Meine sehr verehrten Damen und Herren,
"Dieses alte Europa langweilt mich" soll Napoleon auf dem Höhepunkt seiner Macht gesagt haben. Vielleicht war ihm in seinem Größenwahn Europa zu klein geworden und Welteroberung seine Ambition. Viele Europamüde haben diesen Ausspruch im Laufe der Zeit in der ein oder anderen Variante wiederholt. Zweihundert Jahre später jedoch ist Europa aufregender denn je.
Die europäische Nachkriegsordnung ist durch "Perestrojka" im Osten und durch die neue Dynamik der westeuropäischen Integration in Bewegung geraten. Während im Westen die Zollschranken fallen, sind in den vergangenen Monaten Millionen von Menschen in verschiedenen osteuropäischen Ländern mit dem Ruf nach Freiheit auf die Straße gegangen, haben die ihnen auferlegten politischen Fesseln gesprengt und eindrucksvoll ihren ungebrochenen Freiheitswillen demonstriert.
Zum ersten Mal seit der russischen Revolution geraten festgefügte Weltbilder, und mit ihnen Feindbilder, an die wir uns gewöhnt hatten, ins Wanken.
Wenn sich in Polen die kommunistische Partei auflöst, Ungarn den Roten Stern vom Parlamentsgebäude entfernt, die CSFR den Dissidenten Václav Havel zum Präsidenten wählt, die Rumänen sich ihrer Tyrannen befreien und die DDR die Mauer verkauft, so stehen wir vor einem Wandlungsprozeß, der Erstaunen, aber auch Orientierungslosigkeit bei vielen von uns erzeugt.
Orientierung für uns alle bieten jedoch Menschen wie unser heutiger Preisträger.
Er hat in seinem Land den Wandlungsprozeß mit vorangetrieben. Er löste - gemeinsam mit politischen Freunden - sein Volk aus ideologischer und militärischer Umklammerung, wagte die Verfassungsreform, propagierte die Parteienvielfalt, gestattete Meinungsfreiheit und änderte die überkommenen ökonomischen Strukturen. In einem symbolträchtigen Akt durchschnitt er mit seinem österreichischen Kollegen bei Sopron den Eisernen Vorhang, und wies Ungarn den Weg zurück nach Europa.
Dieser Akt am Drahtzaun, meine sehr verehrten Damen und Herren, war auch einer der ersten Schritte zur deutschen Vereinigung. Die Schere setzte das Signal für die Zunahme des Flüchtlingsstroms, für die Besetzung der Deutschen Botschaft in Budapest durch DDR-Bürger, für die deutsch-ungarische Zusammenarbeit bei der Übersiedlung der Flüchtlinge in die Bundesrepublik und für die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze am 10. September des vergangenen Jahres.
Die späteren Flüchtlingsströme nach Prag, die Züge durch die DDR in Richtung Bundesrepublik, all das hatte Signalwirkung für die ersten Demonstrationen in Leipzig, für den Mut zur freien Meinungsäußerung und das Auflehnen gegen die stalinistisch geprägten Herrschaftsstrukturen; es hatte Signalwirkung für die Sammlungsbewegung um "Runden Tische".
Vor diesem Hintergrund ist es mir eine große Freude als diesjährigen Träger des Internationalen Karlspreises zu Aachen in unserer Mitte den vormaligen ungarischen Außenminister Dr. Gyula Horn begrüßen zu dürfen.
Herr Dr. Horn ist in der über 40 jährigen Geschichte des Preises der erste Politiker aus einem osteuropäischen Land, der ausgezeichnet wird. Auch das ist ein Zeichen des sich verändernden Bewußtseins. Mit Ihnen begrüße ich den Karlspreisträger 1951, den damaligen Rektor des Europakollegs, Herrn Prof. Dr. Hendrik Brugmans. Für den Karlspreisträger 1969, die damaligen Mitglieder der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, begrüße ich Herrn Vizepräsidenten Dr. Hellwig und Herrn Kommissar Dr. von der Groeben. Herzlich willkommen heiße ich auch den Karlspreisträger 1977, den ehemaligen Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Walter Scheel, sowie den Karlspreisträger 1984, den damaligen Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Prof. Dr. Karl Carstens. Willkommen heiße ich die Botschafter des Großherzogtums Luxemburg, Herrn Dr. Meisch, der Republik Ungarn, Herrn Dr. Horvath und der italienischen Republik, Herrn Guidi. Besonders begrüße ich den Bundesaußenminister und Vizekanzler, Herrn Hans Dietrich Genscher, der freundlicherweise die Laudatio auf unseren heutigen Preisträger halten wird.
Ihnen allen, verehrte Damen und Herren, die Sie an dem heutigen Ereignis hier im Krönungssaal des Aachener Rathauses teilnehmen oder über Rundfunk und Fernsehen mit uns verbunden sind, gilt mein herzlicher Gruß.
