Laudatio von Walter Scheel, Bundespräsident a. D., Karlspreisträger des Jahres 1977

Laudatio von Walter Scheel, Bundespräsident a. D., Karlspreisträger des Jahres 1977

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrter Herr Minister,
Exzellenzen,
liebe Karlspreisträger,
meine sehr verehrten Damen, meine Herren,
lieber Henry Kissinger,

zum vierten Mal in der Geschichte der Karlspreisverleihung wird mir die Ehre zuteil, von diesem Podium zu einer erlauchten Zuhörerschaft zu sprechen. 1973 galt es, Don Salvador de Madariaga zu würdigen, einen großen Europäer Spaniens, der die Visionen des Dichters und Denkers mit bedeutenden Handreichungen für die politische Praxis zu verknüpfen wußte, 1977 hatte ich meine eigene Auszeichnung mit dem internationalen Karlspreis zu rechtfertigen, 1981 durfte ich mich an Simone Veil wenden, die Präsidentin des ersten direkt gewählten europäischen Parlaments, sie erhielt als erste Frau den Karlspreis.

Wenn Sie so wollen, habe ich also schon eine gewisse Routine im pfleglichen Umgang mit Karlspreisträgern entwickeln können.

Indessen stelle ich fest – und niemand hier im Saale wird zögern, mir das abzunehmen: mit der Elle der Routine der Persönlichkeit und dem Wirken Henry Kissingers gerecht zu werden, käme nahezu dem Unterfangen gleich, den Atlantik mit dem Zollstock ausmessen zu wollen. Henry Kissinger entzieht sich den landläufigen Beurteilungs- und Bewertungskriterien, er ist uns Zeitgenossen Synonym für das Außergewöhnliche, für das noch nicht Dagewesene in einer Disziplin der Staatskunst, die viele für die höchste erachten, die Außenpolitik. Daß ihm als Nicht-Europäer der Karlspreis zuteil wird, fügt sich geradezu logisch in das Erwartungsbild, daß die Verleihung lebhaftes öffentliches Echo auslöst, ja Aufsehen erregt, ist nur selbstverständlich, liegt auf der Linie der Außergewöhnlichkeit. Ich verbinde meinen aufrichtigen und sehr herzlichen Glückwunsch an Henry Kissinger zu der Preisverleihung mit dem Versuch einer Interpretation, warum dieser Preis ihm gebührt, mir dabei aller Unzulänglichkeiten bewußt bleibend, wie sie dem Medium einer zeitlich begrenzten Laudatio immanent sind, es ist eine schon historische Tatsache, daß der heute Ausgezeichnete nach seinem Erscheinen 1968 als außen- und sicherheitspolitischer Berater Präsident Nixons auf der Bühne der Weltpolitik seine spektakulärsten Auftritte auf Schauplätzen hatte, die des unmittelbaren Bezugs zu Europa entbehrten, ich erinnere an China, an Vietnam, an den Nahen Osten, man hat aus dieser Tatsache verschiedentlich den Schluß gezogen, Henry Kissingers aktives Interesse an den europäischen Staaten – und damit das Engagement der von ihm außenpolitisch geprägten amerikanischen Administration insgesamt – seien begrenzt, jedenfalls insoweit, als es sich nicht um die Gestaltung der Beziehungen zur europäisch-asiatischen Supermacht Sowjetunion handelte, vereinzelt wurde sogar spekuliert, er sei an der Einigung Europas eigentlich uninteressiert, um nach der Devise "teile und herrsche" seine außenpolitischen Zielvorstellungen desto leichter verwirklichen zu können.

Kissingers Kritiker sind, wie ich meine, einer Fehleinschätzung erlegen, dabei hätte er eigentlich schon aufgrund seiner europäischen Herkunft, aber sicher wegen seiner intensiven akademischen Beschäftigung mit Europa als Freund der europäischen Einigungsbewegung ausgewiesen sein müssen; er hatte ja brillante Studien über die Staatskunst Castlereaghs und Metternichs geschrieben. Henry Kissinger hat sich gegen solche kritischen Vorhaltungen immer vehement zur Wehr gesetzt. Sie übersahen ja auch, daß nur zu oft die Eindämmung von Kriegen und Krisen, die Gefahren für das weltpolitische Gleichgewicht und den Weltfrieden in sich bargen, Priorität beanspruchte und keinen Aufschub duldete. Die Gestaltung des amerikanisch-europäischen Verhältnisses hingegen stellte eine eher strukturelle, behutsames Vorgehen erfordernde Aufgabe dar. Kissinger hat diese Aufgabe nichtsdestoweniger als das zentrale Anliegen der amerikanischen Außenpolitik qualifiziert, das über den Tag hinaus Bestand hat. Daß sie nur auf der Grundlage eines erfolgreichen europäischen Einigungsprozesses aufbauen konnte, war für ihn zu keinem Zeitpunkt eine Frage. In seiner grundlegenden Untersuchung über die Zukunft der westlichen Allianz, 1965 unter dem Titel "The Troubled Partnership" erschienen, lesen wir wörtlich: "In der Geschichte des Westens traten die Zeiten größter Dynamik immer dann ein, wenn es galt, aus der Vielgestaltigkeit zur Einheit zu gelangen. Das ist die Aufgabe, die uns heute gestellt ist. "Wobei – nun zitiere ich aus seinem einige Jahre später veröffentlichten Essay über die Hauptprobleme der amerikanischen Außenpolitik – (wobei) "es weder für die Vereinigten Staaten noch für Europa eine Alternative zur europäischen Einigung gibt."

