Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr verehrter Preisträger, lieber Henry Kissinger, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrter Herr Konsul Cadenbach, meine Damen und Herren,
ich überbringe Ihnen, lieber Henry Kissinger, die herzlichen Glückwünsche der Bundesregierung zu der Verleihung des Karlspreises - dieser höchsten Auszeichnung für Verdienste um die Einigung Europas. Lassen Sie mich zu diesen offiziellen Glückwünschen, lieber Henry, meine eigenen, die Glückwünsche für den Freund, hinzufügen.
Viele unserer Mitbürger freuen sich mit uns, daß der Mann ausgezeichnet wird, der als Junge von 15 Jahren in der dunkelsten Zeit unserer Geschichte unser Land verlassen mußte, der Zuflucht in Amerika fand und der hier aus schwierigem Anfang aufstieg zum Außenminister, zum Architekten der Außenpolitik der größten Macht der Welt.
Lieber Henry Kissinger, Sie verkörpern beste Traditionen europäischer Außenpolitik, einer Außenpolitik des Maßes und des Gleichgewichts, der Außenpolitik einer Epoche, in der Europas Staatsmänner sich darauf verstanden, den Frieden zu wahren.
Ihre Außenpolitik ist mit jenem ersten groß angelegten Versuch der frühen siebziger Jahre verbunden, zwischen West und Ost stabile Strukturen des Friedens zu schaffen. Ich habe das Glück gehabt, daß ich in den ersten Jahren meiner Außenministerzeit mit Ihnen zusammenarbeiten konnte.
Ich habe diese Zusammenarbeit für mich als Bereicherung empfunden, sie hat mir für meine Arbeit viel gegeben. Daraus hat sich eine dauerhafte und fruchtbare Freundschaft entwickelt. Ich weiß so aus persönlichen Erfahrungen, wie sehr Ihr Denken auch von der Sorge bestimmt wird, daß unserem Land, das so exponiert ist, Frieden und Freiheit erhalten bleiben durch seine Zugehörigkeit zu den beiden westlichen Gemeinschaften, dem Nordatlantischen Bündnis und der Europäischen Gemeinschaft.
Meine Damen und Herren, Henry Kissinger ist der zweite Amerikaner, der mit dem Karlspreis geehrt wird. Der erste war George Marshall. Er erhielt den Preis 1959. Er konnte damals mit Befriedigung zurückblicken auf das, was erreicht war: Europa war wiedererstanden, es war mit Gründung der Europäischen Gemeinschaft auf dem Weg der Einigung, und es hatte sich im Nordatlantischen Bündnis dauerhaft mit Amerika zusammengeschlossen zur Verteidigung des Friedens in Freiheit.
Europa war wiederaufgebaut. Dies aber bedeutete, daß das amerikanisch-europäische Bündnis nun in eine neue Periode eintrat. Was sich für die Zukunft abzeichnete, war eine zweite große Aufgabe: - Es galt und es gilt, das Bündnis der 15 und heute 16 Nationen zunehmend in ein Bündnis umzugestalten, das auf zwei einigermaßen gleichgewichtigen Pfeilern ruht: Nordamerika und dem sich einigenden Europa. - Und es galt und gilt, das Bündnis von einer militärischen Verteidigungsallianz weiterzuentwickeln zu einem politischen Bündnis, das aufgrund seiner gemeinsamen Ideale zu koordiniertem politischem Handeln in der Welt fähig ist.
Henry Kissinger hat diese neue Aufgabe bis auf den heutigen Tag als Herausforderung empfunden. Sein Name ist mit dieser Aufgabe verknüpft, so wie für die erste Aufgabe des europäischen Wiederaufbaus der Name George Marshall stand.
Henry Kissinger hat diese Weiterentwicklung des Bündnisses zu einer auf zwei Pfeilern gegründeten politischen Gemeinschaft schon 1965, noch als Harvard-Professor, in seinem Buch "The Troubled Partnership" angemahnt. Und er ist seither nicht müde geworden, diese Weiterentwicklung zu fordern.
40 Jahre nach der Gründung des Nordatlantischen Bündnisses ist ein neues weltpolitisches Umfeld entstanden. Die Geschichte zeigt, daß Bündnisse, die sich nur militärisch verstehen, keine lange Lebensdauer haben. Unser Bündnis ist mehr, es ist der Zusammenschluß der europäischen Demokratien mit den Demokratien Nordamerikas.
