Sehr verehrter Herr Staatspräsident Ferenc Mádl, sehr verehrter Herr Bundespräsident Johannes Rau, sehr verehrter, lieber Altbundespräsident Roman Herzog, Herr Oberbürgermeister, Professor Eversheim, Exzellenzen, meine lieben Damen und Herren!
Die Herausbildung einer europäischen Nation am Ende des zweiten Jahrtausends ist nicht weniger bedeutsam als die Entstehung des christlichen Europas ausgangs des ersten Jahrtausends. Europa ist ein Prozess, eine Aktion, eine Unternehmung, etwas, das in Bewegung ist.
Außer im Osten und Südosten ist Europa auf allen Seiten von Meer umgeben, und daraus folgt, dass es sich nur in bestimmter Weise erweitern kann: nicht durch Expansion, sondern durch Integration.
Diese Entwicklung sanktionieren die Institutionen der Europäischen Union, so wie die Eheschließung dem Zusammenleben von Liebespaaren juristischen Status verleiht. Aufgrund der geographischen Gegebenheiten sind wir aufeinander angewiesen; Scheidung ist unmöglich. Eine Vereinigung hingegen ist notwendig, damit wir die Jahrtausende alte Tradition blutiger Kämpfe nicht länger fortsetzen. Neben vielfältiger nützlicher Kooperation bietet die Europäische Union uns auch Schutz gegen unsere Dämonen. Die Bevölkerung auf diesem Kontinent hat sich für die Demokratie entschieden und praktiziert sie auch.
Ihrem politischen Glaubensbekenntnis, ihrem guten oder schlechten Gewissen, entspricht der Rechtsstaat, der die Freiheit seiner Bürger respektiert. Verstöße werden registriert und geahndet. Wir beobachten, und wir werden beobachtet. Europa wird entweder demokratisch sein oder als Union nicht zustande kommen.
Da Karl der Große – vor 1200 Jahren – als erster die Ahnen der Deutschen und Franzosen unter seinem Zepter vereinte, haben wir allen Grund, die durch seinen Namen symbolisierte Leistung zu würdigen: den Abbau der deutsch-französischen Rivalität im Zeichen einer gemeinsamen europäischen Souveränität.
Als Verlierer zweier Weltkriege haben wir Ungarn reichlich Anlass, die Rivalität zwischen den westlich von uns gelegenen Staaten zu verdammen, denn sie war Ursache für die langen, katastrophalen Besetzungen von Buda und Pest. Beide Weltkriege wurden von demselben virulenten Nationalismus entfesselt, der Minderheiten als Feinde betrachtete und die europäischen Juden fast völlig vernichtet hat. Der Zusammenschluss zur Europäischen Union geschieht in dem Wissen, dass der Massenmord von jenen Staaten zu verantworten ist, die von einer kollektiven Idee besessen waren und alle anderen kollektiven Ideen als minderwertig und vernichtenswert erachteten.
Die europäischen Bürger und Nationen haben alle Versuche abgewehrt, ihren Erdteil einer imperialen Herrschaft zu unterwerfen. Europa lässt sich nicht von einem Staat und von einer Hauptstadt aus regieren.
Auf diesem per Flugzeug rasch zu überquerenden Kontinent mit seiner hohen Siedlungsdichte brauchte man eine Jahrtausende lange harte Geschichte, um zu begreifen, dass Verschiedenheit kein Grund zum Krieg ist. Dass über uns nicht das Damoklesschwert eines Weltkriegs schwebt, dass wir das Recht auf unseren eigenen Tod und vielleicht auch auf ein eigenes Leben erworben haben, dass wir weder anderen Staaten noch unserem eigenen ausgeliefert sind, ist zu Beginn dieses dritten Jahrtausends ein neuartiges Gefühl. Europas Wirklichkeit ermutigt uns zu einer respektvollen und differenzierten Anerkennung der Vielfalt und Verschiedenartigkeit.
Es steht uns frei, diesem oder jenem den Sieg zu wünschen. Doch es gibt auch eine dritte Sicht, die sich auf die Verlierer unter den zum Sieg Entschlossenen richtet, die Preis und Opfer der Aktion betrachtet. Und diese dritte Sicht vermögen Kunst und Literatur in ihren glücklichen Momenten zu praktizieren.