Dies waren keine leeren Worte. Wir brauchen nicht indirekte Auswirkungen amerikanischer Außenpolitik wie die Normalisierung des Verhältnisses zur Volksrepublik China zu bemühen, um mit ihnen eine Verbesserung der Disposition Europas zur staatlichen Einigung zu belegen. Kissinger faßte die Aufgabe auch frontal an. Als Zeuge der Zeitgeschichte und selbst Beteiligter in meiner damaligen Eigenschaft als deutscher Außenminister erinnere ich an seine programmatische Initiative des Jahres 1973, das er als das "Jahr Europas" kennzeichnete. Westeuropa hatte im Zuge fortschreitender Integration wirtschaftliche Vitalität zurückgewonnen. Seine politische Handlungsfähigkeit war erstarkt. Spannungen waren weltweit im Rückgang begriffen. Diesen Veränderungen entsprach nun der Zustand der transatlantischen Beziehungen nicht mehr. Sie bargen zwar keine größeren Probleme; was ihnen aber nottat, war der politische Impuls zur vereinten Bewältigung heraufziehender Schwierigkeiten. Diese nahmen vorzugsweise von der wirtschaftlichen Sphäre ihren Ausgang – allen voran die Sicherung der Energieversorgung – und sie drängten nach einer Neuordnung der Verteilung von Lasten und Verantwortlichkeiten in gemeinsamer, kreativer Anstrengung. Amerika wie Europa sollten davon gleichermaßen profitieren. Kissinger zielte auf eine neue Atlantik-Charta, die den veränderten Gewichten Rechnung trug.

Zu der geplanten großen Deklaration ist es zwar bis heute nicht gekommen. 1973 wurde – ich zitiere Kissingers betrübte Feststellung aus seinen Memoiren – "Das Jahr, das es niemals gegeben hat". Ich erinnere mich noch so lebhaft, wie Henry Kissinger als der Vorsitzende der großen Energiekonferenz in Washington und ich als der damalige Vorsitzende des Ministerrates der EG gemeinsam versucht haben, ein einigermaßen respektables Ergebnis zu erreichen.

Doch lassen Sie mich unserem Freunde Henry Kissinger von dieser Stelle aus versichern: das große Maß an Engagement, das er der Entwicklung und Erörterung seiner Initiative gewidmet hat, war nicht vergeblich. Nicht nur wurden in der Folgezeit eine Anzahl praktischer Vorschläge realisiert – ich erwähne die Einrichtung regelmäßiger Konsultationen oder die Schaffung einer Internationalen Energieagentur. Henry Kissinger hat uns auch unser europäisches Integrationsbewußtsein geschärft. Er hat Anstöße für einen Prozeß des Nachdenkens und des Überdenkens der europäischen Komponente im weltpolitischen Kräftespiel gegeben, der durch jüngste Bewegung in dem erstarrt geglaubten Bereich internationaler Abrüstungsbemühungen neuen, erregende Aktualität erhält. 1973 wurde eine Chance verpaßt. Hätten die europäischen Partnerstaaten, die den gedanklichen Ansatz Kissingers ja durchaus billigten, sich nicht – aus unterschiedlicher, aber durchweg vordergründiger Interessenlage heraus – unfähig gezeigt, zu einem Konsensus zusammenzufinden, hätten wir festeren Boden unter den Füßen, die gegenwärtige Herausforderung zu bestehen.

Diese Erfahrung hat uns Henry Kissingers "Europäisches Jahr" vermittelt. Wir Europäer sollten uns dadurch dankbar erweisen, daß wir, unter Zurückstellung nationaler Egoismen, seine gedanklichen Anstöße zum praktischen Erfolg im Sinne einer Neubewertung der Atlantischen Allianz führen, zum Nutzen Europas, zur Meidung künftiger Irritationen, zur Stärkung unserer Partnerschaft.

Als deutscher Bürger Europas empfinde ich das ganz spezifische Bedürfnis, Henry Kissingers europäische Verdienste noch aus einem anderen Blickwinkel näher zu würdigen. Ich spreche von der Ost- und der Berlin-Politik.