Die Geschichte Ungarns in den letzten drei Jahrzehnten ist von der brutalen Niederschlagung des Aufstandes von 1956 durch sowjetische Truppen überschattet. Es hat mehr als 30 Jahre gedauert, ehe die Ungarn - und mit ihnen die meisten mittel- und osteuropäischen Länder - einen neuerlichen Versuch unternehmen konnten, Demokratie zu wagen.
Gyula Horn war von Anfang an ein Pionier dieser Entwicklung. Er nannte als einer der ersten das Gerichtsverfahren gegen den Ministerpräsidenten des Aufstandes von 1956, Imre Nagy, einen Schauprozeß. Von ihm stammt auch die Feststellung, die Anwesenheit fremder Armeen in europäischen Ländern sei "ein Anachronismus". Er drängte auf Vertragsabschlüsse mit der Europäischen Gemeinschaft und stellte den Antrag auf Mitgliedschaft Ungarns im Europarat.
Seine Vorstellung von europäischer Friedenspolitik läßt die beiden Militärblöcke langfristig überflüssig werden. Gyula Horn hat mit "Ungarns Rückkehr nach Europa" einen Prozeß eingeleitet, der, wie er selbst formulierte, "die Umwandlung des aufgrund seiner Spaltung bloß als geographische Kategorie definierten Europas in eine neuartige politische und wirtschaftliche Einheit als eine reale Möglichkeit erscheinen läßt."
Er hat nicht nur Menschen aus seelischer und existentieller Not geholfen, er hat darüber hinaus allen Europäern den Weg zueinander, zu Frieden, Freiheit und Einheit gewiesen. Ungarn hielt sich an die Freizügigkeit der Bürger Europas, wie sie in der KSZE-Schlußakte von Helsinki formuliert wurde. Dazu Gyula Horn: "Der ungarische Beschluß in der DDR-Flüchtlingsfrage ist ein organischer Bestandteil der Politik der ungarischen Regierung, die auf immer bessere Verwirklichung der Menschenrechte gerichtet ist, und er ist gleichzeitig eine logische Folge der Demokratisierung und der Reformprozesse in Ungarn. Wenn Ungarn wieder an den Prozessen teilnehmen will, die die europäische Entwicklung bestimmten, wenn es eine bessere Völkerverständigung, Freundschaft und Demokratie will, konnte es keine andere Entscheidung geben". Und er sagte weiter: "Ich bin überzeugt, daß unsere Entscheidung den Geist der europäischen Zusammenarbeit stärkte, die zwischenstaatliche Zusammenarbeit förderte und einen bedeutenden Fortschritt zu einem demokratischen und gemeinsamen Europa bedeutet".
Dem ist nichts hinzuzufügen! Allein schon die Entscheidung vom September 1989, die Europa so nachhaltig verändern half, genügt, um Ihren Namen und Ihr Verdienst für Europa historisch unvergeßlich zu machen. Sie, Herr Dr. Horn, und Ihre politischen Freunde haben den Weg der Reformen in dem Bewußtsein gewählt, zumindest vorübergehend die politische Bühne der Entscheidungen wieder zu verlassen. Durch nichts, meine Damen und Herren, hätte die Redlichkeit und Ernsthaftigkeit des eingeleiteten Wandlungsprozesses besser unterstrichen werden können!
Zum ersten Mal besteht eine reale Aussicht, die Spaltung Europas zu überwinden. Zum ersten Mal auch ist die Chance gegeben, daß die Beteiligten sich von der fatalen Fixierung auf die Fragen der militärischen Sicherheit lösen und die Priorität des Politischen wieder in den Vordergrund tritt.
Wer Hoffnung hegt, darf jedoch zugleich vielfältige Gefahren nicht übersehen. Eine erste Gefahr liegt für mich darin, daß manche den Verfall der Systemgrenze zwischen Ost und West als gute Gelegenheit betrachten, das Konzept des Nationalstaats zu revitalisieren und nationalistische Gefühle aufzukochen.
Gerade nach dem Ende der stalinistischen Systeme entsteht ein neues Bedürfnis nach Identität. In dem damit eingetretenen Vakuum könnte die "Nation" mit all ihren Mythen eindrucksvoller und erfüllender erscheinen als eine komplizierte Superstruktur wie zum Beispiel die Europäische Gemeinschaft.
Meine Antwort auf dieses Dilemma ist: ein europäischer Föderalismus der Völker, der die Minderheiten- und Volksgruppenrechte respektiert. Es muß zu übernationalen Strukturen und zwischenstaatlichen Bindungen kommen, die die Bürger verstehen, wo sie sinnvolle gesamteuropäische Ziele erkennen und Frieden und Wohlstand erhoffen können.
Eine zweite Gefahr sehe ich in schnell zunehmenden sozialen und materiellen Problemen für die Menschen im Osten Europas, in dem größeren, jetzt für alle erfahrbaren Gefälle gegenüber dem Wohlstand der Menschen im Westen. Das kann zu Völkerbewegungen, Eingliederungsproblemen und sogar aufkeimendem Haß zwischen den Habenden und den Nicht-Habenden führen.