Dass im zusammenwachsenden Europa Stammesfehden, religiöse, nationale und ideologische Konflikte nicht zu Kriegen führen werden, ist eine kühne, aber reale Utopie. Aber man hat außerhalb des Territoriums der assoziierten Staaten, in unmittelbarer Nachbarschaft von ihnen, auf dem Balkan Krieg geführt.
Dass selbst ein Runder Tisch von demokratisch legitimierten Staatsführern irren kann, stimmt nachdenklich, insbesondere dann, wenn weder sie noch ihre Soldaten die Folgen ihres Irrtums am eigenen Leibe spüren, sondern Tausende von Unbeteiligten, deren Tod dann den Verlautbarungen zufolge lediglich zu den bedauerlichen„Kollateralschäden“ zählt.
Der als humanitär ausgegebene Luftkrieg am Ende unseres Jahrhunderts hat den als gefährlichen Kriminellen apostrophierten Präsidenten Jugoslawiens nicht gestürzt. Er wurde, wie das so üblich ist, von der inzwischen unter neuem Kommando stehenden Polizei verhaftet.
Es geschah, was von vornherein zu ahnen war: Auch dieses Mal gelang es nicht, den Konflikt der Ethnien mit Waffengewalt zu lösen. Man muss sich fragen, wie viele Menschen durch den Einsatz unserer vereinten Streitmacht gerettet wurden und wie viele ums Leben kamen.
Hätte man damals nicht Zeit, Mühe und Kosten für eine präventive Konfliktlösung gescheut, müsste man heute nicht Einzeltäter vor einem internationalen Gerichtshof zur Verantwortung ziehen.
Eines aber lässt sich zumindest sagen: Die Mitgliedstaaten der Union werden sich gewiss nicht gegenseitig bombardieren. Und wenn hier, in Europa, die Nachbarn einander nicht mehr fürchten müssen, ist auch das schon eine große Sache.
Im Interesse des Friedens jedoch sollten wir Folgendes festhalten: Die Grenze zwischen westlichem und orthodoxem Christentum bezeichnet keine zivilisatorische Kluft.
Die Vorstellung, mit der Aufnahme der im ersten Wahlgang akzeptierten Kandidaten sei die Erweiterung der Union abgeschlossen, ist kurzsichtig. Wenn die Grenzen im Osten und Südosten erstarren, werden die Ausgesperrten den Stachel der Kränkung schmerzhaft empfinden und Europa grollen. Die schwarzseherischen Beobachter des Balkangeschehens sind zu dem Schluss gelangt, dass in einer von so vielen Völkern bewohnten Region das Zerstückeln nicht enden wird.
Und in der Tat, ein nationales Anliegen nach dem anderen wird laut; ethnisch-religiöse Gemeinschaften melden sich zu Wort und fordern einen eigenen Staat, und zwar dort, wo sie leben, auf dem Territorium eines schon bestehenden Staates.
Die internationale Gemeinschaft hätte die neuen politischen Gebilde nur unter der Bedingung anerkennen dürfen, dass sie in ihrer Verfassung und in der Praxis die Minderheiten- und Menschenrechte garantieren und ihre Konflikte durch Kompromisse oder internationale Rechtsprechung regeln. Da die Gemeinschaft es aber versäumt hat, diese Garantien einzufordern, ist sie für die Bürgerkriege und deren traurige Folgen mitverantwortlich. Sie hat eine politische Landkarte hingenommen, deren unausweichliche Konsequenz in der Barbarei wechselseitiger Vertreibungen bestand, wobei die beteiligten Nationen sowohl Täter als auch Opfer waren. Nach dem mit Hilfe Europas erfolgten Abbau muss die Periode des Aufbaus kommen. Nach der Zerstückelung souveräner Staaten ist es Zeit für eine Konzeption, um Südosteuropa unter die Arme zu greifen und stufenweise in die Europäische Union zu integrieren.
