seit der Schaffung der majestätischen Struktur des römischen Rechts haben die westlichen Gesellschaften darauf beharrt, daß sich ihre Regierungen auf das Recht und nicht auf den Willen des einzelnen gründeten. Diese Konzeption wurde dann im christlichen Zeitalter um die Vorstellung erweitert, daß ein göttliches Gesetz, das von einer gesonderten Hierarchie verwaltet wurde, außerhalb der Kontrolle weltlicher Macht liege. Keine andere Zivilisation hat solch absolute Konzepte von Gerechtigkeit und ein solches Beharren auf den Grenzen weltlicher Macht entwickelt.
3.In den westlichen Gesellschaften müssen sich die Regierenden durch ihren Dienst rechtfertigen - das Wort "Minister" selbst geht auf dieses Konzept zurück.
4.Ein römischer Bürger zu sein hieß vor allem, frei zu sein. Diese Zugehörigkeit zur Bürgerschaft wurde damals gar als "Libertas Romana" bezeichnet. Die Geschichte des Westens kann in der Tat als ein niemals endender Kampf um Freiheit in immer neuen Formen gesehen werden: in der Freiheit für die Bürger in den Tausenden von Städten, die während des zehnten und elften Jahrhunderts überall in Europa entstanden; in der Religionsfreiheit, wie sie sich in Luthers Vorstellung von der "Freiheit des Christenmenschen" ausdrückte; in den niederländischen Befreiungskriegen gegen Spanien; in den Beschränkungen königlicher Macht, die erst von der Aristokratie, danach vom Volk durchgesetzt wurden, und die dann in der amerikanischen und französischen Revolution mit ihrer Bekräftigung der Menschenrechte gipfelten.
Die Freiheitskämpfe gingen möglicherweise auf lokale Ursachen zurück; das ihnen zugrunde liegende Konzept aber war stets universell. Diese altehrwürdige Stadt, erbaut auf den Ruinen eines römischen Badeorts, war bereits Teil des epischen Ablaufs westlicher Geschichte, lange bevor Europa vergaß, daß es europäisch war.
Das geeinte Europa Karls des Großen verschwand in den folgenden Jahrhunderten inmitten der Eigensucht, der Kriege und des Leidens, die mit der Zersplitterung Europas einher gingen. Das ideal der Einheit aber bliebe bestehen, selbst als der Aufstieg des Nationalstaats Europa zur ständigen Zersplitterung zu verurteilen schien.
Als die Zeit gekommen war, breiteten sich diese Werte über den Atlantik auch in meine neue Wahlheimat aus, wo sie - unbehindert von nationalen Rivalitäten oder verkrusteten Traditionen - eine Dynamik, ja eine unschuldige Reinheit annahmen, die das geschichtliche Erbe des alten Kontinents nicht erlaubt hatte. In diesem philosophischen Sinne liegt die Grenze Europas an der Pazifikküste Nordamerikas.
In dieser Tradition stehen die Einheit Europas und die atlantische Partnerschaft nicht im Widerspruch zueinander, sondern sie ergänzen sich gegenseitig. Sie sind nicht nur praktische Notwendigkeiten - obwohl dieser Aspekt eine wesentliche Rolle spielt. Sie sind vor allem ein Ausdruck der grundlegenden, historischen Werte, die in den Qualen westlicher Bürgerkriege während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiedergeboren wurden. Sie haben uns gelehrt, daß kein Ziel - nicht einmal der Frieden - einer bedingungslosen Zustimmung wert ist, solange es nicht auf Gerechtigkeit und Freiheit gründet.
Wir können stolz auf das sein, was in knapp vierzig Jahren gemeinsamer Anstrengungen erreicht worden ist. Es genügt, die Reden der Preisträger aus den frühen fünfziger Jahren mit denen der achtziger Jahre zu vergleichen, um zu ermessen, wie sehr es Europa bereits gelungen ist, seine Einheit voranzubringen und Selbstvertrauen zu gewinnen.
Man braucht nur das in dieser zurückliegenden Periode verspürte Gefühl unmittelbar drohender Gefahr mit der jetzigen Debatte über die Modalitäten der Rüstungskontrolle zu vergleichen, um zu erkennen, in welchem Maße Sicherheit auf beiden Seiten des Atlantiks als eine Selbstverständlichkeit angesehen wird.