Ich meine: Ein Zerfall des osteuropäischen Wirtschaftszusammenhangs kann und darf nicht im westlichen Interesse liegen. Der Westen muß im Gegenteil Hilfen leisten: durch die Vermittlung von Erfahrung und Wissen, sowie durch die Bereitstellung finanzieller Mittel. Eine starke Europäische Gemeinschaft muß in der Lage sein, die politische Entwicklung so zu stützen, daß Gesamteuropa überhaupt eine mögliche politische Perspektive wird.
Allerdings - einen gesamteuropäischen Bezug hat die neue Phase der EG-Integration derzeit noch nicht. Ihre Grundlage, die Einheitliche Europäische Akte, war und ist zuvörderst eine Antwort auf die wirtschaftlich-technologische Herausforderung Westeuropas durch die USA und Japan, weil die Veränderungen in der Sowjetunion und in Osteuropa zur Zeit ihrer Abfassung noch nicht abzusehen waren.
Jetzt jedoch ist eine Veränderung der EG-Politik fällig. Das Projekt des gemeinsamen Binnenmarktes scheint überholt, noch ehe es realisiert ist. Dennoch: Derjenige, der eine Erweiterung der Gemeinschaft durch die Einbeziehung unserer östlichen Nachbarstaaten anstrebt, muß zuerst für eine Stärkung der Gemeinschaft der Zwölf eintreten. Fortschritte zu "Vereinigten Staaten von Europa" sind nur denkbar über eine koordinierte Ostpolitik, nicht aber durch überstürzte Erweiterung einer noch nicht konsolidierten westeuropäischen Gemeinschaft. Die europäische Dialektik gebietet, die eine Aufgabe zu bewältigen, ohne die andere zu vernachlässigen.
Die Europäische Gemeinschaft muß eine Politik der gesamteuropäischen Verflechtung beginnen. Gyula Horn selbst beschrieb es so: "Der Erfolg des auf eine umfassende Modernisierung ausgerichteten Versuchs hängt vom Erfolg der Integrierung in das System der gesamteuropäischen wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit ab. Der Anschluß an die Entwicklung der Völkergemeinschaft verspricht eine neue, zeitgemäße Entwicklungsbahn. Ein Stillstand unserer politischen und wirtschaftlichen Reformen würde nicht nur unser Land Ungarn an die Peripherie schleudern, sondern auch schwerwiegende Auswirkungen auf die immer enger werdende europäische Zusammenarbeit haben".
Vor sechs Jahrhunderten, meine Damen und Herren, schien es utopisch, die Schweizer Bauern aus der Macht der Habsburger befreien und zu einer Republik vereinigen zu wollen. Vor fünf Jahrhunderten schien die Einigung des in Religionskriegen zerfallenen Frankreichs utopisch, ebenso die Einigung Spaniens. Vor vier Jahrhunderten schien die Einigung von England und Schottland zu Großbritannien utopisch. Vor drei Jahrhunderten dünkte die Befreiung Ungarns aus der türkischen Bevormundung ebenfalls utopisch. Vor zweieinhalb Jahrhunderten schien die Auferstehung Griechenlands eine Utopie zu sein. Vor anderthalb Jahrhunderten schien die nationale Einigung der zersplitterten Deutschen oder Italiener utopisch. Heute sind die Gesamtstaaten von Europa noch Utopie. Doch Europa befindet sich erkennbar auf dem Weg von der Spaltung zur Einheit.
Das Aufregende an dieser neuen Phase im Ost-West-Verhältnis ist, daß man auf beiden Seiten bereit ist, festgefügte, zu einfache und - damit falsche Bilder der anderen Seite zu durchbrechen. Europa wird zum Ausdruck der eigenen Besonderheit. Das bedeutet nicht Ausgrenzung anderer Völker, wohl aber selbstbewußte Dialogbereitschaft unter Gleichen.
Ein Dialog verläuft niemals linear. Von daher bricht die lineare Einteilung unseres Kontinents auf. Dialog unter Gleichen muß auch kleinen Völkern die Möglichkeit bieten, sich unter Wahrung ihrer Identität einzubringen, ohne zunächst die Bündnisfrage zu stellen. Hierbei bedeutet Identität in Anlehnung an die Worte von Georg Lukacs - schon 1946 formuliert - daß man von bestimmten gemeinsamen Merkmalen ausgeht und voraussetzt, daß dieses Gemeinsame auch das Bewußtsein gestaltet.
Europa entdeckt sich neu. Europa - West und Ost - wird sich seiner Vergangenheit und seiner Stellung in der Welt bewußt. Europa erinnert sich - man möchte fast sagen plötzlich - an die gemeinsame Geschichte, an seine Literatur, an die Bau- und bildende Kunst, an die Musik, aber auch den technologischen Fortschritt, der den Alltag verändert. Europa gewinnt so an Identität für Gegenwart und Zukunft.
Verehrte Gäste, meine Damen und Herren: Das Direktorium der Gesellschaft für die Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachenhat einmütig beschlossen, Ihnen, Herr Horn, den Karlspreis für das Jahr 1990 zu verleihen.