Es ist heute müßig, darüber zu spekulieren, ob Kissinger dem Prozeß der Entkrampfung und Aussöhnung, der mit der sozial-liberalen Koalition unter Führung Willy Brandts in Gang kam, in seiner Anfangsphase mißtrauisch und skeptisch gegenüberstand. Als prononcierten Theoretiker wie Praktiker einer Politik des Mächtegleichgewichts konnte ihn die Vorstellung einer möglichen Balanceveränderung zugunsten Osteuropas gewiß nicht unberührt lassen. Er erkannte indessen rasch, daß die deutsche Bundesregierung mit Erfolg um eine solide westeuropäische Absicherung ihrer ostpolitischen Initiativen, namentlich im Zusammenwirken mit den europäischen Hauptbündnispartnern Frankreich und Großbritannien, bemüht war. Für amerikanische Beunruhigung blieb kein Raum, dies um so weniger, als die Ratifizierung des Moskauer und des Warschauer Vertrags mit der Aushandlung einer zufriedenstellenden Berlin-Regelung verknüpft wurde. An diesem Abkommen waren die Vereinigten Staaten direkt beteiligt, hier konnten sie operativ einsetzen, um dem europäischen Entspannungskonzept, das auch einen angemessenen innerdeutschen Modus vivendi beinhaltet, zum Durchbruch zu verhelfen.

Was wir Henry Kissinger hoch anrechnen, ist dies: daß er, die Unausweichlichkeit einer deutschen Neuorientierung des Verhältnisses zu den östlichen Nachbarn erkennend und ihre Vereinbarkeit mit den außenpolitischen Leitlinien Amerikas, namentlich mit dem Postulat nach mehr regionaler Eigenverantwortung bejahend, fortan diese Politik rückhaltlos unterstützte.

Mit besonderer Genugtuung denke ich daran zurück, daß die amerikanische Teilhabe an den höchst komplizierten und mühseligen Berlin-Verhandlungen sich in lückenloser Feinabstimmung mit der Bundesregierung vollzog. In der Nachkriegsgeschichte wurde wohl kaum deutlicher der Nachweis erbracht, daß koordinierte westliche Entspannungspolitik möglich ist und die Sowjetunion zu substantiellen Zugeständnissen zu bewegen vermag. Ich bin auf diesen Abschnitt unserer gemeinsamen Wegstrecke mit Henry Kissinger nicht allein deshalb näher eingegangen, weil er uns Deutschen besonders am Herzen liegt und weil ich selbst mit ihm prägende persönliche Eindrücke und Erinnerungen verbinde. Vielmehr sehe ich diese Phase unserer jüngeren Geschichte auch als exemplarisch an für den Beitrag, den wir Henry Kissinger für den Zusammenhalt der westeuropäischen Staaten und damit für die Förderung der europäischen Integration verdanken. Ein Abseitsstehen der Führungsmacht Amerika hätte unsere Ostpolitik zu einem unberechenbaren Torso reduzieren müssen. Sich damit dauerhaft zu identifizieren wäre unseren westlichen Nachbarn wohl kaum möglich gewesen. Eine Entschärfung des Berlin-Problems ohne die engagierte und konstruktive Mitwirkung der Vereinigten Staaten konnte nicht stattfinden. Berlin wäre ein Herd der Unruhe geblieben, ungeeignet, Einigkeit und Harmonie unter den westlichen Partnern zu fördern. Die verschiedenen Aktionsfelder waren fest miteinander verknüpft. Auch die alsbald nachgefolgte Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa/KSZE hätte es nicht gegeben. Ihre immense und fortwirkende Integrationskraft hätte sich ohne die Mitwirkung der USA nicht entfalten können.

Sei sehen, lieber Henry Kissinger, daß wir Ihren Anteil am europäischen Einigungsprozeß einzuordnen wissen. Sie sind uns ein würdiger Karlspreisträger. Europa, dessen Eigenheiten Sie wie kein anderer unserer amerikanischen Freunde zu begreifen und zu deuten vermögen, schuldet Ihnen Dank. Die Welt schuldet Ihnen Dank für Ihren rastlosen Einsatz, Frieden zu stiften und Stabilität zu sichern.

Aus dem unerschöpflichen Fundus geistvoller und zeitloser Äußerungen, mit dem Sie uns beschenkt haben, greife ich ein Wort heraus, und das ist Stetigkeit, Kontinuität. Sie wiesen darauf hin, wie wichtig außenpolitische Kontinuität ist angesichts regelmäßig wechselnder Regierungen in den demokratischen Staatswesen. Ihnen und uns, lieber Herr Kissinger, wünsche ich, daß es Ihnen auch in Ihrer heutigen Rolle als Mahner und erprobter Ratgeber vergönnt sein möge, ein Stück Kontinuität in den internationalen Beziehungen mitzutragen. Die Welt hört Ihnen zu, und sie hofft, noch lange aus der Kunst und der Weisheit des Staatsmannes Henry Kissinger Gewinn zu ziehen.