Seine Vitalität bezieht es nicht nur aus der Reaktion auf das militärische Potential der Sowjetunion, sondern zuallererst aus den gemeinsamen demokratischen Grundüberzeugungen der verbündeten Staaten und Völker. Was den Kern dieses Bündnisses letztlich ausmacht, ist die Rangordnung der Werte. Für uns stehen Freiheit und Menschenwürde oben an. Wir dürfen das nie aus dem Auge verlieren, wenn wir nicht diesen Wesenskern unserer Gemeinschaft vernachlässigen oder gar verletzen wollen.
Verantwortliche Politik heißt, sich über Aufgaben und Perspektiven des Bündnisses klar zu werden, um damit seine unverzichtbare Vitalität auch für die Zukunft zu sichern. Es sind vier Aufgaben, die uns gestellt sind:
1. Der europäische Pfeiler des Bündnisses muß endlich entstehen. Die europäischen Verbündeten der Amerikaner haben mehr Einwohner als die Vereinigten Staaten und Kanada zusammen. Je stärker Europa sich selber organisiert, seine Interessen definiert, sie in der Atlantischen Gemeinschaft zum Ausdruck bringt, um so lebensfähiger wird unser Bündnis sein. Europäische Einigung, europäisches Gewicht, europäisches Selbstbewußtsein sind keine Gefahr für das Bündnis - im Gegenteil. Mißtrauen entsteht nur dort, wo Unterlegenheitsgefühl das Verhältnis des einen zum anderen bestimmt. Aber genau dafür besteht kein Anlaß.
Es ist schon wahr, wir sitzen alle in einem Boot, Europäer und Amerikaner. Die Europäer etwas mehr am Rand - aber wenn das Boot sinkt, wird das für uns alle zur Katastrophe.
Wenn wir die Gemeinschaft der europäischen Demokratien als selbstbewußte Partner der Demokratien Nordamerikas verstehen, dann gewinnt unser Bündnis. Und ich meine das gar nicht in militärischer Hinsicht, sondern ich meine Gewinn für die Vitalität, die Überzeugungskraft und die Zukunftsorientierung unseres Bündnisses. Den Kern europäischer Einheit müssen Frankreich und Deutschland bilden. Das ist keine deutsch-französische Sache, es ist eine europäische Verantwortung, die wir tragen. Kern, das bedeutet nicht Ausschluß anderer, sondern Kristallisationspunkt für andere.
Eine noch stärkere Koordinierung der Außenpolitik, mutige Schritte zu einer deutsch-französischen Sicherheitsgemeinschaft, Franzosen und Deutsche als Nucleus einer engeren währungspolitischen Zusammenarbeit, kühne in die Zukunft weisende technologische Projekte bis hin zur friedlichen Erschließung des Weltraums, das sind keine Zukunftsvisionen, es sind Aufgaben, die wir jetzt in Angriff nehmen müssen.
2. Wir, die demokratischen Staaten dieser Welt, sind darauf verpflichtet, überall in der Welt für die Achtung und Verwirklichung der elementaren Menschenrechte, der bürgerlichen und der sozialen, einzutreten. Nur wenn wir hier glaubwürdig bleiben, werden wir der Wertbestimmung unseres Bündnisses gerecht.
3. Die nord-amerikanischen Demokratien, die europäischen Demokratien und Japan haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg, ausgehend von der Initialzündung aus den USA, die für uns Europäer untrennbar mit dem Marshall-Plan verbunden ist, als der Motor der Weltwirtschaft erwiesen.
Aber noch haben wir die Probleme der Arbeitslosigkeit im Norden nicht gelöst, und noch warten in vielen Teilen der Dritten Welt viele Völker auf eine wirklich durchgreifende Entwicklung ihrer Länder.
Die Überwindung von Hunger, Armut, Krankheit und Unwissenheit in der Dritten Welt ist die große soziale Aufgabe am Ende dieses Jahrhunderts.
Es ist eine Aufgabe, deren Erfüllung langfristig über Frieden und Stabilität auf der Welt entscheiden wird - es ist nicht nur eine humanitäre Aufgabe, es ist eine weltweite Friedensaufgabe. Ohne soziale Gerechtigkeit gibt es keine politische Stabilität, das gilt national, und es gilt weltweit.
Wir, die demokratischen Staaten des Westens, werden diese Aufgabe nur erfüllen, wenn wir das für Handel und Investitionen offene Weltwirtschaftssystem erhalten und ausbauen, das die westlichen Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg unter amerikanischer Führung aufgebaut haben.
Gefordert sind Zusammenarbeit, solidarische Anstrengung, die Probleme durch eine gemeinsame wirtschaftspolitische Strategie zu bewältigen.