Wir anderen aber, wirkliche oder in absehbarer Zeit künftige Mitglieder, werden Bürger auf einem Territorium sein, dessen Gesetze uns Schutz gewähren. Ein Werk ist im Entstehen, schafft sich sozusagen selbst, dessen Triebfeder die Dialektik von Vereinigungs- und Vereinzelungsbestrebungen ist.
Vereinigung heißt nicht Verschmelzung; der Lernprozess vollzieht sich langsam, doch die Integration kommt voran, kraft einer inneren Dynamik. Die Europäische Union ist ein geistiges Konstrukt, dessen Architekten sich mit rationalen Argumenten für und mit emotionalen Argumenten gegen eine Vereinigung auseinandergesetzt haben.
Viele Europäer bezweifeln die demokratische Legitimation der Brüsseler Administration, und viele befürworten das Ideal einer engeren, einer rettenden kleineren Gemeinschaft, die nur uns gehört: die Nation, die Ethnie oder die Religionsgemeinschaft, das liebevolle und verzweifelte Bekenntnis zum kleinen Teil im Gegensatz zum großen Ganzen.
Wenn kühnes Denken in provinzieller Verdrossenheit versinkt, wenn die wechselnden geistigen Moden die Argumente für eine europäische Integration verschlissen haben, betreten die Wortführer einer nationalen Separation die Bühne, und der alte Wahnsinn greift von neuem um sich. Wer nicht erkennt, dass diese zerbrechliche Europakonstruktion auch seine Sicherheit erhöht, der hat noch nie existentielle Bedrohung erfahren. Die Möglichkeit der Europäer, auf dem größeren Teil des Kontinents gleichberechtigte Bürger zu sein, bedeutet eine beträchtliche Ausdehnung ihres Lebensraums. Intelligenten und tatkräftigen jungen Menschen eröffnen sich ungekannte Perspektiven. Studenten können, wenn sie es wollen und über entsprechendes Wissen verfügen, am europäischen Wettbewerb teilnehmen. Ein jeder kann die Sache eines anderen Landes zu seiner eigenen machen, und niemand darf sagen, du hast kein Recht, hier mitzureden.
Europa ist ein Machtfaktor - weniger wegen seiner militärischen als vielmehr wegen seiner wirtschaftlichen und kulturellen Leistungsfähigkeit. Seine geistige Stärke beruht darauf, sich nicht in eine Schwarzweißlogik einzuspinnen.
An die Stelle kollektiver Besatzungen treten individuelle, und zwar zur Freude der Beteiligten, die nun, kraft ihrer persönlichen Beziehungen, das Nationale transzendieren.
Vorlieben, Sehenswürdigkeiten und vielleicht auch Kunstwerke können mithelfen, eine sinnliche Kommunikation zwischen den Europäern zu etablieren.
Die europäische Assoziation ist nicht das Resultat gemeinsamer Beschlüsse, sondern eher umgekehrt: Regierungen haben etwas beschlossen, das ohnehin geschieht.
So hat sich eine europäische Literatur herausgebildet, noch ehe jemand die Idee einer friedlichen und freiwilligen politischen Assoziation entwickeln konnte.
Was ist es, das Europa zusammenhält? In erster Linie die Kultur und ihre Künstler. Kapital und Wissenschaft lächeln der Zukunft zu, strömen ihr entgegen, wie immer es ihnen möglich ist. Die Bindung der Menschen an die Vergangenheit, an ihren Wohnort aber geschieht durch die Kunst.
Es mag sein, dass die Künstler in ihrer Vermessenheit am weitesten gingen und schrieben, malten, komponierten und spielten, was ihnen der Augenblick und beharrliche Konzentration eingaben. Die Kunst hat sich nicht wie die Politik in nationale Sektionen und Gruppen aufgespalten.
Für sie sind grenzüberschreitende Einflüsse, Tendenzen, Schulen und Freundschaften typisch. Die Literaturen haben sich nie gegenseitig bekriegt.
Sofern dies einzelne Autoren taten, war es Verrat an der schreibenden Zunft, eine der Literatur nicht gemäße Unterwerfung unter irgendwelche Ideologien.