Die Geschichte aber kennt keine Plätze zum Ausruhen; was nicht voranschreitet ist früher oder später dem Verfall preisgegeben.
Die Einheit Europas wurde zusammengeschweißt im Inferno des Leidens von zwei Weltkriegen - die nach dem selbstgefälligen Glauben des 19. Jahrhunderts an den stetigen Fortschritt als völliger Schock kamen -sowie durch das darauf folgende wirtschaftliche Chaos. Die atlantische Partnerschaft erwuchs aus der Furcht vor einer Aggression des totalitären sowjetischen Staates. Wie aber sieht heute die Rolle Europas aus, da die mörderischen Konflikte größtenteils überwunden sind und Wohlstand eingekehrt ist? Welches Ziel hat das atlantische Unternehmen in einem Zeitalter der Verhandlungen?
Kurz gesagt, was verstehen wir heute unter Frieden? Was verstehen wir heute unter Sicherheit? Und was unter Fortschritt?
Dies ist nicht der Ort, detaillierter Antworten auf diese Fragen zu gebe, aber lassen Sie mich einige allgemeine Grundsätze darlegen:
Als das Atlantische Bündnis gegründet wurde, ging man davon aus, daß die Bedrohung des Friedens den aus der jüngsten Vergangenheit bekannten totalitären Phänomenen sehr ähnlich war: eine groß angelegte Invasion über die Grenzen souveräner Staaten hinweg mit dem erklärten Ziel, die Welt mit militärischen Mitteln zu beherrschen. Inzwischen ist klar geworden, daß die Herausforderung durch die Sowjetunion komplexer und subtiler geworden ist. Sie beruht auf dem, was die Marxisten-Leninisten als die Korrelation der Kräfte ansehen, aber diese Korrelation kann allmählich und geduldig verschoben werden: durch Druck, durch Vernebelung und gelegentlich durch die Ausnutzung der Friedenssehnsucht des Westens und der Vielfalt seiner Ansichten, wie dieses Ziel erreicht werden soll.
Die Regierungen im Westen haben auf den Wunsch der Öffentlichkeit nach Frieden reagiert, indem sie ständig ihre Verhandlungsbereitschaft zum Ausdruck brachten. Sie haben sich indessen nicht immer mit gleicher Eindeutigkeit über das Ziel dieser Verhandlungen ausgesprochen. Die Empfänglichkeit für den Druck der Öffentlichkeit ist so groß, daß militante Minderheiten gelegentlich einen unverhältnismäßig großen Einfluß ausüben konnten. Allmählich gewinnt sogar die Überzeugung an Boden, daß die Veränderungen im Innern der Sowjetunion das Problem des Friedens und der mangelnden Klarheit bei den westlichen Zielvorstellungen lösen werden.
Daß eine flexiblere Führung im Kreml an die Macht gekommen ist, steht außer Zweifel. In der Außenpolitik ist sie bisher zumindest in der Lage gewesen, die immer deutlicher zutage tretenden strukturellen Probleme einer zentral verwalteten Gesellschaft durch äußerst geschickte Public Relations zu vernebeln. Sie hat erfolgreicher als sie eigentlich hätte sein dürfen, die Meinungsverschiedenheiten in Europa geschürt und den Zusammenhalt des Atlantischen Bündnisses geschwächt. Dies alles war möglich, weil der Westen selbst folgende grundlegende Frage noch nicht beantwortet hat: Rechtfertigen die inneren Entwicklungen in der Sowjetunion Konzessionen, oder sollten diese in allererster Linie vom außenpolitischen Verhalten der Sowjetunion abhängig gemacht werden?
Einige vertreten die Ansicht, daß Gorbatschow einen Erfolg benötige, um sich an der Macht zu halten. Hier besteht das Risiko, daß ein derart definierter Erfolg dem Westen schaden dürfte. Vielleicht werden innenpolitische Reformen der Sowjetunion automatisch zu einer versöhnlicheren sowjetischen Außenpolitik führen. Es ist aber ebensogut möglich, daß Gorbatschow versucht, Handlungsspielraum für innenpolitische Reformen zu gewinnen, indem er den Befürwortern einer harten Linie der sowjetischen Außenpolitik aufzeigt, daß flexible Taktiken bei der Verschiebung der Korrelation der Kräfte zuungunsten des Westens erfolgreicher sind als plumpe Drohungen.