Niemand hat deutlicher als Henry Kissinger auf die wirtschaftlichen Grundlagen unserer westlichen Gemeinschaft hingewiesen.
4. Wir, die westlichen Demokratien, haben unseren Beitrag zu leisten zur Verhinderung einer Menschheitskatastrophe einmal durch Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen und zum anderen durch die Bewahrung des Friedens.
Keine Generation vor uns hat eine Verantwortung getragen, die mit der unserer vergleichbar wäre. Die technologische Entwicklung hat es uns in die Hand gegeben, unsere Welt humaner und besser zu gestalten. Wir können aber auch alles verspielen - alles, das heißt die natürlichen Lebensgrundlagen nicht nur für unsere Generation, sondern für immer.
Die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten: das stellt sich als Aufgabe einer umfassenden und zukunftsorientierten Weltinnenpolitik. Wenn wir im nuklearen Zeitalter den Frieden verspielen, wird es keine neue Chance des Wiederaufbaus geben.
Was bedeutet das alles für die transatlantischen Partner? Wir haben es zu allererst in der Hand, die neuen Technologien in den Dienst der Lösung der großen Menschheitsaufgaben zu stellen. In der Friedenssicherung geht es darum, sich um Dialog, Zusammenarbeit und Rüstungskontrolle zu bemühen, und darum mehr Vertrauen mehr Stabilität und mehr Sicherheit zu schaffen. Für Europa sind die Perspektiven einer Friedensordnung zu eröffnen, in der Staaten - auch unterschiedlicher politischer und sozialer Ordnung - in friedlichem Wettbewerb miteinander leben können.
Eine neue sowjetische Führung ist dabei, das eigene Land zu modernisieren, und das West-Ost-Verhältnis mit eigenen und neuen Initiativen zu gestalten.
Eine solche Entwicklung liegt, wenn sie sich so vollzieht wie angekündigt, auch in unserem Interesse. Eine Sowjetunion, die sich öffnet nach innen und nach außen, ist für den Westen ein besserer Partner als eine Sowjetunion, die sich abschließt und die sich nach verhärtet. Es lohnt sich deshalb, Generalsekretär Gorbatschow beim Wort zu nehmen. Gefordert ist aber auch eine gemeinsame politische Strategie des Westens für diese neue Entwicklung. Zu Kleinmut besteht für den Westen kein Anlaß. Lange genug hatten wir Grund, uns über sowjetische Unbeweglichkeit zu beklagen. Lassen Sie uns jetzt die entstandene Bewegung nutzen, um mehr Stabilität, mehr Sicherheit und mehr Menschenrechte in Europa zu verwirklichen. Denn auch in dieser neuen Phase der West-Ost-Entwicklung darf nicht in Vergessenheit geraten, daß uns, die westlichen Demokratien, die gemeinsamen Werte untrennbar verbinden, und daß die grundlegenden Unterschiede der freiheitlichen Gesellschaften und der sozialistischen Gesellschaften fortbestehen. Genauso bedeutsam ist es, daß unser Europa, das mehr und mehr seinen Platz einnimmt im Bündnis - als zweiter Pfeiler - aber auch in der internationalen Politik, daß dieses Europa und die USA ihren Schulterschluß bewahren.
Fortschritte in der Zusammenarbeit des Westens sollten einhergehen mit den Bemühungen um die Verbesserung des West-Ost-Verhältnisses. Nicht das eine oder das andere, sondern beides zu tun, das ist das Gebot der Stunde.
Das Treffen von Reykjavik hat das Interesse beider Weltmächte offenbart, im Bewußtsein der nuklearen Gefahren wirksame Schritte zur nuklearen Abrüstung zu unternehmen. Hier wird ein neues Denken, und in Ansätzen auch ein neues Handeln sichtbar. Es ist letztlich die Einsicht, daß wir - West und Ost - angesichts nuklearer Vernichtungskapazitäten zu einer Überlebensgemeinschaft geworden sind. Das fordert von West und Ost ungeachtet der fortbestehenden Unterschiede in den Wertordnungen Kooperation und nicht Konfrontation.
Es liegt in unserem europäischen Interesse, diese Bemühungen der beiden Großmächte zu unterstützen, und sie für eine Verbesserung der Lage in Europa - in ganz Europa - zu nutzen. Wir sollten deshalb unser ganzes Gewicht für diese Entwicklung in die Waagschale werfen und diese Entwicklung aktiver mitgestalten.