Der Romancier ahnt, wie dem auf dem sternenhellen Schlachtfeld zwischen Toten und Sterbenden zurückgelassenen Verwundeten zumute ist. Wie beispielsweise Fürst Andrej Bolkonski in„Krieg und Frieden”. Obschon die dritte Sicht selten über Befehlsgewalt verfügt, ist sie dennoch nicht machtlos.
Eine dritte Sicht ist sie deshalb, weil sie allen Akteuren Mitgefühl entgegenbringt. In der Politik entspricht das vielleicht der Haltung der neuen Mitte, die von beiden Seiten lernt, der Beruhigung des Pendels, dem Konsensherstellen. Doch niemand besitzt ein ewiges Anrecht auf das Zentrum, denn die Schaukel schwingt ja, so dass mal dieser, mal jener die Mitte einnimmt.
Der dritten Sicht erschließt sich Raum selbst in den unterschiedlichsten Konflikten. Damit ergibt sich ein neues Feld für Aktivitäten, für internationale Sozialarbeit im großen wie im kleinen, die Verknüpfung von Klarblick und Hilfeleistung.
Das ist im 21. Jahrhundert die europäische Herausforderung par excellence.
Europas Integration ist in großem Maße eine Sprachenfrage. Wäre ich verantwortlich, würde ich dafür sorgen, daß man die Sprache seiner Nachbarn lernt und neben dem als Lingua franca benutzten Englisch auch andere Sprachen fördert und deshalb junge Gastlehrer über den ganzen Kontinent aussendet.
Der Zusammenhalt der Ungarn in den verschiedenen Ländern wird durch die Sprache gewährleistet; doch es gibt nur eine ungarische Literatur, unabhängig davon, wo sie entsteht.
Deshalb fällt es den Ungarn nicht leicht, ihre südlichen Nachbarn zu begreifen, die zwar die Rede der anderen verstehen und dennoch aufeinander losgegangen sind.
Ich gehe von der Hypothese aus, dass alle europäischen Staaten früher oder später Mitglied der Europäischen Union werden.
Dieses Faktum wird ein Phänomen bewirken, das es noch nie gegeben hat: die mehrschichtige Nation. Wir sind beim Experimentieren.
Was ist zu tun, damit nicht nur der Euro, sondern auch die europäische Kultur mit ihrem großen Reichtum zum Selbstbewusstsein der Europäer aller Nationen beiträgt? Das ist die Frage der nahen Zukunft.
Erproben wir die europäische Dialektik von westlicher Schnelligkeit und östlicher Langsamkeit, bezeugen wir den unvergänglichen und unübertrefflichen Werten, dem Seltenen und dem Persönlichen unsere Achtung!
Ein neuer Typ des Sammlers taucht auf, der Sprachen und Länder sammelt und sie als Eigentum ansieht, weil er mit und in ihnen gelebt hat. Ein Ort, wo wir schon einmal waren, gehört uns.
Die europäische Gesellschaft ist im Entstehen und mit ihr das Konzept der mehrgeschossigen Nation, was bedeutet, dass wer Europäer ist, deshalb nicht weniger Portugiese, Deutscher oder Ungar ist.
Unser Feind ist nicht der andere, sondern die Begrenztheit des eigenen Verstandes.
Er ist es, der mich behindert, nicht der Andere.
Die Literatur hat sich erst relativ kürzlich, erst vor wenigen Jahrhunderten emanzipiert. Die Moral des Forschens hat die Moral des Dienens abgelöst. Eigenständige Anschauungen zu haben, das ist der größte Dienst, den der Schriftsteller seinem Mitmenschen erweisen kann. Die Epoche des Papiers mag zu Ende sein, die Welt des Wortes ist es jedoch mitnichten.
Gestatten Sie mir deshalb, meine Damen und Herren, dass ich dem Direktorium des Aachener Bürgerpreises auch in selbstherrlicher Vertretung der Schriftsteller meinen Dank für die großzügige Entscheidung sage, die anerkennt, dass Europa unter anderem auch aus Texten konstituiert wird, deren Autoren nur die Macht haben, dass ihre Leser das Gelesene nicht mehr aus dem Kopf bekommen.