Ich möchte mich nicht für eine dieser Möglichkeiten entscheiden, sondern hebe lediglich hervor, daß eine Ausrichtung der Außenpolitik auf die psychologische Beurteilung der sowjetischen Führer zur Folge bat, daß der Westen gegenüber plötzlichen Veränderungen in der sowjetischen Führung verwundbar wird, wohingegen die Sowjetunion im politischen Wettbewerb - und im Laufe der Zeit vielleicht auch im militärischen Bereich - ungehindert agieren kann. Eine ausschließliche Beschäftigung mit der Rüstungskontrolle wirft die Gefahr auf, daß Rüstungskontrolle zu einem Sicherheitsventil für politischen Druck statt zu einer Möglichkeit der Verminderung von Spannungen wird. Paradoxerweise kann gerade eine solche Haltung den Westen davon abhalten herauszufinden, ob Gorbatschow letztlich bereit ist, in er Außenpolitik ebensoviel Erfindungsreichtum an den Tag zu legen wie in der Innenpolitik.
Frieden erfordert zuallererst eine Vorstellung von seinem Inhalt. Der Westen muß selbstverständlich die sowjetischen Anliegen berücksichtigen - denn eine Vereinbarung, die keine Rücksicht auf die beiderseitigen Interessen nimmt, kann nicht von Dauer sein - aber jedes Friedensprogramm ist letztlich nur zu rechtfertigen, wenn es mit unseren Werten und unserer Sicherheit vereinbar ist.
Dies gilt um so mehr, als sich in den Jahrzehnten seit der erstmaligen Vergabe dieses Preises die Bedingungen der Sicherheit grundlegend geändert haben. Einerseits vergessen wir zu unserem eigenen Nachteil, daß Kernwaffen für den längsten ununterbrochenen Frieden seit der Gründung des modernen Staatensystems gesorgt haben. Andererseits können Kernwaffen apokalyptische Folgen haben, mit denen sich kein Staatsmann bisher je konfrontiert sehen mußte. Das Thema Sicherheit ist deshalb immer umstrittener geworden. Gerade der Erfolg der Abschreckung trägt zu ihrer Zweideutigkeit bei. Es ist niemals möglich nachzuweisen, warum etwas nicht eingetreten ist. Ist der Krieg verhindert worden, weil der Westen die bestmögliche oder aber eine gerade noch tragfähige Politik verfolgt hat? Oder hatte gar die Sowjetunion niemals die Absicht anzugreifen?
Keiner Ihrer ersten zehn Preisträger erwähnte die Frage der Rüstungskontrolle - mit Ausnahme von Paul Henri Spaak, der die Ansicht vertrat, daß sie keine Lösung des Friedensproblems biete. Heute bildet die Rüstungskontrolle das Kernstück jeder sicherheitspolitischen Debatte.
Die Rüstungskontrolle ist in den meisten europäischen Ländern ein innenpolitisches Thema und ein Problem für die Beziehungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten geworden. Viele Menschen in Europa und einige in den Vereinigten Staaten erklären jeden Versuch, eine strategische Daseinsberechtigung für moderne Waffen zu konzipieren - von der strategischen Verteidigung bis hin zu einer differenzierenden Zielplanung - für provokativ oder nutzlos. Die Alternative - eine Strategie, die sich auf die Zerstörung ziviler und industrieller Ziele stützt - bringt aber eine so unvorstellbare Zahl von Opfern mit sich, daß sie den Willen lähmt. Wie lange kann sich der Westen noch auf eine Drohung verlassen, deren Umsetzung er immer widerwilliger gegenüberstehen muß, und die, führte man sie aus, das Ende der westlichen Zivilisation garantieren würde?