Als am Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre die USA und die Sowjetunion einen ersten Versuch unternahmen, ihr Verhältnis auf eine neuere und stabilere Grundlage zu stellen haben wir diese Entwicklung genutzt für eine durchgreifende Verbesserung der Lage in Europa. Die dann eingetretene Abkühlung und Verhärtung des Verhältnisses USA - Sowjetunion hat diese positiven Ergebnisse für Europa weitgehend unberührt gelassen. Die Ost-Verträge der Bundesrepublik Deutschland haben sich als beständig und als Zukunftsperspektive erwiesen. Das Viermächteabkommen über Berlin hat der Stadt neue Zuversicht und neue Möglichkeiten gegeben. Das deutsch-deutsche Verhältnis entwickelt sich auf einer soliden Grundlage, und die Schlußakte von Helsinki - die Kursbestimmung für eine europäische Friedensordnung - wird von allen Unterzeichnerstaaten als eine richtige und vorteilhafte Weichenstellung bezeichnet.
Das alles war nur möglich, weil auch in jener Phase die transatlantische Partnerschaft von gegenseitigem Vertrauen getragen war. Auch jetzt geht es darum, eine neue Phase amerikanisch-sowjetischer Annäherung, die möglicherweise umfassendere und dauerhaftere Wirkungen haben wird als die damalige, für Europa zu nutzen und dabei die Möglichkeiten der Abrüstung mit einzuschließen.
Abrüstung, die mehr Sicherheit schafft, liegt gerade im Interesse der Menschen auf unserem hochgerüsteten Kontinent. Wer könnte größeren Nutzen aus einer Verbesserung des West-Ost-Verhältnisses ziehen als die Europäer, vor allem aber als wir Deutschen? Die Grenze mitten durch Europa, das ist die Grenze mitten durch Deutschland, durch kein anderes Land sonst. Deshalb liegt die Verbesserung des West-Ost-Verhältnisses in unserem europäischen, und in unserem nationalen Interesse.
Über die Jahrzehnte hinweg hat sich erwiesen, daß es bei allen Problemen, die auch zwischen Verbündeten auftauchen, zwei Konstanten gibt, die nie in Zweifel gerieten: das Bewußtsein der gemeinsamen Werte und das Bewußtsein der gemeinsamen Sicherheit. Für das Bewußtsein der gemeinsamen Sicherheit stehen auch die 300 000 amerikanischen Soldaten und ihre Familien in Europa. Wir haben mit den Vereinigten Staaten schwerste Zeiten durch Solidarität und Festigkeit bestanden. In Berlin hat sich das immer wieder erwiesen. Es würde unseren europäischen und unseren nationalen Interessen widersprechen, wenn wir den Amerikanern in den Arm fielen, wenn sie sich um ein stabileres Verhältnis mit der Sowjetunion durch eine kooperative Sicherheitspolitik bemühen.
Europäische Interessen verlangen doch nicht, daß wir die USA und die Sowjetunion möglichst weit auseinander halten. All zu oft wurden die USA in Europa kritisiert, sie bemühten sich nicht genügend um den Ausgleich mit der Sowjetunion. Nur wer den Kopf einzieht, muß befürchten, daß andere sich über seinen Kopf hinweg verständigen. Die USA sind auch dann unser Partner, wenn es um eine Verbesserung des West-Ost-Verhältnisses geht.
Wir sind eine Gemeinschaft, die Kooperation und nicht Konfrontation will. Wenn sich Möglichkeiten für eine Wende zu Besseren im West-Ost-Verhältnis abzeichnen, dann muß es zuallererst Sache der Europäer sein, durch weitsichtige und realistische Zukunftsentwürfe zu einer konstruktiven Entwicklung beizutragen.
Meine Damen und Herren, die europäisch-amerikanische Partnerschaft, das sind nicht nostalgische Erinnerungen, die durch den Wandel der Zeit überholt sind, das transatlantische Bündnis ist eine Gemeinschaft für eine bessere Zukunft der Menschheit. Lassen Sie uns - Europäer und Amerikaner - in bewährter Freundschaft und mit neuen Perspektiven den Weg beschreiten in eine bessere Zukunft, dann brauchen wir uns um den Bestand unserer Gemeinschaft keine Sorge zu machen.
Lieber Henry Kissinger, für die Entwicklung und den Ausbau dieser freundschaftlichen Partnerschaft erwarten wir von Ihnen noch viel. Der Staatsmann Henry Kissinger kann wie kaum ein anderer zur Festigung dieser Partnerschaft beitragen - er steht auf dem Fundament des amerikanischen Pfeilers, und er kennt die Kräfte, aus dem der europäische Pfeiler zu formen ist.