Aus diesem Blickwinkel heraus hat die jetzige Debatte über die Raketen in Europa die atlantischen Beziehungen bereits verändert: Die amerikanischen Mittelstreckenraketen in Europa - und aller Wahrscheinlichkeit nach auch diejenigen kürzerer Reichweite - werden verschwinden, entweder weil ein Abkommen geschlossen wird, oder weil die politische Grundlage für ihren Verbleib von einer Flut von Beschuldigungen weggespült würde, wenn die Verhandlungen scheitern sollten. Und sobald die Null-Lösung bei einigen Kategorien von Kernwaffen als wünschenswertes Ziel akzeptiert ist, wird dies zwangsläufig Druck auf die Beseitigung weiterer Waffenkategorien auslösen. Was immer auch geschehen mag, die Sowjetunion hat schon eine Veto-Position bei der Dislozierung neuer Kernwaffen in Europa erreicht. Auf absehbare Zeit wird das konventionelle Arsenal der Sowjetunion bestehen bleiben. All dies gibt besonders der Bundesrepublik Deutschland Anlaß zur Sorge, denn sie ist das einzige Land in Europa, das sich großen sowjetischen Armeen gegenüber sieht und nicht selbst über Kernwaffen verfügt. Dadurch ist sie von ihren Verbündeten ungewöhnlich abhängig.
Eine der Funktionen der amerikanischen Raketen im Mittelstreckenbereich (und in anderen Bereichen) in Europa bestand darin, die nuklearstrategische Verteidigung Europas technisch in die Vereinigten Staaten, und die der Bundesrepublik Deutschland an die des übrigen Europas anzubinden. In dem Maße, in dem diese organische militärische Beziehung geschwächt wird oder verschwindet, muß ein politischer Ersatz gefunden werden. Für die Staaten Europas gibt es keine dringlichere Aufgabe, als deutlich zu machen, daß die Bundesrepublik Deutschland einen so untrennbaren Bestandteil eines geeinten Europas darstellt, daß jede nukleare Drohung ihr gegenüber als eine Bedrohung der gesamten europäischen Nation angesehen wird; daß kurz gesagt, ihre nationalen
Nukleararsenale zu treuen Händen für die Verteidigung Europas verwahrt werden. Ein wichtiger erster Schritt bestünde darin, eine Koordinierung der Nuklearstreitkräfte Großbritanniens und Frankreichs zu beginnen. Die Vereinigten Staaten sollten ihre Gesetzgebung so abändern, daß dies möglich wird.
Dies ist nur eine erste Maßnahme, die die Vereinigten Staaten ergreifen sollten, um mit erneuten und konkreten Akten politischer Solidarität zu demonstrieren, daß ihre Verpflichtung zur Verteidigung Europas nicht durch den Standort ihrer Waffen bestimmt wird, sondern dadurch, daß sie im Herzen Amerikas verankert ist. Wir können nicht zulassen, daß zwei so großartige Leistungen der Nachkriegszeit - die Verankerung der Bundesrepublik im Westen und in der atlantischen Partnerschaft - durch eine Überfixierung auf Augenblicks-Taktiken zerstört werden.
Es wäre nicht ganz ehrlich von mir, wenn ich nicht betonte, daß ich noch nie so sehr über Tendenzen besorgt gewesen bin, die, wie in den Tagen nach Karl dem Großem, genau zu einem Zeitpunkt auftreten, der eigentlich die Stunde unseres größten Erfolges sein sollte. Wenn sich Europa durch einen verhüllten Neutralismus verführen läßt, und Amerika in einem verhüllten Isolationismus schwelgt, dann wird all das, was hier in diesem Saal eine Generation lang gefeiert worden ist, in Gefahr geraten.
Weder Europa noch Amerika können einer grundlegenden Überprüfung ihrer Sicherheitspolitik und letztlich ihrer Außenpolitik noch länger aus dem Weg gehen. Die Ereignisse der jüngsten Zeit haben - gerade weil sie nicht mehr umkehrbar sind - das beschleunigt, was die Technologie sowieso notwendig gemacht hätte: ein Überdenken der bequemen Annahme, daß Zerstörungskraft gleichgesetzt werden kann mit Sicherheit, aber auch ein Überdenken des seichten Gegenarguments, daß dem Nuklearzeitalter durch die Rückkehr zu Techniken zu entkommen sei, die über Jahrhunderte unaufhörlich Kriege hervorgebracht haben. Die Regierenden im Westen müssen aufhören so zu tun, als könnten die Nuklearwaffen abgeschafft werden; es gibt zu viele davon in zu vielen Ländern; zu viel Wissen wird in den Köpfen der Wissenschaftler haften bleiben, um ein solches Vorhaben durchführbar zu machen. Andererseits sollten sich die westlichen Regierungen auch nicht darauf verlassen, daß Nuklearwaffen alle ihre Probleme lösen.
Bei dieser Gratwanderung hat Amerika die Hauptverantwortung der Führung getragen. In den vor uns liegenden Jahren wird jedoch der Beitrag eines geeinten Europas wesentlich sein. Eine übermäßig ungleichgewichtige Beziehung führt zu einer Demoralisierung auf beiden Seiten des Atlantiks. Europa muß für die Erörterung strategischer Probleme eine Struktur schaffen, indem es entweder auf der Westeuropäischen Union aufbaut oder einen anderen Mechanismus schafft. Amerika muß dies unterstützen. Ein nützlicher symbolischer Schritt in diese Richtung bestünde darin, einen Europäer zum nächsten NATO-Oberbefehlshaber zu ernennen.
Abgesehen von der Strategie fehlt innerhalb des Atlantischen Bündnisses ein angemessener Mechanismus zur Diskussion von Konflikten, die außerhalb des NATO-Rahmens auftreten. Dies macht es unmöglich, eine gemeinsame Position zu finden oder auch nur ein Verfahren festzulegen, mit dem sich zulässige Meinungsverschiedenheiten eingrenzen ließen.
Der Westen leidet heute unter den Konsequenzen früherer Erfolge. Eine Friedensperiode von der Dauer eines Menschenalters hat auf der europäischen Seite des Atlantiks die Versuchung hervorgebracht, sich aus dem Verhältnis zwischen den Supermächten zu lösen. Auf amerikanischer Seite gibt es Anzeichen für ein erneutes Auftauchen des historischen Isolationismus - gerade auch, weil sich der Schwerpunkt des Landes nach Westen verlagert. Aber Amerika, die Tochter Europas, kann seinem Erbe ebensowenig den Rücken kehren, wie Europa seine Rettung in einer illusorischen Äquidistanz von den sogenannten Supermächten finden kann, zu denen Europa selbst in der Tat gehören sollte. Der Westen, dessen historische Tragödie darin bestanden hat, seine geistige Einheit auf dem Altar kurzsichtiger Selbstinteressen zu opfern, darf nicht das wiederholen, was mit diesem Preis als überwunden gefeiert wird.
Seit der ersten Vergabe dieses Preises ist in dem Zeitraum einer Generation viel aufgebaut worden. Der Aufbau darf nicht eingestellt werden, vor allem nicht, weil die vor uns liegenden Herausforderungen weit weniger furchterregend sind als der Weg, der bereits zurückgelegt wurde. Niemand glaubt mehr daran, daß unseren Gegnern die Zukunft gehört. Keine Generation hat so gute Aussichten gehabt, eine bessere und sicherere Welt aufzubauen.
Aber wir laufen Gefahr, diese Gelegenheit durch unsere Fixierung auf taktisches und kurzfristiges Denken, auf die Innenpolitik und die Verwechslung des Plausiblen mit dem Wahren zu verspielen.
Der große deutsche Staatsmann Bismarck sagte einst:
"Die Weltgeschichte mit ihren großen Ereignissen kommt nicht dahergefahren wie ein Eisenbahnzug in gleichmäßiger Geschwindigkeit. Nein, es geht ruckweise vorwärts, aber dann mit unwiderstehlicher Gewalt. Man soll nur immer darauf achten, ob man den Herrgott durch die Weltgeschichte schreiten sieht, dann zuspringen und sich an seines Mantels Zipfel klammern, daß man mit fortgerissen wird, so weit es gehen soll."
Moderne Politik bringt allzu oft eine Orgie der Selbstgerechtigkeit inmitten einer Hektik von Mißklängen hervor. Ist es zuviel verlangt, einen Augenblick des stillen Nachdenkens zu fordern, der es uns ermöglicht, Gottes Schritte zu vernehmen, damit wir uns an seines Mantels Zipfel klammern können?
Mehr kann eine Generation nicht tun.
Sie darf aber auch nicht weniger tun.